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Töne, die die Welt bedeuten

Ray

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23.09.2001
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Töne, die die Welt bedeuten

Geigenstakkato. Das Sinnesorgan Ohr schreit nach immer neuen Abenteuern. In der U-Bahn schottete ich mich ab von der Nichtigkeit der übrigen Fahrgäste, um im Phonrausch ein letztes mal an diesem Tag die eigene Nichtigkeit zu genießen. Und mir einzubilden, unnichtig zu sein, indem ich meine Gedanken übertrage.
Mittels eines entgeisterten Blickes, der es nicht schafft, die Glasscheibe zu durchdringen, eröffnet sich mir das Spiegelbild eines Mädchens, ein paar Momente entfernt. Gefärbtes Haar, flüchtige Unzurechnungsfähigkeit. Der Versuch, einen Gedanken zu übertragen, und tatsächlich, sie erwidert kurz meinen Blick, um sofort wieder in die Konversation mit ihrer Begleiterin zurückzukehren. Als sie aussteigt, fühle ich mich, als müsse ich zum Abschied die Hand zum Gruß heben. Wie ein alter Schamane, der Jim Morrison gerade erschien, mit Feder im Haar, dessen Traumbild ihm noch Jahre nachjagte. Als sich unsere Blicke noch einmal treffen, bringe ich nur ein müdes Lächeln zustande, das sie aber dennoch zu verwirren scheint. Sie schaut genau so dumm, als hätte sie gerade den alten Schamanen gesehen. Oder bilde ich mir das nur ein, weil mich die wogenden Rhythmen und düsteren Melodien beflügeln, zu glauben, ich strahle so etwas wie Magie aus?
Ein Blick auf mein Spiegelbild in der Scheibe. Ausnahmsweise gefällt es mir jetzt trotz der zu großen Nase und den Schlupflidern. Ein Blick auf den Standort ihres Spiegelbildes. Ein Mädchen ungefähr gleichen Alters hat ihren Platz eingenommen. Sie sieht Dir ganz und gar nicht ähnlich. Lange, rote Haare, fast so groß wie ich. Sie liest ein Buch, um diese Zeit! Ich schäme mich fast, eine Flasche Bier in der Hand zu halten. Und bei ihrem Anblick verliebe ich mich wieder in Dich.
Ich fühle mich unheimlich mystisch bei den dunklen, verzerrten Klängen des Violoncellos, so, als müßte ich jedem auffallen, weil niemand weiß, was man von mir halten soll. Doch das weiß ich am wenigsten. Die altbewährten Blicke treffen sich ein paar mal. Sie ist nervös, Verfolgungswahn, strahlt aber innerliche Schönheit aus. Auf einmal sitzt Du auf ihrem Platz und kennst mich nicht mehr. Du steigst aus und ich folge Dir kilometerweit bis zum S-Bahngleis. Aus irgendeinem Grund traue ich mich trotzdem nicht, Dich an mich zu erinnern. Ich nähere mich, Du bist immer weiter weg. Auf einmal werde ich jäh aus meiner Traumwelt gerissen, als der letzte Geigenton verklingt. Du verwandelst Dich wieder zurück in das Mädchen aus der U-Bahn, das den vollkommen falschen Zug besteigt, um so plötzlich wieder aus meinem Leben zu verschwinden, wie es gekommen war. Circa 23 Minuten.
Ich muß die Kassette umdrehen, um nicht in der gleichgültigen Langeweile der Menschen um mich zu versinken. Kaum durchbohren die ersten Klänge mein Trommelfell, sehe ich wieder Dinge, die mir sonst nie auffielen. Japaner, die Bikerschuhe tragen, sehen ziemlich albern aus. Ein Typ kramt meine alte Bierflasche aus dem Mülleimer, lehrt sie vollständig aus und ist geil auf den Flaschenpfand. Fünfzehn Pfennig! Einer versucht, wie ein Punk auszusehen, hat aber so übertrieben, daß es nicht mal für Fasching reicht. Seine Kumpels rauchen in der vollen S-Bahn einen Jomt. Amüsiert mich, echt! Als die S-Bahn wieder leerer wird, schaffen mich die Gedanken an Dich so, daß die Musik mich nicht mehr ablenken kann. Auf den Boden gesunken, ein Buch hilft der Musik. Der Traum ist ganz aus, als mich jemand von hinten antippt. Töne und Buchstaben tauchen in Lichtgeschwindigkeit in die Ferne ab, nur damit mich der Typ fragen kann, ob alles in Ordnung ist. Besoffen, denkt wohl das selbe von mir.
Es wird mir zu blöde, ich nutze die Dunkelheit, um endlich nach Hause zu kommen. Langsam kommen die Töne noch einmal, um mich zum allerletzten mal zu beglücken. Die ganze Nacht ohne Musik.
Brutal kreativ.

 

Wie bei "Raus damit!".
Die Story interessiert keinen Mensch !

"Gefärbtes Haar, flüchtige Unzurechnungsfähigkeit" - außergewöhnliche Fähigkeit zur Formulierung, wirklich !

Doch wer will Deine Geschichten lesen, was nimmt der Leser mit ? Mal wieder: Nichts !
Schreib für den Leser - das ist der Sinn der Übung !

 

Hör Dir eine Platte von den Inchtabokatables an (vorzugsweise "ultra" oder "inchtomanie") und lies das ganze dabei nochmal...
Wie bei Raus damit: Atmosphäre (hoffentlich schreibe ich das überhaupt richtig, ohne Rechtschreibprüfung bin ich voll aufgeschmissen...)

Ebenfalls ein Frühwerk, ohne jeglichen Drogeneinfluß entstanden. Außer Bier.

Schönen Gruß
Ray

 

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