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Thema des Monats Tapetenwechsel

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29.11.2005
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Tapetenwechsel

Überarbeitete Version

Ein Millionenheer, vielbeinig und hektisch krabbelnd, bereitete den letzten vernichtenden Angriff auf die sterbende Stadt vor. Häuser, Straßen und die jämmerlichen Reste menschlicher Existenz würden schon bald unter einer riesigen Welle nervösen Gewimmels erstickt werden. Nichts konnte die gewaltige Macht jetzt noch aufhalten.

Geena kauerte auf dem Bett. Es war ihr gelungen, sich auf eine der letzten noch verbliebenen Inseln der Zivilisation zu retten. Sie zog die Beine dicht an den Oberkörper und beobachtete mit starrem Entsetzen die Vorbereitungen einer gut organisierten Armee. Bisher zeigte sich allerdings nur ein einzelner Vorbote, um die Lage zu erkunden. Und diese eine Kakerlake hatte ausgereicht, sie in Panik zu versetzen und in ihren Gedanken düstere Visionen auszulösen.
Peter Davis betrat das Zimmer und runzelte die Stirn, als er seine Frau auf dem Bett sah, ihren Blick ängstlich auf das kleine Wesen geheftet.
„Was hast du denn jetzt schon wieder?“, fragte er gereizt. Sie gab keine Antwort, und es war eigentlich auch nicht nötig. Die Kakerlake krabbelte emsig zwischen den Umzugskartons hin und her. Schnell. Aber nicht schnell genug, um Peters Tritt zu entkommen. Er zermantschte sie und sah seine Frau spöttisch grinsend an. „War’s das?“
Geena sah ihn vorwurfsvoll an. „Weißt du, dass sie sich auf diese Weise vermehren? Jetzt verbreitest du ihre Eier überall im Haus.“
„Quatsch. Das Vieh ist tot. Die Eier sind platt. Gibt’s sonst noch ein Problem, oder können wir weitermachen?“
„Sie sind überall“, flüsterte Geena und schauderte.
„Blödsinn. Das bildest du dir ein.“
„Ich fühle es.“
„Natürlich. Du bist übermüdet und hungrig, Baby, da gehen einem schnell mal die Nerven durch. Tut mir Leid. Lass uns noch ein wenig weitermachen. Dann machen wir Pause und essen was. Im Moment möchte ich die Zeit nutzen. Verstehst du?“
Er verschwand wieder. Geena blieb auf dem Bett sitzen, starrte auf das Chaos aus Umzugskartons, Kisten und Tüten und fragte sich, welchen Sinn es haben sollte, sie auszupacken.

Als das Sterben begann, hatte es die üblichen Dementis und Beschwichtigungsformeln gegeben. Die Mehrheit der Bevölkerung, mittlerweile an Katastrophen mit unterschiedlichsten Auswirkungen gewöhnt, lebte zunächst unbekümmert weiter. Aber diesmal war die Bedrohung zu offensichtlich, um einfach wieder in die alte Gleichgültigkeit zu verfallen. Keiner konnte dem Schrecken auf Dauer ausweichen. Geena hatte schließlich eine junge Frau im Supermarkt auf dem Boden liegen sehen. Schaum vor dem Mund. Blut, das aus Augen, Mund, Nase und den Ohren quoll. Zuckende, schmerzhaft verkrampfte Gliedmaßen. Gelber Schleim, der sich mit dem Blut vermischte. Die Sondereinheiten in ihren glitzernden Schutzanzügen waren erstaunlich schnell zur Stelle gewesen und hatten die sterbende Frau mit einer sargähnlichen Bahre abtransportiert.

„Wir werden das in den Griff bekommen!“ hieß es täglich in den Meldungen, ohne dass irgendjemand genau zu wissen schien, was DAS eigentlich war. Zuversicht war fehl am Platze. Die Todesfälle in der Öffentlichkeit häuften sich. Menschen kamen auf hässliche Weise auf den Straßen um, beim Einkaufen, in Bussen und U-Bahnen, in Restaurants und Supermärkten – überall. Sämtliche Massenveranstaltungen wurden abgesagt. Latente Ansteckungsgefahr. Kein Football, keine Konzerte, keine Oper, kein Theater. Eine vorübergehende Vorsichtsmaßnahme, hieß es. Reichte das aus, die Bevölkerung zu beruhigen? Man zuckte mittlerweile schon zusammen, wenn irgendwo in der Nähe jemand auch nur hustete. So fing es meistens an. Und dann ging es ziemlich schnell. Die Infizierten schienen im Endstadium innerlich zu explodieren, als würde ihr Blut mit aller Macht aus den Körpern drängen wollen. Die Rettungskräfte und Sondereinheiten konnten die Bergung der Toten nicht mehr organisieren. Leichen mussten häufig auf offener Straße verbrannt werden. Manchmal wurden ganze Straßenzüge angezündet.

Peters hochrotes Gesicht tauchte erneut in der Tür auf. Er wirkte gereizt, aberd das war bei ihm schon Normalzustand. Vielleicht lag es daran, dass er die herrschende Situation erheblich unterschätzte, und sich selbst und seine Möglichkeiten maßlos überschätzte. Diese offensichtliche Diskrepanz musste ihn quälen, in den wenigen ehrlichen Momenten, die er sich vielleicht hin und wieder noch gönnte. Ansonsten hielt er seine Firma für eine der tragenden Säulen der Schadensbekämpfung, dozierte über Hoffnung, Zukunft, reelle Chancen und notwendige Zuversicht. Geena hatte es aufgegeben, seinen leeren Worten noch irgendeine tiefere Bedeutung beizumessen. Er tat so, als wäre allein durch das Hochkrempeln von Hemdsärmeln schon das Wichtigste erledigt.
„Es wäre schön, wenn du ein paar Kartons und Kisten auspacken könntest“, schlug er vor. „Wir brauchen in der Wohnung klare Strukturen und Ordnung. Dann bleiben auch unsere Gedanken klar und geordnet.“
Geena hätte am liebsten laut losgelacht und gefragt, aus welchem blöden Motivationsseminar er diesen Schwachsinn hatte. Stattdessen musterte sie verständnislos seine verschwitzte Vitalität und schüttelte müde den Kopf.
Er zuckte mit den Achseln, murmelte etwas Unverständliches und verschwand wieder, um wenig später mit wütenden Hammerschlägen seinen ungebrochenen Einsatzwillen zu betonen: ICH – Boing! – ARBEITE – Boing! – UNERMÜDLICH – Boing! – FÜR – Boing! – UNSERE – Boing! – ZUKUNFT – Boing!

Das Unternehmen, für das Peter tätig war, soviel stand fest, trug die Hauptschuld an der sich schnell ausbreitenden Katastrophe. Eine verheerende Explosion in einem Labor, das sich angeblich mit „zukunftsorientierten Projekten“ beschäftigte, hatte den Beginn eingeleitet. In den ersten 36 Stunden nach diesem Unfall hatte es bereits mehrere tausend Todesopfer gegeben, ohne dass bekannt wurde, was konkret die Explosion freigesetzt hatte. Erst nach und nach verdichteten sich die Hinweise, dass eine Großstadt dem Untergang geweiht war.

„Wir bekennen uns zu dieser Verantwortung“, hatte Peter zu Geena gesagt, als es keine Möglichkeit mehr gab, sich weiterhin von der Verantwortung zu distanzieren. „Es ist ein furchtbares Unglück. Aber nun müssen wir kämpfen, damit die Dinge wieder ins Lot kommen!“
Nach einer Woche ging man in vorsichtigen Schätzungen von mindestens 100.000 Toten und bestimmt der dreifachen Anzahl an infizierten Menschen aus. Das konnte beim besten Willen nicht wieder „ins Lot“ gebracht werden.
„Wir werden das Sterben stoppen“, verkündete Peter dennoch zuversichtlich.
„Na großartig“, bemerkte Geena spöttisch. „Wer soll euch das denn jetzt noch glauben?“
Dann war ein Pressesprecher von Peters Firma während eines Interviews vor laufender Kamera zusammengebrochen. Erst wollte er aus einem Elefanten eine Mücke machen, dann erbrach er plötzlich einen dicken Schwall blutigen Schleim auf das Kostüm der Reporterin, und von einer Sekunde auf die andere schienen seine Augäpfel zu zerplatzen. Die Journalistin, die ihn eben noch befragte hatte, bekam einem Weinkrampf und versuchte, sich wild herumfuchtelnd von dem Schleim zu befreien.
„Spätestens das hat den letzten Funken eurer Glaubwürdigkeit zerstört“, sagte Geena.
„Ich habe nie behauptet, dass wir aus der Firma gegen den verdammten Virus immun sind“, murmelte Peter. „Es kann jeden erwischen!“
„Es ist schrecklich.“
„Es ist eine schreckliche Krankheit.“
„Die ihr erfunden habt.“
„Es war ein Regierungsauftrag.“
„Spricht euch das von irgendeiner Schuld frei?“
„Geena, was willst du? Soll ich mich erschießen?“
„Du sollst nur damit aufhören so zu tun, als hätten wir noch eine Chance. Das ist absurd!“
„Meinst du, dein Verhalten ist besser? Einfach aufgeben?“
Geena zuckte mit den Achseln.

Boing! Boing! Boing!
Peter gab niemals auf. Früher hatte sie ihn gerade wegen dieser Eigenschaft besonders geliebt. Schließlich hatte er auch nicht aufgegeben, als er ihr monatelang erfolglos den Hof machte, sie ihn aber immer wieder abblitzen ließ, weil sie eigentlich mit Frank Parker ging, dem Schöngeist, dem Denker, dem musischen Poeten, der so ganz anders war, als die Sportskanone Peter Davis. Peter war nun mal ein Meister in Sachen Selbstmotivation und wollte immer gewinnen, um jeden Preis. Und er gewann schließlich. Auch bei Geena.

Seufzend erhob sie sich von dem Bett und schlüpfte, sich an die widerliche Kakerlake erinnernd, hastig in ihre Schuhe. Die vom Einzugschaos geprägte Wohnung, fremd und ungemütlich, verstärkte ihre schlechte Stimmung. Woher nahm Peter nur seine perverse Zuversicht? Was trieb ihn an, Schränke aufzubauen und Regale anzubringen, während alles um sie herum zusammenbrach? Die Strukturen, die Ordnung, das Gesetz, die Hoffnung, der Glaube ...
„Uns geht es doch den Umständen entsprechend noch recht gut“, rief Peter seiner grübelnden Frau zwischen den Hammerschlägen zu. „Zweifellos haben wir uns bisher nicht infiziert. Und jetzt sind wir wenigstens schon mal aus dem Schlimmsten raus. Hier sind wir viel sicherer. Andere warten immer noch auf diese Chance.“
„Menschen sterben“, erwiderte Geena. „Täglich mehr. Auch wir haben keine Chance. Wir wissen ja nicht einmal genau, auf welchen Wegen man sich ansteckt. Durch Luft? Wasser? Berührung? Und welche Inkubationszeit hat dieser verdammte Virus. Vielleicht tragen wir ihn schon längst in uns!“
Peter antwortete nur noch mit wütenden Hammerschlägen.

Immerhin waren die Räume der Wohnung in einem sehr guten Zustand. Aber spielte das noch eine Rolle, wo man am Ende krepierte? In einer frisch renovierten Wohnung in einem Randbezirk der Stadt oder in einem Luxusappartement in der City? Im Supermarkt? Auf der Straße? Irgendwo, inmitten dieser Aussichtslosigkeit?
Geena lief genauso planlos zwischen den Kartons und Kisten hin und her, wie vorhin die Kakerlake, ohne eine Idee zu haben, wo und wie sie beginnen sollte. Sie nahm hier etwas auf und legte es dort wieder ab. Es ergab keinen Sinn. Nichts ergab einen Sinn. Dann ging sie zu Peter, der mittlerweile das Hämmern eingestellt hatte. Bier trinkend und in den Schweißdunst seines Übereifers gehüllt stand er vor einem aufgebauten Regal. Sichtlich stolz und mit sich selbst zufrieden. Immerhin war es auch an der Wand gelandet, an der Geena es hätte haben wollen, wenn es für sie noch irgendwie von Interesse gewesen wäre. Jetzt aber war es ihr egal. Sie hätten es genauso gut aus dem Fenster werfen können.

“Ist es so okay?“, Es klang, als wäre er auf ihren Widerspruch mehr als nur vorbereitet. Als sehnte er sich geradezu nach ihren Einwänden, um sich in einem hitzigen Wortgefecht weiter abreagieren zu können. Er rülpste angriffslustig und wiederholte seine Frage ein wenig schärfer.
Geena zuckte zusammen. „Was?“
„Das Regal, Baby? Ist es okay? Schau es dir an. Steht es richtig?“
„Ja. Okay. Es ist ... okay.“ Geena lächelte freudlos und ihr Blick wirkte müde.
Peter zuckte mit den Achseln und entspannte sich ein wenig. „In einigen Tagen, wenn erst mal alles an Ort und Stelle ist, wenn wir den gesamten Krempel sortiert und eingeräumt haben, dann werden wir uns gleich viel besser fühlen. Wetten?“
Niemals würde sie sich wieder gut fühlen, geschweige denn besser. Doch sie war es leid, die alten Vorwürfe immer wieder aufs Neue wie ein altes Klageweib herunterzuleiern.
„Wie soll es weitergehen?“, fragte sie nur.
Das reicht bereits für ihn aus, sich provoziert zu fühlen.
„Bin ich vielleicht Gott?“, schnauzte er sie an. „Woher soll ich das wissen? Was ich tun kann, das tue ich. Mit aller Kraft und Konzentration. Und wenn jeder so handeln würde wie ich, das kannst du mir glauben, dann wären unsere Aussichten, aus dieser beschissenen Sache einigermaßen gut heraus zu kommen, wesentlich besser.“
„Du glaubst das tatsächlich?“ Geena war fassungslos. „Hast du eigentlich nie Zweifel? Nicht einmal nachts?“
Er lachte böse. „Ich arbeite vom frühen Morgen bis zum späten Abend fast ohne Pause. Wenn ich mich ins Bett lege, dann weiß ich, was ich getan habe. Also mache ich nachts meine Augen zu und schlafe, damit ich am nächsten Tag wieder mit voller Kraft weitermachen kann.“
„Weitermachen“, flüsterte Geena. „Oh ja, ihr habt immer weiter gemacht, ohne Rücksicht auf Verluste. Du musst doch gewusst haben, was dein verdammter Konzern da trieb. Mit welchen Dingen sie hinter verschlossenen Türen herumexperimentiert haben.“
„Ich leite die Presseabteilung.“
„Gerade dann! Wochenlang hast du alles schöngeredet.“
„Ich wusste nicht alle Fakten.“
„Du kannst trotzdem kein gutes Gewissen haben.“
„Verdammt, was willst du denn von mir? Ich wusste auch, dass es die Atombombe gibt. Das Restrisiko bei jeder Form von Forschung ist allgemein bekannt. Alles hat seinen Preis. Das weiß der Raucher, der jeden Tag seine sechzig Zigaretten inhaliert, und das weiß die Frau, die sich mit Silikon ihre Titten vergrößern lässt.“
Geena betrachtete ihren Mann ungläubig. „Machst du es dir mit dieser Einstellung nicht etwas zu einfach? Habt ihr denn die Menschen dieser Stadt gefragt, ob sie bereit sind, diesen verfluchten Preis zu bezahlen? Hatten sie jemals eine Chance, selbst darüber zu entscheiden?“
„Oh je.“ Er winkte resignierend ab, durchquerte den Raum und holte sich die nächste Dose Bier. „Hätte man die Menschheit bei jedem Schritt von Wissenschaft und Forschung erst einmal um Erlaubnis fragen müssen, dann würden wir uns vermutlich heute noch in Fellen kleiden, in Höhlen leben und irgendwelches Ungeziefer fressen.“
Geena lächelte bitter. „So, wie’s momentan aussieht, wird das ja wohl bald wieder so sein.“
„Unbelehrbar“, murmelte Peter und ließ den Verschluss der Bierdose zischen. „Geh doch durch die Straßen und werde Wanderpredigerin. Erzähle den Leuten von deinen Untergangsvisionen.“
„Was soll ich da groß erzählen? Die Menschen brauchen sich ja nur umzuschauen.“
Er trank einen mächtigen Schluck Bier und unterdrückte nur mühsam einen Rülpser. Dann setzte er sich auf eine Kiste und rieb sich nervös die Nasenwurzel.
„Es gibt ein paar kritische Zonen, die unter Quarantäne gestellt werden mussten“, sagte er. „Das will ich gar nicht abstreiten. Und es gab viele Tote. Da gibt es nichts zu beschönigen. Aber die Messungen in den Randgebieten der Stadt haben doch sehr positive Werte ergeben. Umsiedlungen werden organisiert. Wir gehören zu den Ersten, weil ich meinen Einfluss nutzen konnte, um dich aus dem Schlimmsten herauszuholen. Wir können natürlich nicht ausschließen, dass noch mehr Menschen sterben müssen. Wir können auch nicht beurteilen, wie sich der Virus zukünftig verhält. Aber es macht keinen Sinn, sich aufzugeben. Wir müssen nüchtern und sachlich bleiben. Nur so haben wir eine reelle Chance, verstehst du? Wir werden die Probleme überwinden. Gemeinsam. Hand in Hand. Seite an Seite. Mit Mut und Energie!“
Geena war es leid, auf diesem Niveau weiter mit ihrem Mann zu reden. Sie waren nicht mehr konsensfähig. Doch das war im Grunde genommen schon vor der Katastrophe so gewesen.
„Könntest du mir wenigstens noch den CD-Player anschließen?“, bat sie. „Musik würde mich jetzt beruhigen.“
Peter grinste. „Aber klar, Schatz. Kein Problem.“
Während er sich eifrig dran machte, den Wunsch seiner Frau in die Tat umzusetzen, nahm sie selbst den ersten ernsthaften Anlauf, ein wenig aufzuräumen. Vielleicht war Beschäftigung tatsächlich der sinnvollste Weg, sich abzulenken. An diesem roten Faden orientierte sie sich tapfer den Rest des Tages bis zum späten Abend.

Als sie einen großen Teil erledigt hatten, fühlte Geena sich tatsächlich ein wenig besser. Aber Angst, Zweifel und Nervosität blieben trotz allem.
Im Fernsehen verfolgte sie mit großen Augen die Berichte über das langsame Sterben einer Millionenstadt. Es gab nur noch wenige Sender, die direkt aus dem Zentrum berichteten. Die meisten Reportagen kamen von „draußen“.
Mittlerweile waren sie durch eine hohe Mauer, von der die Stadt lückenlos umschlossen wurde, vom Rest der Welt isoliert worden. Die Armee hatte rundherum Stellung bezogen. Ein breiter Grenzstreifen vor der Mauer galt als Todeszone. Wer dieses Niemandsland zu betreten versuchte, wurde nach einmaliger Warnung getötet. Dass es sich dabei um keine leeren Drohungen handelte, bewiesen die vielen hundert Erschießungen, die es bereits gegeben hatte. Immer wieder gab es Live-Aufnahmen von unglücklichen Flüchtenden zu sehen, die im Kugelhagel der Soldaten ihr Leben lassen mussten, weil sie einfach nicht glauben wollten, dass der Staat zu solch drastischen Mitteln greifen würde. Doch nur so ließ sich eine Ausbreitung der gefährlichen Seuche verhindern. Die Menschen innerhalb der Stadt waren auf sich allein gestellt.

In den Straßen regierte der Tod. Mit ihm waren brutale Gewalt und Anarchie eingekehrt. Die bisher praktizierten Regeln menschlichen Zusammenlebens, die schon unter normalen Umständen nicht besonders gut funktioniert hatten, brachen nun endgültigen zusammen. Plünderungen, Raubüberfälle, Schlägereien, Vergewaltigungen ...
Die letzten unverseuchten Stadtteile hatten sich die Mächtigen und Reichen als Rückzugsgebiete gesichert. Die Privilegierten ließen sich von privaten Armeen und von Resten der Polizei abschirmen. Wie lange würde das noch funktionieren? Wie lange würden die neu entstandenen Grenzen innerhalb der Isolation halten? Von Westen kam man seit einigen Wochen nicht mehr nach Osten, vom Norden nicht mehr nach Süden. U-Bahnstecken und Straßen waren blockiert worden und bildeten auf diese Weise eine neue Struktur. Keiner wusste, was der nächste Tag bringen würde. Ob nicht schon längst der Tod vor der eigenen Tür lauerte.

„Wir bekommen die Sache früher oder später in den Griff“, behauptete Peter, während die Berichte im Fernsehen das Gegenteil bewiesen. „Unsere Forscher arbeiten auf Hochtouren. Wissenschaftler der ganzen Welt versuchen von außen eine Lösung zu finden.“
Die letzten beiden Tage hatte er wie unter einem geheimnisvollen Zwang geackert und geschuftet. Jetzt, da die Wohnung weitgehend eingerichtet war, verlor er schlagartig das Interesse. Es gab für ihn nichts mehr zu tun. Nun musste er seine Arbeitswut wieder in andere Bahnen lenken.
„Heute ist Sonntag“, sagte er und ließ seine Fingergelenke einzeln knacken. Geena hasste es, wenn er das tat. Aber sie schwieg, starrte weiter auf den Fernsehbericht. „Bald kommen die nächsten Familien.“
„Und warum dauert das so lange? Es müssten doch eigentlich schon längst weitere Umsiedlungen stattgefunden haben“, sagte Geena.
„Untersuchungen. Wir haben das alles doch schon hinter uns gebracht. Wir waren die Ersten, erinnerst du dich? Man hat mir das Angebot gemacht, und ich hab’s für uns beide angenommen. Wir waren recht lange in Quarantäne, wie du ja wohl noch weißt. Und dann haben sie uns von Kopf bis Fuß durchgecheckt. Wir sind gesund. Wir haben den verdammten Virus nicht, das steht fest. Die, die uns folgen sollen, müssen die ganze Prozedur ebenfalls durchlaufen. Sonst schleppt noch einer die Seuche hier ein. Nur so funktioniert es.“
„Aber es sollten doch noch viele andere gleichzeitig mit uns hier einziehen!“
Er wirkte ein wenig verunsichert. „Weiß der Teufel, wo die geblieben sind.“
„Meinst du, Stadtteile lassen sich überhaupt dauerhaft schützen und kontrollieren?“
„Wollen wir wieder jammern?“
Sie schwieg.
„Ich habe gestern mit dem provisorischen Hauptsitz meiner Firma telefoniert“, erzählte Peter und federte aus dem Sessel hoch. Tatendrang sprach aus jeder seiner Bewegungen. „Auf mich warten neue Aufgaben. Morgen früh tagt der Krisenstab. Ich werde gebraucht. Es gibt einen Korridor, der geschützt ist. Ich komme auf diese Weise ohne Risiko zum Hauptsitz. Mir kann nichts passieren. Und wenn ich zurückkomme, bringe ich die nächsten gesunden Bewohner mit. Wir werden Nachbarn kriegen. Jeden Tag werden es mehr werden. Du wirst schon sehen!“

Am nächsten Morgen kleidete er sich in einen seiner italienischen Maßanzüge, gewährte Geena einen flüchtigen Abschiedskuss, griff nach seinem Aktenkoffer und verließ das Haus. Fast schien er froh zu sein, aus der Wohnung zu kommen, weg von Geena, weg, weg von ihrer Hoffnungslosigkeit, weg von dem Hier-Gibt-Es-Nichts-Mehr-Zu-Tun.
Sie beobachtete ihn von oben durch das Fenster. Er winkte ihr noch einmal kurz zu. Dann stieg er ins Auto und fuhr davon. Das Brummen des Motors entfernte sich und war irgendwann nicht mehr zu hören.
Mit einem Glas Ginger Ale hockte sich Geena vor ihre Stereoanlage und durchwühlte die umfangreiche CD-Sammlung, die größtenteils Peters oberflächlichen Musikgeschmack widerspiegelte. Eine wahllose Anhäufung lebloser Popmusik. Endlich fand sie das, wonach sie suchte. Jazz. Art Blakey. Live. Eine Aufnahme mit Clifford Brown. Etwas zum Aufputschen. Etwas, das einem den Kopf durchpustete. Eine Kampfansage gegen die niederträchtige Stille.
Sie wählte eine Lautstärke, die das ganze Haus erfüllte. Welcher Nachbar hätte sich beschweren können? Für eine wohltuende Stunde konnte sie vor der Wirklichkeit fliehen. Jazz war nicht einfach nur zum Zuhören. Diese Musik erfüllte, trug und forderte.
Dann aber waren Art Blakey und seine Jungs fertig und der Schlussapplaus ebbte ab und verstummte. Sofort war die unheimliche Stille wieder da. Und so verging die Zeit. Sie hörte Musik. Aß. Saß herum. Starrte schweigend aus dem Fenster. Grübelte. Verfolgte die neuesten Schreckensmeldungen im Fernsehen oder Radio und verlor den Glauben, dass es jemals wieder besser werden würde. Und irgendwie auch die Hoffnung, dass Peter jemals wieder zu ihr zurückkehrte.

Es vergingen ungenutzte Tage. Dann war plötzlich das Telefon tot, das Handy fand kein Netz mehr, Fernsehgerät und Radio schwiegen, Strom und Wasser waren ausgefallen und über den leeren, einsamen Stadtteil beschien die Sonne eine graue Stille. Geena wusste, dass sie etwas tun musste. Aber was? Einfach in der Wohnung zu bleiben, sich mit falschen Hoffnungen zu beruhigen und auf den Tod zu warten, war die schlechteste aller Lösungen. Möglicherweise hatte sich die von Peter so großspurig angekündigte Umsiedlungsaktion anderer gesunder Menschen noch etwas verzögert. Vielleicht hatte diese Tatsache auch Peters schnelle Rückkehr verhindert. Viele „Vielleichts“ und „Wenns“, denen sie auf den Grund gehen sollte. Bevor ...

Geena streifte sich entschlossen ihren Mantel über. Sie hatte sich sparsam mit Mineralwasser gewaschen, die Haare frisiert und sich geschminkt. Vor dem Spiegel kontrollierte sie sich noch einmal ihr perfektes Äußeres. Sie sah phantastisch aus, stilvoll gekleidet, und es gab niemand mehr, dem das etwas bedeutete. Doch endlich war sie bereit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Auf der Straße empfing sie ein kalter Tag, den auch die seltsam kraftlose Sonne nicht wirklich erwärmen konnte. Die Straße war menschenleer. Natürlich. Hatte sie etwas anderes erwartet? Einigen ausgeschlachtete Autowracks standen kreuz und quer herum. Die Häuserfronten wirkten abweisend, fast feindselig. Aufmerksam blickte Geena sich nach allen Seiten um, versuchte sich in dieser für sie völlig fremden Gegend zu orientieren, eine kluge Entscheidung zu treffen, welche Richtung für ihren ersten Erkundungsgang am besten geeignet wäre. Es war mehr Zorn als Mut, der sie antrieb, und statt Interesse an der Erforschung der Situation verspürte sie eher eine perfide, selbstzerrstörerische Lust darauf, all ihre Ängste und Befürchtungen schon möglichst bald auf schlimmste Art und Weise bestätigt zu bekommen. Berge von Leichen. Amok laufende Zombies. Blutrünstiger Wahnsinn. Tod. Die Apokalypse. In der Luft kreisende Hubschrauber, von denen aus die letzten verseuchten Bewohner dieser Stadt durch Scharfschützen ganz gezielt von ihrem Leiden erlöst wurden. Dann das Ende. Reinigendes Feuer.

Jeder Schritt von Geenas Pumps hallte durch die verlassene Straße. Kein Anzeichen von Leben. Kein Mensch. Kein Tier. Kein Auto- oder Fluglärm. Nur das Geräusch des eisigen Windes, der Papier und Unrat über den Asphalt wirbelte.
Aufmerksam ließ Geena ihre Blicke die Häuserfassaden entlang gleiten. Die „weiße Zone“, in die sie Peter gebracht hatte, schien ein reines Wohngebiet gewesen zu sein, und bestimmt nicht das beste der Stadt. In den guten Zeiten war sie niemals hier gewesen. Läden, Geschäfte, Kneipen oder Restaurants schien es kaum gegeben zu haben, und die wenigen, die sie entdeckte, waren restlos geplündert worden. Sie hatte gehofft, wenigstens einen Supermarkt zu finden, um ihr Vorräte aufzufüllen. Das war einer der Hauptgründe für ihre Erkundung gewesen. Wenn es schon kein Leben in dieser Gegend gab, dann wollte sie wenigstens etwas finden, das ihr eigenes Überleben sicherte. Sie wollte das Gefühl haben, Sinnvolles und Wichtiges zu tun. Wollte den Überlebenswillen stärken, sich zum Weitermachen motivieren, irgendwie.

Geena hatte ein kleines Notizbuch bei sich, in dem sie wichtige Anmerkungen zur fremden Umgebung festhielt, verbunden mit kleinen Skizzen, Beschreibungen und Straßennamen. Unterwegs begegnete sie natürlich keiner Menschenseele und sie fragte sich, ob überhaupt noch andere Anwohner das Privileg bekommen würden, hier, in dieser als unverseucht ausgewiesenen Zone der Stadt einen neuen, ungewissen Anfang starten zu dürfen. Peter war davon bis zuletzt überzeugt gewesen, aber die Nachrichten aus Rundfunk und Fernsehen, die sie noch gehört hatte, bevor der Kontakt endgültig abbrach, hatten alles andere als zuversichtlich geklungen. Die Verseuchung, so hieß es, hätte längst unkontrollierbare Ausmaße angenommen. Es gab keine organisierte Behörde mehr, die irgendetwas leiten oder lenken konnte. Und angeblich hatte das Sterben nun auch schon auf der anderen Seite der Mauer begonnen. Anscheinend gab es kein Entkommen.

Trotz der Sonne wirkten die Straßen so grau, wie die Häuser, die Häuser so grau wie der Himmel, der Himmel so grau wie Geenas Gedanken. Alles war ruhig wie in einer großen Grabkammer. Niemals zuvor hatte sich Geena in ihrem Leben derart einsam gefühlt, wie in diesem Augenblick. Wäre jetzt ein Hubschrauber am Himmel erschienen, mit geöffneter Seitentür, aus der sie ein Scharfschütze anvisierte, dann hätte sie sich demütig niedergekniet und dankbar den Schuss als beste Lösung für ihre aussichtlose Situation angenommen. Unvorstellbar, dass hier, in diesen Straßen, noch vor wenigen Wochen dicht an dicht Autos gefahren waren, laut, hupend, brummend und knatternd, mit Menschen an ihren Steuern, fluchenden Männern, schimpfenden Frauen, mit Passanten, die auf beiden Straßenseiten hin- und hereilten, geschäftig, hastig, rücksichtslos, egoistisch und betriebsam. Verliebte, Verlassene, Verträumte, Verzweifelte, Verrückte, Vereinsamte...

Nichts vom einstigen Leben schien bleibende Spuren in den Straßen hinterlassen zu haben. Und mit jeder Ecke, die Geena erreichte, um dann vor der nächsten, leeren Straße zu stehen, starb ein Fünkchen Hoffnung. Längst sehnte sie sich nach all dem, was sie früher gestört hatte. Verkehrslärm, Hektik, drängelnde, stoßende Menschleiber, Rushhour, verstopfte Kaufhäuser, überfüllte Restaurants, volle Supermärkte, rücksichtslose Taxifahrer, kreischende Bremsen, Sirenen von Kranken- und Polizeiwagen, die nervenaufreibende Normalität einer typischen Großstadt. Jetzt, da sie nur vom Klang der eigenen Schritte begleitete wurde, wäre ihr selbst das Bellen eines Hundes wie eine Erlösung vorgekommen – obwohl sie Hunde eigentlich noch nie gemocht hatte.
Nur noch bis zur nächsten Ecke, sagte sie sich. Als die dann erreicht war, wandte sie sich nach rechts … ein freudiger Schreck durchfuhr sie, als sie plötzlich auf der anderen Straßenseite einen Spielplatz entdeckte. Sandkisten. Schaukeln. Klettergerüste. Wippen. Und spielende Kinder! Kleine Menschen. Lebewesen. Hoffnung!
Von unbändiger Freude angetrieben überquerte Geena hastig die Straße, rannte schnell und immer schneller, lachte vor Freude, während ihr Tränen über die Wangen liefen, erreichte glücklich den Spielplatz, breitete die Arme aus und fiel euphorisch auf die Knie. Die Kinder starrten sie an. Reglos. Kalt. Ohne Gefühl. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, auf welch irrsinnige Szenerie sie hier herein gefallen war, und als es ihr langsam klar wurde, verwandelte sich die Freude in Resignation. In diesem Augenblick wurde sie von hinten an der Schulter gepackt. Sie zuckte erschrocken zusammen, sprang auf, wirbelte herum und taumelte mit unsicheren Schritten rückwärts. Direkt vor ihr stand ein alter Mann und starrte sie aus rötlich geränderten, flackernden Augen argwöhnisch an. Er wirkte schmutzig und ungepflegt und seine Haut gelb und faltig. Schritt für Schritt wich sie vor ihm zurück. Er machte keine Anstalten, ihr zu folgen oder sie zu bedrohen.
„Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?“, fragte er. „So ’ne piekfeine Lady wie Sie?“
Sie blieb stehen und atmete einige Male tief durch. Mühsam zwang sie ihr wild klopfendes Herz zur Ruhe.
„Ich bin spazieren gegangen. Ich habe jemanden gesucht. Irgendjemanden. Und dann sah ich die Kinder. Nun, ich dachte jedenfalls im ersten Moment ... ich meine, es sah von Weitem alles so echt aus. Verstehen Sie?“
Der alte Mann rieb sich den grauen Bart. „Sind doch nur blöde Schaufensterpuppen.“ Er betrachte die starren überall auf dem Spielplatz verteilten Puppen. „Nichts weiter. Stehen hier so rum. Irgendwer hat das gemacht. Ist schon länger her.“
„Aber warum? Wozu soll das gut sein?
„Wozu das gut sein soll?“ Der Alte lachte. „Fragen Sie mich das doch nicht! Wozu soll überhaupt noch was gut sein? Bis vor kurzem waren hier wenigstens noch ein paar Menschen. Nach und nach sind die aber alle verschwunden. Seit einiger Zeit bin ich allein. Und nun treffe ich plötzlich Sie. Was wollen Sie hier?“
„Ich wohne ganz in der Nähe.“
„Hier haben niemals Leute wie Sie gewohnt.“
„Es gibt hier keine anderen Menschen außer Ihnen mehr?“, fragte Geena erschüttert.
Er zuckte mir den Achseln. „Ich habe jedenfalls schon lange keine mehr gesehen.“
„Aber die Gegend hier gilt als sicher und unverseucht.“
Der Alte lachte spöttisch. „Ach ja? Und warum sind alle weg? Wo sind die denn hin? Dave, Carl, Annie, Ted, Dana und Tom? Erst waren wir hier alle noch zusammen. Und nun?“
„Könnten sie vielleicht woanders hingegangen sein?“
„Wir hatten uns geschworen, zusammen zu bleiben. Nur für die Suche nach Essen haben wir uns immer aufgeteilt. Und nach und nach kam keiner mehr zurück. Annie und ich waren die letzten. Annie verschwand dann aber auch. Ich habe sie gesucht. Ich habe alle gesucht. Aber niemanden mehr gefunden. Und nun weiß ich nicht mehr weiter. Ich setze mich jeden Tag eine Weile auf den Spielplatz und schaue den ... Kindern ... zu. Diesen blöden Puppen. Rede mir ein, alles wäre noch in Ordnung. Was soll ich sonst machen?“
„Gibt es noch Supermärkte oder andere Geschäfte in der Nähe?“
Er zuckte mit den Achseln und starrte vor sich hin.
„Wovon ernähren Sie sich denn?“
Wieder zuckte er nur mit den Schultern.
„Es hat alles keinen Sinn mehr“, murmelte er.
Er ging langsam davon und bog um die nächste Ecke.
„Warten Sie doch“, rief Geena im hinterher. „Bitte!“
Es dauerte eine Weile, bis sie nach all der Verwirrung den Entschluss fasste, ihm zu folgen, doch als sie um die Ecke bog, war er verschwunden. Sie rannte die einsame Straße entlang, rief nach ihm, weinte und bettelte darum, dass er zurückkäme. Der erneuten Einsamkeit, in der er sie zurückließ, war nicht mehr zu ertragen. Aber der alte Kauz blieb verschwunden.

Sie fand die Wohnung anhand ihrer Aufzeichnungen ohne große Mühe wieder. Es wurde schon langsam dunkel, als sie sich auf das Bett warf und - von schweren Weinkrämpfen geschüttelt - ans Aufgeben dachte. Aber die Tränen reinigten ihre Gedanken, und eine trotzige Zuversicht machte sich in ihr breit. Noch hatte sie einige Nahrungsmittel und genügend Wasserflaschen, um einige Zeit durchzuhalten. Der Strom funktionierte immer noch nicht. Sie konnte nach wie vor nicht mehr telefonieren, nicht fernsehen, Radio- oder Musik hören und auch nicht heizen. Sie hätte sich gern gewaschen, aber das Wasser war einfach zu kostbar, um es noch einmal auf diese Weise zu vergeuden. Sie aß ein wenig, zog dann mehrere Kleidungsstücke übereinander und verkroch sich ins Bett – um erneut zu weinen und irgendwann einzuschlafen.

Waren Stunden vergangen? Tage? Oder gar schon Wochen? Der lethargische Dämmerzustand, in den sich Geena geflüchtet hatte, schien ihr Zeitempfinden zerstört zu haben. Ein fauliger, beißender Gestank erfüllte die Räume ihrer Wohnung. Durch den anhaltenden Stromausfall waren viele Vorräte im Eisschrank verdorben. Voller Ekel hatte Geena das Meiste davon einfach aus dem Fenster auf die Straße geworfen, und damit doch neues Leben angelockt. Ratten und Ungeziefer hatten sich über die verdorbenen Nahrungsmittel hergemacht. Einmal war sogar ein dreibeiniger Hund erschienen, doch die Ratten hatten ihn angegriffen und vertrieben.
Um nicht zu erfrieren, hatte Geena den Kamin in der Wohnung in Betrieb genommen. Sie verheizte seit einigen Tagen Möbel, Bücher, Zeitschriften und Aktenordner von Peter. Mit gleichgültigem Blick beobachtete sie, wie die Gegenstände, die einst so wichtig erschienen, nach und nach in der Kaminglut verschwanden.
Sie hatte noch einige Male die Wohnung verlassen und in verschiedene Richtungen kleine Erkundungen unternommen. Dabei war sie aber auf nichts Nennenswertes gestoßen. Auch der alte Mann war ihr nie wieder begegnet. Einmal hatte sie sogar längere Zeit auf dem Spielplatz mit den Schaufensterpuppen gewartet, in der Hoffnung, er käme wieder an den Ort zurück, so, wie er es erzählt hatte. Aber er ließ sich dort nicht mehr blicken. Versuche, andere Häuser zu erforschen, hatte sie schnell aufgegeben. In den meisten Gebäuden hatten Ratten und Kakerlaken die Herrschaft übernommen. Geena hatte in einem Treppenhaus bei fehlendem Licht knöcheltief in Ungeziefer gestanden und war schreiend aus dem Haus gelaufen, als ihr das klar wurde. In dem Gebäude, in dem sie ihre Wohnung hatte, gab es zunehmend die Anzeichen, dass die ekelhaften Tiere auch hier das Kommando übernommen hatten.

Geena wurde zunehmend kraftloser. Schleichend verlor sie ihr Urteilsvermögen und die Fähigkeit, klare Entscheidungen zu treffen. Sie ernährte sich aus den letzten Konserven, grübelte oft vor sich hin oder stand stundenlang am Fenster, um auf die Straße hinunter zu starren, ohne wirklich etwas zu erwarten oder mit Änderungen zu rechnen. Die Erinnerungen an das Leben in dieser Stadt wurden immer schwächer. An die Zivilisation, die Menschen. An ihr eigenes Leben. An das Leben mit Peter und ihren Freunden. An Lachen und Spaß. An den Beruf, den Alltag, Kino-, Theater-, Konzert- und Museumsbesuche. An gemütliche Abende in Restaurants und Bars. Nichts davon war mehr von Bedeutung. Ihre Gedanken kreisten um Konservendosen, Mineralwasser, das immer knapper wurde, ihren eigenen Körpergeruch, der ihr beißend in der Nase lag, um das Feuer im Kamin, um den nächtlichen Schlaf voller Alpträume und das tägliche Dahindämmern, das zu einem gefährlichen Vertrauten wurde.

Ihre Existenz hatte sich auf mechanisches Durchhalten reduziert. Ab und zu huschten in klareren Momenten Zweifel durch ihre immer beengter werdende Gedankenwelt, Fragen nach dem Sinn dieses Lebens, nach dem Sinn des Überlebens. Warum? Für was? Lohnte er sich denn überhaupt noch, der Kampf gegen das allmähliche Sterben? Sollte sie sich nicht lieber dieser wohligen, entspannenden Müdigkeit hingeben, die sich in ihrem Körper zunehmend breit machen wollte? Sie ahnte, dass ihr Geist ohnehin nicht mehr allzu lang Gegenwehr leisten konnte. Die Schwere in ihren Gliedern war so verlockend und behaglich. Der Verstand verlor die Lust daran, den Körper immer und immer wieder zur Disziplin zu zwingen. Aufstehen. Laufen. Essen. Denken. Hoffen. Beten. Und all das Absurde aus dieser gespielten Alltäglichkeit zu verbannen. Nein, es hatte wirklich keinen Sinn mehr, die Spielregeln dieses alten, unwichtig gewordenen Leben weiterhin aufrecht zu erhalten. Ganz plötzlich wurde ihr klar, dass ALLES seine Bedeutung verloren hatte.

Mit der letzten Kraft, zog sie sich aus und legte sich nackt auf das Bett. Die Dunkelheit sollte ihr neues Gewand werden, und sie war bereit für die unvermeidliche Vereinigung. Sie vernahm das aufgeregte Krabbeln, das suchende Scharren um sich herum. Sie schienen mittlerweile überall in der Wohnung zu sein. Die anfängliche Orientierungslosigkeit verlor sich schnell. Geena spürte mit ihren letzten klareren Gedanken, dass sie selbst, nackt auf dem Bett liegend und entspannt wie lange nicht mehr, zum begehrten Zentrum der Suche wurde und Interesse weckte. Begierde. Neugier. Leben, das sich mit anderem Leben vereinigen wollte. Und aus der Jagd wurde zielstrebige Eroberung. Geena spreizte die Beine und öffnete den Mund als sie spürte, nach welcher Nähe sie suchten und ließ sich willig erobern. Ihr ganzer Körper geriet in eine Art ekstatischen Aufruhr, bei dem, was die kleinen Invasoren mit ihr machten. Sie schienen jeden Zentimeter ihrer Haut zu kosen und nutzen jede Möglichkeit, in sie zu dringen. Dabei wirkten sie alles andere als planlos oder unwissend. Was auch immer geschehen sein mochte, den Menschen hatte es auf jeden Fall geschadet, aber andere Lebensformen schienen sich dadurch weiterentwickelt zu haben. Erste kleine Bilder erschienen in Geenas Kopf und verdrängten die übliche Form des Sehens, des Erkennens und des Bewertens. Kleine Mosaike. Bunte Punkte. Bildfetzen. Fragmente. Gedanken verschwanden. Emotionen lösten sich auf. Ein seltsames Summen ersetzte alles. Die Kommunikation war noch fremd, es war so, als würde sie sich in der Dunkelheit auf ein Licht zu bewegen. Geena lächelte, spürte in ihren Mundwinkeln die kleinen Fühler, die aufgeregt jede Veränderung registrierten und weitergaben. Es funktionierte alles fast so gut wie vorher. Nur in der Kommandozentrale saß plötzlich jemand anderes.

 

Heimlich natürlich. Unheimlich.
:thumbsup:
Wer dieses Niemandsland zu betreten versuchte, wurde nach einmaliger Warnung getötet.
einmal? Das ist bissle zu hart, oder? In ähnlichen Fällen sinds drei Warnungen
Verliebte, Verlassene, Verlorene, Verzweifelte, Verrückte, Vereinsamte...
schöne Alliteration! (wenn ich mich nicht irre, das erste Mal, dass ich etwas Positives über Alliterationen gesagt habe und es nicht ironisch gemeint habe)
Hi Rick,
:thumbsup: richtig geile Geschichte, die selbst über diese Länge fesselt, spannend bleibt und zum Weiterlesen animiert.
Erst mal n bissle Pingeligtserk raushängen lassen: Die Kakerlake am Anfang. Nein. Nö. Geht nicht. Wenn das wirklich so ne Art Killervirus ist, wird dieser Bezirk so was von hermetisch abgeriegelt worden sein, dass die Existenz dieser Kakerlake einhergeht mit dem Aufenthalt des Virus' dort. Jaja.
Hm, andererseits kommt der Virus ja wirklich ... es könnte aber sein, dass er durch diesen Korridor eingedrungen ist ... oder übers Telefon? De-de-deee! Man weiß es nicht ...
Nun Lobdudelei: Was diese Geschichte so perfekt macht, ist der Schreibstil. Es wirkt sehr gekonnt, wie du zum beispiel abgehackte Sätze einsetzt; hab jetzt grad kein Zitat, aber eben an Stellen, als Geena sich abzulenken versucht etc. Die abgehackten Sätze - eigentlich finde ich die ja schlecht - müssen schon beinahe hier gewählt werden; sie lassen den Leser mitfühlen und erleichtern ein Hineinversetzen.
Summa Summarum: :thumbsup:
Bruder :sad: Tserk
P.S: Fehlerliste kommt per PN

 

Hallo Rik,

ich habe die Kritik ohne Durchsicht der beiden Vorgänger geschrieben,
bitte entschuldige also Wiederholungen von Kritikpunkten.

Zwischen den Extremen schwankte seine Stimmung meistens hin und her, wie die Kugel in einem Flipperautomaten.
- Umstellen

eines neues Kapitel zum Thema „schnell und radikal wirkende biologische Kampfstoffe“ schreiben zu müssen.
- ein neues Kapitel

„Na großartig“, bemerkte Geena spöttisch. „Wer soll euch (das) denn jetzt noch vertrauen?“
- ohne das

„Spätestens das hat euch endgültig das Genick gebrochen und den letzten Funken an Glaubwürdigkeit zerstört“, sagte Geena.
Hm, das klingt irgendwie holprig, weiss aber noch nicht genau, weshalb.
Möglicherweise ist es die Antwort in direkter Rede auf die Ausführungen des Erzählers.

„Ich habe nie behauptet, dass wir aus der Firma einen besonderen Schutz haben“, murmelte Peter. „Es kann jeden erwischen!“
Schutzmassnamen der Firma gegenüber den Mitarbeitern? Der Bevölkerung?
Oder meint er die Bevorzugung während allfälliger Evakuierungen?
Vielleicht müsstest du das hier noch etwas verdeutlichen.

sie ihm immer wieder abblitzen ließ,
- sie ihn

(Der war ein) Meister in Sachen Selbstmotivation und wollte immer gewinnen, um jeden Preis.
- Dachte erst das "Der" beziehe sich auf Parker.

Sein verdammtes Wettangebot, (so fand Geena,) konnte er sich sonst wo hin stecken
- Lasse "so fand Geena," weg, der Satz ist eindeutig von Geena. :)

Der Fortschritt hat viele angenehme Seiten für uns gehabt
- Der Fortschritt hat aber auch viele angenehme Seiten ...
Ansonsten reflektiert der Satz die vorangegangenen

Vielleicht war es eine gute Ablenkung, etwas zu essen zu machen.
Vielleicht war es eine gute Ablenkung, den Tisch zu decken.
Vielleicht war es eine gute Ablenkung, mit Peter bei Tisch über unverfängliche Dinge zu reden,
- Stilmittel, klar, und doch empfinde ich die Wiederholungen als zu aufgesetzt und störend.

Es gab nur noch wenige Sender, die direkt aus dem Zentrum berichteten.

das Telefon tot, Das Handy fand
- das Handy

Viele Vielleichts und Wenns, den sie auf den Grund gehen sollte
- , denen sie auf den Grund

Die Stadt starb. Die Einwohner starben. Das Leben starb.
- Würde ich umstellen, erst die Einwohner, dann die Stadt, dann das ganze Leben.

Schritt vor Schritt wich sie vor ihm zurück
- Schritt für Schritt

An ich eigenes Leben.
- ihr


Zur Geschichte:
Ganz allgemein hatte ich von Beginn weg etwas Mühe diesen Sexprotz von Handwerker mit einer Anstellung als Pressesprecher bei einer Biotechfirma in Einklang zu bringen.
Auch wird wohl ein Pressesprecher in dieser hektischen Krisensituation nicht unbedingt tagelang zu Hause Kisten auspacken und Regale zusammenschrauben.

Die ganze Auspackszenerie im ersten Teil ist mMn zu langatmig, da sie nur in der Wohnung von Geena und Peter spielt und die Geschehnisse drumherum nur erzählt werden, dadurch nicht erlebbar sind.
Manchmal wird mir auch zuviel erklärt, zum Beispiel hier:
"So sollte ihr die Entscheidung, die Wohnung zu verlassen, das Gefühl geben, etwas Sinnvolles und Wichtiges zu tun. Es sollte ihren Überlebenswillen stärken und die schwindenden psychischen und physischen Kräfte wieder mobilisieren." Das würde mir auch klar, wenn du einfach schreiben würdest wie ihr schlussendlich die Decke auf den Kopf fällt, sie Hunger hat und loszieht, etwas Essbares zu suchen. (Mit den Kakerlaken im Schlepptau ...)

Und plötzlich geht dann alles im Eilzugstempo über die Bühne. Wie, wenn du die Geschichte schnell zu Ende schreiben wolltest, erzählst du die Übernahme der menschlichen Körper durch die Insekten, auf die du ja schon im ersten Abschnitt hingewiesen hast, etwas gar einfach.
Sorry, mir fehlt da einfach die Spannung.

Wenn du die Kakerlaken vielleicht früher schon ins Spiel bringen würdest, wie sie sich mit Geena um die letzten Reste des Essens streiten, wie Geenas Ekel, von Hunger getrieben in Gier umwandelt, danach plötzlich in Zuneigung zu den Viechern und zum Schluss dann die Vereinigung.
Das gäber der Geschichte die richtige Würze.

Könnte dann auch in Horror stehen.;)

Liebe Grüsse
dotslash

 

Hallo zusammen,

darf ich mich auf diesem Wege erst einmal nur ganz kurz und pauschal für die Kritiken bedanken? Ich habe mich sehr gefreut, wie ernsthaft, aufmerksam und hilfreich die einzelnen Kommentare sind. Schon beim Überfliegen habe ich viele Ansätze erkennen können, die mich garantiert weiterbringen. Da ich jetzt aber wenig Zeit habe und schon mit scharrenden Hufen auf mich gewartet wird, werde ich zu einem späteren Zeitpunkt noch etwas konkreter auf die einzelnen Meinungen eingehen.

Nur soviel vorweg: Das ist mein erster Versuch, einen SiFi-Stoff anzugehen. Und ich habe den Ehrgeiz, mit Hilfe der konstruktiven Kritiken am Ende vielleicht sogar etwas Gutes produziert zu haben. In diesem Sinn werde ich die Sache angehen. Also vielen Dank soweit und bis bald.

Grüße von Rick

 
Zuletzt bearbeitet:

Hier nun etwas konkreter.

@ Monty

Herzlichen Dank für deine ausführliche und sehr hilfreiche Kritik. Du hast mich zielsicher auf viele Schwachpunkte der Story aufmerksam gemacht. Ich habe schon viel geändert, muss aber noch mal grundsätzlich die Stilfrage checken. Deine Beispiele waren da sehr anschaulich.

Kürzen werde ich auch, ob radikal, muss ich sehen. Es ist auch bei langen Texten nicht so ganz einfach.

Es wird auf jeden Fall viel auf der Strecke bleiben - hoffentlich nur das Mangelhafte!

@ Bruder Tserk

Danke für die gute Kritik, die vorübergehend für den Meinungsausgleich sorgte. Dir hat's gefallen, das freut mich. Deine PN-Korrekturen habe ich erhalten und schon durchgeführt, allerdings noch nicht im Netz. Ich muss noch Kürzen und stilistisch feilen, das wird noch ein wenig dauern. Herzlichen Dank für deine Mühe und Unterstützung.

@ dotslash

Auch dir vielen Dank für die Zeit und Mühe, die du dir mit meinem Text gemacht hast, und die sehr große Hilfe, die dein Kommentar bot. Auch deine Änderungsvorschläge habe ich weitgehend beherzigt, aber eben noch nicht im Forumstext umgesetzt. Das kommt demnächst, wenn alles erledigt ist.

Nur zwei grundsätzliche Anmerkungen noch.

Du schreibst, du hattest Mühe, den Sexprotz von Handwerker mit einem Pressesprecher einer Biotech-Firma in Einklang zu bringen. DAS ist aber sehr klischeehaft gedacht, oder nicht? Schließt das eine das andere aus? In meiner Firma leitet die Buchhaltung ein baumlanger, sportlicher Typ OHNE Brille, der Handball spielt und Humor hat. Da würden viele sagen, sowas gibt es nicht!

Das Eilzugtempo am Ende hatte ich bisher nie empfunden, weil sich ja alles zunehmend verdichtet und auf diese Situation hinausläuft. Da habe ich mir ja nicht irgendwas ausgedacht, das aus der Handlung ausbricht, sondern es baut darauf auf.

Aber du hast schon Recht, der Schluss muss ingesamt mehr "funzen". Da bin ich noch am Werkeln.

Danke euch allen, ihr seid Kritiker gewesen, wie man sie sich für einen solchen Text nur wünschen kann.

Grüße von Rick

 

Hi Rick

Du schreibst, du hattest Mühe, den Sexprotz von Handwerker mit einem Pressesprecher einer Biotech-Firma in Einklang zu bringen.
Touché!

Ist wohl eher mein Problem, als ein Problem des Textes. :D
Aber zu der Aussage, dass er zu Hause rumwerkelt, statt im Medienraum seiner Firma zu sitzen und in die Kamera zu beschwichtigen, stehe ich weiterhin.
;)

Viel Erfolg beim Überarbeiten.
Gruss ./

 

Hallo dotlash,

so nun ist die überarbeitete Fassung eingespielt und ich habe deinen Einwand auch noch mal überdacht. Ich habe sehr viel geändert und Peter jetzt nur noch ein Wochenende als Heimwerker erlaubt.

So müsste es gehen. Vielleicht ...

Grüße von Rick

 

Hi Rick!

Ich muss schon sagen, was auch immer die Überarbeitung ausgemacht hat, es hat sich ganz offensichtlich gelohnt. Du hast eine atmosphärisch sehr dichte Geschichte geschrieben, die von Untergang, Verfall und Hoffnungslosigkeit erzählt und sich mit der Frage beschäftigt: "Wie verhalten sich die Menschen, wenn sie wissen, dass es mit ihnen allen zu Ende geht und es keine Zukunft mehr gibt?"
Interessanterweise sehe ich Parallelen zum Film "USS Charleston", der die Untergangsthematik aus einem ähnlichen Blickwinkel auseinandersetzt ( so gibt es dort eine Offiziersfrau, die sich als emsige Heimwerkerin zeigt, um das Verderben aus ihrem Bewusstsein fernzuhalten ). Hast du dich davon inspirieren lassen? :)

Was das Ende angeht, kann ich dir leider nicht ganz folgen. Das Ungeziefer übernimmt die Herrschaft? Eine etwas seltsame Pointe, und es gelingt deiner Geschichte auch nicht im Geringsten, den Bogen von der Seuchenthematik bis dahin zu schlagen, trotz halbherziger Andeutungen wie der mit der Kakerlake am Anfang. Es ist mir überhaupt nicht klar, was du damit eigentlich sagen willst. Geht es in der Geschichte nun um den Umgang der Menschen mit dem Untergang oder die Evolution? Letzteres wäre nicht anzuraten, da das ein völlig eigenes Themenfeld ist. In einer KG, auch einer so langen, ist nur für ein großes Thema Platz.

Dennoch ist die Geschichte insgesamt ein weiterer Beweis, dass man Science Fiction auch ruhig erzählen kann.

Textkram ( nicht erschrecken, sind nur Kleinigkeiten :D ):

Bisher zeigte sich allerdings nur ein einzelner Vorbote,

Er wirkte gereizt, aber das war neben dem fanatischen Optimismus bei ihm schon Normalzustand.

Zwei verschiedene Normalzustände? Ich würde schreiben "Er wirkte gereizt, aber das war bei seinem fanatischen Optimismus der normale Begleitzustand."

Ansonsten hielt er seine Firma für eine der tragenden Säulen der Schadensbekämpfung,

musterte sie verständnislos seine verschwitzte Vitalität

Vitalität ist etwas Abstraktes, und mustern tut man etwas, was auch optisch Konturen hat ( dieses Wort hat etwas von prüfen; heißt beim Bund ja nicht umsonst "Musterung", ne? ;) ). Deshalb mein Vorschlag: "Stattdessen starrte sie verständnislos auf diese Verkörperung verschwitzter Vitalität ..."

Das Unternehmen, für das Peter tätig war, soviel stand fest, trug eine entscheidende Verantwortung und damit auch die Hauptschuld an der sich schnell ausbreitenden Katastrophe.

Das liest sich, als ergäbe sich das eine aus dem anderen, tatsächlich widerspricht es sich. Eine entscheidende Verantwortung bedeutet, dass es noch andere mit Verantwortung gibt. Lass eines weg: Entweder die entscheidende Verantwortung oder die Hauptschuld ( kann ja nur eines von beiden zutreffen ).

Erst nach und nach verdichteten sich die Hinweise,

Nach einer Woche ging man in vorsichtigen Schätzungen von mindestens 100.000 Toten und bestimmt der dreifachen Menge an infizierten Menschen aus.

Menge wird einem dinglichen Objekt zugeschrieben: Drei Kilo Wurst, fünf Liter Bier, zehn Äpfel ... Bei Personen spricht man von Zahl oder Anzahl.

„Meinst du, dein Verhalten ist besser? Aufgeben? Den Kopf in den Sand stecken? Ich bin ein Kämpfer. Ich setze mich nicht einfach hin und warte jammernd auf den Tod.“

Da überkommt mich plötzlich so eine Art Seifenopern-Gefühl. Vielleicht wegen dem jammernd? So kompliziert baut man die Sätze irgendwie nicht, wenn man emotional erregt ist.

rief Peter seiner zweifelnden Frau zwischen den Hammerschlägen zu.

Das passt nicht zu ihrer derzeitigen Gemütslage. Sie ist doch überzeugt, dass es zu Ende geht, diametral zu seinem Optimismus.

Andere warten immer noch auf diese Chance.“

Das riecht nach priviligierter Behandlung ( Pressesprecher der Firma, die für alles verantwortlich ist, kriegt als erster eine Wohnung in den Außenbezirken? Da ist doch was faul! ). Bei diesem Schwachpunkt seiner Argumentation könnte Geena doch viel eher ansetzen als bei "Wir haben eh keine Chance."

Aber spielte das noch eine Rolle? Wo man am Ende krepierte?

Da sollte doch besser ein Komma hin, meinst du nicht? ;)

Irgendwo, inmitten ungewisser Aussichtslosigkeit?

Kann Aussichtslosigkeit ungewiss sein? ;)

Geena lächelte freudlos und ihr Blick wirkte müde.

Auf wen? Ich dachte, du schreibst aus ihrer Sicht?

damit ich am nächsten Tag wieder mit voller Kraft weitermachen kann.“

Erzähle den Leuten von deinen Untergangsversionen.“

Hm?

Oder die Welt wurde vor ihnen geschützt – ganz wie man es sehen wollte.

Dieser Satz kann gestrichen werden. Das weiß der Leser selbst.

weil sie einfach nicht glauben wollten, dass der Staat zu solchen drastischen Mitteln greifen würde.

Die Endung weg.

Aber es half ihnen nicht viel.

Wieder ein überflüssiger Satz. Besser streichen und den vorigen Satz umformulieren: "Sie konnten sicher sein, dass der Rest der Welt ihrer in mitfühlenden Sonntagsreden gedachte." Oder so.

Fast schien er froh zu sein, aus der Wohnung zu kommen, weg von Geena, weg, von der Ordnung,

Ist er froh, weg von der Ordnung zu sein? Die hat er doch selbst errichtet und liebt sie sogar, wie er selbst betont.

Es vergingen ungenutzte Tage. Dann war plötzlich das Telefon tot, das Handy fand kein Netz mehr, Fernsehgerät und Radio schwiegen, Strom und Wasser waren ausgefallen und über den leeren, einsamen Stadtteil beschien die Sonne eine graue Stille. Geena wusste, dass sie etwas tun musste. Aber was?

Das scheint ein entscheidender Wendepunkt der Geschichte zu sein, aber du handelst ihn in einer Notiz ab. Das stimmt von der Gewichtung nicht so ganz.
Ich denke, zumindest den Moment des Stromausfalls könntest du ein wenig dramatischer schildern. Aus ihrer Sicht ist der Lauf der Dinge ja nicht so schicksalhaft, dass sie sich teilnahmslos fügen würde.

Einige ausgeschlachteten Autowracks standen kreuz und quer herum.

Nur das Geräusch des eisigen Windes, der Papier und Unrat über den Asphalt wirbelte.

Mit solchen Atmosphäre-Klischees würde ich sehr vorsichtig umgehen. Eigentlich müsste das nicht hier stehen.

Verliebte, Verlassene, Verlorene, Verzweifelte, Verrückte, Vereinsamte...

Es gibt nur ein positives Wort in der Reihe. Der Ausgewogenheit halber solltest du dir noch ein paar von der Sorte ausdenken oder dieses eine streichen, da es nicht ins Gesamtbild passt.

Und mit jeder Ecke, die Geena erreichte,

während ihr Tränen über die Wangen strömten

Mit Endungen hast du's nicht so, oder? :D

Nun, ich dachten jedenfalls

dass ich haben lernen gut deutsch bei Freund in Ankara. :D

„Es gibt hier keine anderen Menschen außer Ihnen mehr?“,

Sie hatte noch einige Male die Wohnung verlassen und in verschiedene Richtungen

ihren eigenen Körpergeruch, der ihr beißend in der Nase lag,

Riecht man den eigenen Körpergeruch?

Ciao, Megabjörnie

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Megabjörnie,

Danke für das Lob. Ich bin immer wieder beeindruckt von der Qualität und dem Umfang der Kritiken, die man hier bekommt und hoch erfreut über die Mühe, die sich Einzelne machen, um anderen bei der Verbesserung der Texte zu helfen. Das zeugt auch von einer hohen Wertschätzung gegenüber anderen Werken, und dass ich obendrein davon profitieren kann, dafür meinen allergrößten Dank.

Deine Korrekturen und Verbesserungsvorschläge werde ich systematisch abarbeiten und dazu noch einmal später in irgendeiner Form Meldung geben, da habe ich aber schon sehr viel Kreatives und Nützliches für den Text entdecken können. Demnächst wird das erledigt.

Den Film „USS-Charleston“ kenne ich nicht. War das zufällig ein Remake des Films „Das letzte Ufer“? Dann könnte ich das thematisch ungefähr einordnen.

Die Idee, dass ich den Einzug und das Einrichten der Wohnung in den Vordergrund stelle, ist in einem (wahrscheinlich etwas verwegenen?) Zusammenhang mit der Tatsache zu sehen, dass am Ende auch die Insekten eine „neue Behausung“ beziehen – und so erklärt sich dann ja auch der Titel, der natürlich zweideutig gemeint ist.

Wichtig ist es mir, speziell auf deine Anmerkungen einzugehen, die sich mit dem Schluss meiner Story beschäftigen.

Es gibt eine Fülle von Stoffen, in denen durch irgendeine Form von Verseuchung oder Umweltschädigung aus Tieren gefährliche, aggressive und zerstörungswütige Monster werden. Häufig waren es Insekten. Ob nun in „Tarantula“ oder „Formicula“, die Insekten wurden meistens monströs und machten sich auf, die Menschheit zu vernichten. Abgesehen davon, dass ich diese oft sehr trashigen Filme immer mit größer Begeisterung gesehen habe, hat mich dieses Insektenthema nie ganz losgelassen und mich zu vielen eigenen Gedankenspielen veranlasst.

Es gibt da einen wundervollen Film, der mich besonders zu „Tapetenwechsel“ inspiriert hat: „Phase 4“. Ein, wie ich finde, sehr intelligentes Werk, in dem Ameisen im Kampf gegen Menschen immer klügeren Taktiken anwenden, bis irgendwann klar wird, dass der Mensch gegen sie auf Dauer keine Chance mehr hat. Am Ende sieht man einen der Hauptdarsteller ausgestreckt in der Wüste liegen und die Kamera fängt in Großaufnahme seine Hand ein. Plötzlich bricht die Handfläche auf und Ameisen quellen hervor. Das hat mich stark beeindruckt.

Ich wollte mein Thema auch in dieser Weise angehen. Keine blindwütige Zerstörung durch mutierte XXL-Insekten, sondern eine eher stille und behutsame Eroberung. Eine geheimnisvolle Übernahme. Sie haben nur auf Ihre Chance gewartet, und haben diese Chance durch eine Seuche bekommen. Die Menschheit ist geschwächt, ihre Kommunikation funktioniert nicht mehr, der Lebenswillen ist gebrochen. Eine andere Macht, die schon lange in den Starlöchern stand, ist nun vorbereitet für den Wechsel. Normalerweise natürlich völlig absurd, aber ich dachte mir, als SciFi-Stoff könnte es durchaus funktionieren. Ich habe den Schluss mittlerweile sehr häufig überarbeitet, vielleicht ist er dadurch schlechter statt besser geworden.

Außerdem haben mich immer wieder Filme fasziniert, in denen menschenleere Städte gezeigt werden. Unglaublich, diese Vorstellung, das man durch Straßen irrt, und plötzlich ist nirgendwo mehr ein Zeichen von Leben zu sehen. Wunderbare Sequenzen gibt es in „Der Omega-Mann“, „Öffne die Augen“ (darauf basiert ja „Vanilla-Sky“ als relativ schlechtes Remake), „28 days later“ und auch „The quiet Earth – Das letzte Experiment“.

So habe ich die Möglichkeit genutzt, diese beiden Themenfelder einfach mal zu mischen. Aber ich wollte das nicht spektakulär machen, nicht mit verseuchten Opfern, die zu Zombies mutieren, nicht mit Insekten, die größer als Hochhäuser werden, sondern auf einer fast realistischen Basis, die nur am Ende ins Fantastische mündet.

Ich denke mal, das erklärt weitgehend meine Inspirationen zu der Geschichte.

Also, noch einmal herzlichen Dank für all die Mühe, die du dir mit der Story gemacht hast, das hat neben der Freude darüber auch angespornt, mich noch mal ausgiebig mit dem Text zu beschäftigen.

Grüße von Rick

 

Hi Rick!

Ich denke, die Schwäche der Story liegt darin, dass der Ungeziefer-Schluss nicht vorbereitet wird. Du erwähnst vielleicht die ganzen Ratten und Kakerlaken, aber als Leser fühle ich mich mit dem Ende etwas überfallen, wodurch es arg aufgesetzt wirkt, auch wenn du die ganze Zeit vorhattest, die Geschichte so enden zu lassen.
Geena wirkt ja auch nicht im Mindesten verstört darüber, dass die Viecher plötzlich alle so intelligent nach ihren Körperöffnungen suchen. Du könntest, wie an anderer Stelle schon vorgeschlagen wurde, die Beziehung Geenas zu den Tieren langsam aufbauen. Es muss zwei Handlungsstränge geben: Die Flucht vor der Seuche und das Intelligenterwerden des Ungeziefers. Das Viehzeugs muss in der ganzen Geschichte präsent sein, damit der Leser merkt: Das ist das Thema, um das es dem Autor geht. Dann sollte auch der Aspekt der Realitätsverleugnung in den Hintergrund treten, es sei denn, es gelingt dir, die beiden Themen zu einem einzigen zu verbinden. Selbst in einem Roman gibt es niemals zwei rote Fäden, nur einen einzigen!

Die Handlung von "USS Charleston" geht etwa so: Amis und Chinesen haben sich einen Atomkrieg geliefert, und jetzt wird nach und nach die ganze Erde von einer radioaktiven Wolke umhüllt. Ein Professor hat errechnet, dass es eine freie Zone in der Umgebung des Nordpols geben könnte, und eine U-Boot-Expedition wird losgeschickt, um das zu prüfen. Die Suche endet im Fiasko, und alle müssen sich damit abfinden, bald zu sterben. Der Film thematisiert, wie unterschiedlich Menschen mit dieser Gewissheit umgehen. Die Palette reicht von Amokläufen und Plünderungen über Fatalismus bis hin zu Verleugnung ( wie oben beschrieben ), aber auch - und das steht bei weitem im Vordergrund - dem Bewahren der eigenen Würde und Gefasstheit im Angesicht des sicheren Todes. Auf jeden Fall ein sehenswerter Film, auch wenn er nicht sehr erbaulich ist. ;)

Ciao, Megabjörnie

 

Hallo Megabjörnie,

in der Tat, da müsste ich noch einmal die grundsätzliche Weichenstellung der Story überdenken. Danke für deine hilfreichen und guten Vorschläge.

Selbst in einem Roman gibt es niemals zwei rote Fäden, nur einen einzigen!

Da wäre ich mir nicht so sicher.

Die Handlung von "USS Charleston" klingt sehr nach einem Remake von "Das letzte Ufer", 1959 von Stanley Kramer nach einem Roman von Nevil Shute verfilmt, mit Gregory Peck und Anthony Perkins in den Hauptrollen.

"Shutes Story ist in seine Heimat Australien verlagert. Klugerweise hielt sich Kramer auch beim Film daran ...
...wie dieser Krieg zustande gekommen war oder wer ihn begonnen hatte, ist für den Film unerheblich. Es geht einzig und allein darum, wie eine ganz bestimmte Gruppe von Leuten auf den langsamen Angriff radioaktiv verseuchter Luftwolken reagiert, und auf die Erkenntnis, dass nur noch eine kurze Zeitspanne Leben verbleibt..."

Grüße von Rick

 

Hallo Rick,

Die bisherige Überarbeitung hat sich gelohnt.
Mit der Einleitung wird es zu einer Runden Sache und den Schluss hast du mMn mit dem Weglassen des alten Mannes aufgewertet.

Aaaber, ich stimme Megabjörnie zu:
An der Beziehung von Geena zu den Viechern darfst du noch etwas arbeiten.

Nochmal etwas Kleinkram:

wenigstens einen Supermarkt zu finden, um ihre Vorräte aufzufüllen.
während ihr Tränen über die Wangen strömten, erreichte glücklich den Spielplatz,
Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, auf welch irrsinnige Szenerie sie hier herein gefallen war, und als es ihr langsam klar wurde, verwandelte sich die Freude in Resignation.
Wortwiederholung. Vielleicht ersetzt du das zweite mit "langsam dämmerte"?
Er wirkte schmutzig und ungepflegt und seine Haut gelb und faltig.
Vorschlag:
Er wirkte schmutzig und ungepflegt, seine Haut war gelb und faltig.
"Es hat hier keine anderen Menschen außer Ihnen mehr?"
Der lethargische Dämmerzustand, in den sich Geena geflüchtet hatte, schien ihr Zeitempfinden zerstört zu haben.
Kann man sich in einen Dämmerzustand flüchten? Man verfällt doch eher in einen.
Voller Ekel hatte Geena das Meiste davon einfach aus dem Fenster auf die Straße geworfen, und damit doch neues Leben angelockt.
Statt "doch" ein "nur"?

Gruss dot

 

Hallo dotslash,

danke für diese weitere Meldung und die ermutigende Bewertung des Zwischenstandes. Bei manchen Geschichten verliert man (jedenfalls mir geht das gelegentlich so) in der Fülle der Kritiken, auch wenn so noch so konstruktiv und wohlmeinend sind, schon mal den Faden. Plötzlich sieht man kein Land mehr.

Eine Story umzukrempeln ist ohnehin meistens schwieriger, als "einfach" eine neue zu schreiben.

Bei "Tapetenwechsel" aber hat mich der brennender Ehrgeiz gepackt, und da weiß ich mittlerweile auch sehr konkret, was ich noch zu tun habe und wo ich hinkommen muss. Das wird ein wenig dauern, und den Abschluss im März werde ich wohl nicht mehr hinkriegen.

Aber die Tapeten werden so lange bearbeitet, bis sie passen. Nochmals Dank für die professionelle und umsichtige Unterstützung. Erfreulich, den eigenen Text auf diese Weise kontinuierlich verbessern zu können.

Grüße von Rick

 

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