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Tapetenwechsel
Überarbeitete Version
Ein Millionenheer, vielbeinig und hektisch krabbelnd, bereitete den letzten vernichtenden Angriff auf die sterbende Stadt vor. Häuser, Straßen und die jämmerlichen Reste menschlicher Existenz würden schon bald unter einer riesigen Welle nervösen Gewimmels erstickt werden. Nichts konnte die gewaltige Macht jetzt noch aufhalten.
Geena kauerte auf dem Bett. Es war ihr gelungen, sich auf eine der letzten noch verbliebenen Inseln der Zivilisation zu retten. Sie zog die Beine dicht an den Oberkörper und beobachtete mit starrem Entsetzen die Vorbereitungen einer gut organisierten Armee. Bisher zeigte sich allerdings nur ein einzelner Vorbote, um die Lage zu erkunden. Und diese eine Kakerlake hatte ausgereicht, sie in Panik zu versetzen und in ihren Gedanken düstere Visionen auszulösen.
Peter Davis betrat das Zimmer und runzelte die Stirn, als er seine Frau auf dem Bett sah, ihren Blick ängstlich auf das kleine Wesen geheftet.
„Was hast du denn jetzt schon wieder?“, fragte er gereizt. Sie gab keine Antwort, und es war eigentlich auch nicht nötig. Die Kakerlake krabbelte emsig zwischen den Umzugskartons hin und her. Schnell. Aber nicht schnell genug, um Peters Tritt zu entkommen. Er zermantschte sie und sah seine Frau spöttisch grinsend an. „War’s das?“
Geena sah ihn vorwurfsvoll an. „Weißt du, dass sie sich auf diese Weise vermehren? Jetzt verbreitest du ihre Eier überall im Haus.“
„Quatsch. Das Vieh ist tot. Die Eier sind platt. Gibt’s sonst noch ein Problem, oder können wir weitermachen?“
„Sie sind überall“, flüsterte Geena und schauderte.
„Blödsinn. Das bildest du dir ein.“
„Ich fühle es.“
„Natürlich. Du bist übermüdet und hungrig, Baby, da gehen einem schnell mal die Nerven durch. Tut mir Leid. Lass uns noch ein wenig weitermachen. Dann machen wir Pause und essen was. Im Moment möchte ich die Zeit nutzen. Verstehst du?“
Er verschwand wieder. Geena blieb auf dem Bett sitzen, starrte auf das Chaos aus Umzugskartons, Kisten und Tüten und fragte sich, welchen Sinn es haben sollte, sie auszupacken.
Als das Sterben begann, hatte es die üblichen Dementis und Beschwichtigungsformeln gegeben. Die Mehrheit der Bevölkerung, mittlerweile an Katastrophen mit unterschiedlichsten Auswirkungen gewöhnt, lebte zunächst unbekümmert weiter. Aber diesmal war die Bedrohung zu offensichtlich, um einfach wieder in die alte Gleichgültigkeit zu verfallen. Keiner konnte dem Schrecken auf Dauer ausweichen. Geena hatte schließlich eine junge Frau im Supermarkt auf dem Boden liegen sehen. Schaum vor dem Mund. Blut, das aus Augen, Mund, Nase und den Ohren quoll. Zuckende, schmerzhaft verkrampfte Gliedmaßen. Gelber Schleim, der sich mit dem Blut vermischte. Die Sondereinheiten in ihren glitzernden Schutzanzügen waren erstaunlich schnell zur Stelle gewesen und hatten die sterbende Frau mit einer sargähnlichen Bahre abtransportiert.
„Wir werden das in den Griff bekommen!“ hieß es täglich in den Meldungen, ohne dass irgendjemand genau zu wissen schien, was DAS eigentlich war. Zuversicht war fehl am Platze. Die Todesfälle in der Öffentlichkeit häuften sich. Menschen kamen auf hässliche Weise auf den Straßen um, beim Einkaufen, in Bussen und U-Bahnen, in Restaurants und Supermärkten – überall. Sämtliche Massenveranstaltungen wurden abgesagt. Latente Ansteckungsgefahr. Kein Football, keine Konzerte, keine Oper, kein Theater. Eine vorübergehende Vorsichtsmaßnahme, hieß es. Reichte das aus, die Bevölkerung zu beruhigen? Man zuckte mittlerweile schon zusammen, wenn irgendwo in der Nähe jemand auch nur hustete. So fing es meistens an. Und dann ging es ziemlich schnell. Die Infizierten schienen im Endstadium innerlich zu explodieren, als würde ihr Blut mit aller Macht aus den Körpern drängen wollen. Die Rettungskräfte und Sondereinheiten konnten die Bergung der Toten nicht mehr organisieren. Leichen mussten häufig auf offener Straße verbrannt werden. Manchmal wurden ganze Straßenzüge angezündet.
Peters hochrotes Gesicht tauchte erneut in der Tür auf. Er wirkte gereizt, aberd das war bei ihm schon Normalzustand. Vielleicht lag es daran, dass er die herrschende Situation erheblich unterschätzte, und sich selbst und seine Möglichkeiten maßlos überschätzte. Diese offensichtliche Diskrepanz musste ihn quälen, in den wenigen ehrlichen Momenten, die er sich vielleicht hin und wieder noch gönnte. Ansonsten hielt er seine Firma für eine der tragenden Säulen der Schadensbekämpfung, dozierte über Hoffnung, Zukunft, reelle Chancen und notwendige Zuversicht. Geena hatte es aufgegeben, seinen leeren Worten noch irgendeine tiefere Bedeutung beizumessen. Er tat so, als wäre allein durch das Hochkrempeln von Hemdsärmeln schon das Wichtigste erledigt.
„Es wäre schön, wenn du ein paar Kartons und Kisten auspacken könntest“, schlug er vor. „Wir brauchen in der Wohnung klare Strukturen und Ordnung. Dann bleiben auch unsere Gedanken klar und geordnet.“
Geena hätte am liebsten laut losgelacht und gefragt, aus welchem blöden Motivationsseminar er diesen Schwachsinn hatte. Stattdessen musterte sie verständnislos seine verschwitzte Vitalität und schüttelte müde den Kopf.
Er zuckte mit den Achseln, murmelte etwas Unverständliches und verschwand wieder, um wenig später mit wütenden Hammerschlägen seinen ungebrochenen Einsatzwillen zu betonen: ICH – Boing! – ARBEITE – Boing! – UNERMÜDLICH – Boing! – FÜR – Boing! – UNSERE – Boing! – ZUKUNFT – Boing!
Das Unternehmen, für das Peter tätig war, soviel stand fest, trug die Hauptschuld an der sich schnell ausbreitenden Katastrophe. Eine verheerende Explosion in einem Labor, das sich angeblich mit „zukunftsorientierten Projekten“ beschäftigte, hatte den Beginn eingeleitet. In den ersten 36 Stunden nach diesem Unfall hatte es bereits mehrere tausend Todesopfer gegeben, ohne dass bekannt wurde, was konkret die Explosion freigesetzt hatte. Erst nach und nach verdichteten sich die Hinweise, dass eine Großstadt dem Untergang geweiht war.
„Wir bekennen uns zu dieser Verantwortung“, hatte Peter zu Geena gesagt, als es keine Möglichkeit mehr gab, sich weiterhin von der Verantwortung zu distanzieren. „Es ist ein furchtbares Unglück. Aber nun müssen wir kämpfen, damit die Dinge wieder ins Lot kommen!“
Nach einer Woche ging man in vorsichtigen Schätzungen von mindestens 100.000 Toten und bestimmt der dreifachen Anzahl an infizierten Menschen aus. Das konnte beim besten Willen nicht wieder „ins Lot“ gebracht werden.
„Wir werden das Sterben stoppen“, verkündete Peter dennoch zuversichtlich.
„Na großartig“, bemerkte Geena spöttisch. „Wer soll euch das denn jetzt noch glauben?“
Dann war ein Pressesprecher von Peters Firma während eines Interviews vor laufender Kamera zusammengebrochen. Erst wollte er aus einem Elefanten eine Mücke machen, dann erbrach er plötzlich einen dicken Schwall blutigen Schleim auf das Kostüm der Reporterin, und von einer Sekunde auf die andere schienen seine Augäpfel zu zerplatzen. Die Journalistin, die ihn eben noch befragte hatte, bekam einem Weinkrampf und versuchte, sich wild herumfuchtelnd von dem Schleim zu befreien.
„Spätestens das hat den letzten Funken eurer Glaubwürdigkeit zerstört“, sagte Geena.
„Ich habe nie behauptet, dass wir aus der Firma gegen den verdammten Virus immun sind“, murmelte Peter. „Es kann jeden erwischen!“
„Es ist schrecklich.“
„Es ist eine schreckliche Krankheit.“
„Die ihr erfunden habt.“
„Es war ein Regierungsauftrag.“
„Spricht euch das von irgendeiner Schuld frei?“
„Geena, was willst du? Soll ich mich erschießen?“
„Du sollst nur damit aufhören so zu tun, als hätten wir noch eine Chance. Das ist absurd!“
„Meinst du, dein Verhalten ist besser? Einfach aufgeben?“
Geena zuckte mit den Achseln.
Boing! Boing! Boing!
Peter gab niemals auf. Früher hatte sie ihn gerade wegen dieser Eigenschaft besonders geliebt. Schließlich hatte er auch nicht aufgegeben, als er ihr monatelang erfolglos den Hof machte, sie ihn aber immer wieder abblitzen ließ, weil sie eigentlich mit Frank Parker ging, dem Schöngeist, dem Denker, dem musischen Poeten, der so ganz anders war, als die Sportskanone Peter Davis. Peter war nun mal ein Meister in Sachen Selbstmotivation und wollte immer gewinnen, um jeden Preis. Und er gewann schließlich. Auch bei Geena.
Seufzend erhob sie sich von dem Bett und schlüpfte, sich an die widerliche Kakerlake erinnernd, hastig in ihre Schuhe. Die vom Einzugschaos geprägte Wohnung, fremd und ungemütlich, verstärkte ihre schlechte Stimmung. Woher nahm Peter nur seine perverse Zuversicht? Was trieb ihn an, Schränke aufzubauen und Regale anzubringen, während alles um sie herum zusammenbrach? Die Strukturen, die Ordnung, das Gesetz, die Hoffnung, der Glaube ...
„Uns geht es doch den Umständen entsprechend noch recht gut“, rief Peter seiner grübelnden Frau zwischen den Hammerschlägen zu. „Zweifellos haben wir uns bisher nicht infiziert. Und jetzt sind wir wenigstens schon mal aus dem Schlimmsten raus. Hier sind wir viel sicherer. Andere warten immer noch auf diese Chance.“
„Menschen sterben“, erwiderte Geena. „Täglich mehr. Auch wir haben keine Chance. Wir wissen ja nicht einmal genau, auf welchen Wegen man sich ansteckt. Durch Luft? Wasser? Berührung? Und welche Inkubationszeit hat dieser verdammte Virus. Vielleicht tragen wir ihn schon längst in uns!“
Peter antwortete nur noch mit wütenden Hammerschlägen.
Immerhin waren die Räume der Wohnung in einem sehr guten Zustand. Aber spielte das noch eine Rolle, wo man am Ende krepierte? In einer frisch renovierten Wohnung in einem Randbezirk der Stadt oder in einem Luxusappartement in der City? Im Supermarkt? Auf der Straße? Irgendwo, inmitten dieser Aussichtslosigkeit?
Geena lief genauso planlos zwischen den Kartons und Kisten hin und her, wie vorhin die Kakerlake, ohne eine Idee zu haben, wo und wie sie beginnen sollte. Sie nahm hier etwas auf und legte es dort wieder ab. Es ergab keinen Sinn. Nichts ergab einen Sinn. Dann ging sie zu Peter, der mittlerweile das Hämmern eingestellt hatte. Bier trinkend und in den Schweißdunst seines Übereifers gehüllt stand er vor einem aufgebauten Regal. Sichtlich stolz und mit sich selbst zufrieden. Immerhin war es auch an der Wand gelandet, an der Geena es hätte haben wollen, wenn es für sie noch irgendwie von Interesse gewesen wäre. Jetzt aber war es ihr egal. Sie hätten es genauso gut aus dem Fenster werfen können.
“Ist es so okay?“, Es klang, als wäre er auf ihren Widerspruch mehr als nur vorbereitet. Als sehnte er sich geradezu nach ihren Einwänden, um sich in einem hitzigen Wortgefecht weiter abreagieren zu können. Er rülpste angriffslustig und wiederholte seine Frage ein wenig schärfer.
Geena zuckte zusammen. „Was?“
„Das Regal, Baby? Ist es okay? Schau es dir an. Steht es richtig?“
„Ja. Okay. Es ist ... okay.“ Geena lächelte freudlos und ihr Blick wirkte müde.
Peter zuckte mit den Achseln und entspannte sich ein wenig. „In einigen Tagen, wenn erst mal alles an Ort und Stelle ist, wenn wir den gesamten Krempel sortiert und eingeräumt haben, dann werden wir uns gleich viel besser fühlen. Wetten?“
Niemals würde sie sich wieder gut fühlen, geschweige denn besser. Doch sie war es leid, die alten Vorwürfe immer wieder aufs Neue wie ein altes Klageweib herunterzuleiern.
„Wie soll es weitergehen?“, fragte sie nur.
Das reicht bereits für ihn aus, sich provoziert zu fühlen.
„Bin ich vielleicht Gott?“, schnauzte er sie an. „Woher soll ich das wissen? Was ich tun kann, das tue ich. Mit aller Kraft und Konzentration. Und wenn jeder so handeln würde wie ich, das kannst du mir glauben, dann wären unsere Aussichten, aus dieser beschissenen Sache einigermaßen gut heraus zu kommen, wesentlich besser.“
„Du glaubst das tatsächlich?“ Geena war fassungslos. „Hast du eigentlich nie Zweifel? Nicht einmal nachts?“
Er lachte böse. „Ich arbeite vom frühen Morgen bis zum späten Abend fast ohne Pause. Wenn ich mich ins Bett lege, dann weiß ich, was ich getan habe. Also mache ich nachts meine Augen zu und schlafe, damit ich am nächsten Tag wieder mit voller Kraft weitermachen kann.“
„Weitermachen“, flüsterte Geena. „Oh ja, ihr habt immer weiter gemacht, ohne Rücksicht auf Verluste. Du musst doch gewusst haben, was dein verdammter Konzern da trieb. Mit welchen Dingen sie hinter verschlossenen Türen herumexperimentiert haben.“
„Ich leite die Presseabteilung.“
„Gerade dann! Wochenlang hast du alles schöngeredet.“
„Ich wusste nicht alle Fakten.“
„Du kannst trotzdem kein gutes Gewissen haben.“
„Verdammt, was willst du denn von mir? Ich wusste auch, dass es die Atombombe gibt. Das Restrisiko bei jeder Form von Forschung ist allgemein bekannt. Alles hat seinen Preis. Das weiß der Raucher, der jeden Tag seine sechzig Zigaretten inhaliert, und das weiß die Frau, die sich mit Silikon ihre Titten vergrößern lässt.“
Geena betrachtete ihren Mann ungläubig. „Machst du es dir mit dieser Einstellung nicht etwas zu einfach? Habt ihr denn die Menschen dieser Stadt gefragt, ob sie bereit sind, diesen verfluchten Preis zu bezahlen? Hatten sie jemals eine Chance, selbst darüber zu entscheiden?“
„Oh je.“ Er winkte resignierend ab, durchquerte den Raum und holte sich die nächste Dose Bier. „Hätte man die Menschheit bei jedem Schritt von Wissenschaft und Forschung erst einmal um Erlaubnis fragen müssen, dann würden wir uns vermutlich heute noch in Fellen kleiden, in Höhlen leben und irgendwelches Ungeziefer fressen.“
Geena lächelte bitter. „So, wie’s momentan aussieht, wird das ja wohl bald wieder so sein.“
„Unbelehrbar“, murmelte Peter und ließ den Verschluss der Bierdose zischen. „Geh doch durch die Straßen und werde Wanderpredigerin. Erzähle den Leuten von deinen Untergangsvisionen.“
„Was soll ich da groß erzählen? Die Menschen brauchen sich ja nur umzuschauen.“
Er trank einen mächtigen Schluck Bier und unterdrückte nur mühsam einen Rülpser. Dann setzte er sich auf eine Kiste und rieb sich nervös die Nasenwurzel.
„Es gibt ein paar kritische Zonen, die unter Quarantäne gestellt werden mussten“, sagte er. „Das will ich gar nicht abstreiten. Und es gab viele Tote. Da gibt es nichts zu beschönigen. Aber die Messungen in den Randgebieten der Stadt haben doch sehr positive Werte ergeben. Umsiedlungen werden organisiert. Wir gehören zu den Ersten, weil ich meinen Einfluss nutzen konnte, um dich aus dem Schlimmsten herauszuholen. Wir können natürlich nicht ausschließen, dass noch mehr Menschen sterben müssen. Wir können auch nicht beurteilen, wie sich der Virus zukünftig verhält. Aber es macht keinen Sinn, sich aufzugeben. Wir müssen nüchtern und sachlich bleiben. Nur so haben wir eine reelle Chance, verstehst du? Wir werden die Probleme überwinden. Gemeinsam. Hand in Hand. Seite an Seite. Mit Mut und Energie!“
Geena war es leid, auf diesem Niveau weiter mit ihrem Mann zu reden. Sie waren nicht mehr konsensfähig. Doch das war im Grunde genommen schon vor der Katastrophe so gewesen.
„Könntest du mir wenigstens noch den CD-Player anschließen?“, bat sie. „Musik würde mich jetzt beruhigen.“
Peter grinste. „Aber klar, Schatz. Kein Problem.“
Während er sich eifrig dran machte, den Wunsch seiner Frau in die Tat umzusetzen, nahm sie selbst den ersten ernsthaften Anlauf, ein wenig aufzuräumen. Vielleicht war Beschäftigung tatsächlich der sinnvollste Weg, sich abzulenken. An diesem roten Faden orientierte sie sich tapfer den Rest des Tages bis zum späten Abend.
Als sie einen großen Teil erledigt hatten, fühlte Geena sich tatsächlich ein wenig besser. Aber Angst, Zweifel und Nervosität blieben trotz allem.
Im Fernsehen verfolgte sie mit großen Augen die Berichte über das langsame Sterben einer Millionenstadt. Es gab nur noch wenige Sender, die direkt aus dem Zentrum berichteten. Die meisten Reportagen kamen von „draußen“.
Mittlerweile waren sie durch eine hohe Mauer, von der die Stadt lückenlos umschlossen wurde, vom Rest der Welt isoliert worden. Die Armee hatte rundherum Stellung bezogen. Ein breiter Grenzstreifen vor der Mauer galt als Todeszone. Wer dieses Niemandsland zu betreten versuchte, wurde nach einmaliger Warnung getötet. Dass es sich dabei um keine leeren Drohungen handelte, bewiesen die vielen hundert Erschießungen, die es bereits gegeben hatte. Immer wieder gab es Live-Aufnahmen von unglücklichen Flüchtenden zu sehen, die im Kugelhagel der Soldaten ihr Leben lassen mussten, weil sie einfach nicht glauben wollten, dass der Staat zu solch drastischen Mitteln greifen würde. Doch nur so ließ sich eine Ausbreitung der gefährlichen Seuche verhindern. Die Menschen innerhalb der Stadt waren auf sich allein gestellt.
In den Straßen regierte der Tod. Mit ihm waren brutale Gewalt und Anarchie eingekehrt. Die bisher praktizierten Regeln menschlichen Zusammenlebens, die schon unter normalen Umständen nicht besonders gut funktioniert hatten, brachen nun endgültigen zusammen. Plünderungen, Raubüberfälle, Schlägereien, Vergewaltigungen ...
Die letzten unverseuchten Stadtteile hatten sich die Mächtigen und Reichen als Rückzugsgebiete gesichert. Die Privilegierten ließen sich von privaten Armeen und von Resten der Polizei abschirmen. Wie lange würde das noch funktionieren? Wie lange würden die neu entstandenen Grenzen innerhalb der Isolation halten? Von Westen kam man seit einigen Wochen nicht mehr nach Osten, vom Norden nicht mehr nach Süden. U-Bahnstecken und Straßen waren blockiert worden und bildeten auf diese Weise eine neue Struktur. Keiner wusste, was der nächste Tag bringen würde. Ob nicht schon längst der Tod vor der eigenen Tür lauerte.
„Wir bekommen die Sache früher oder später in den Griff“, behauptete Peter, während die Berichte im Fernsehen das Gegenteil bewiesen. „Unsere Forscher arbeiten auf Hochtouren. Wissenschaftler der ganzen Welt versuchen von außen eine Lösung zu finden.“
Die letzten beiden Tage hatte er wie unter einem geheimnisvollen Zwang geackert und geschuftet. Jetzt, da die Wohnung weitgehend eingerichtet war, verlor er schlagartig das Interesse. Es gab für ihn nichts mehr zu tun. Nun musste er seine Arbeitswut wieder in andere Bahnen lenken.
„Heute ist Sonntag“, sagte er und ließ seine Fingergelenke einzeln knacken. Geena hasste es, wenn er das tat. Aber sie schwieg, starrte weiter auf den Fernsehbericht. „Bald kommen die nächsten Familien.“
„Und warum dauert das so lange? Es müssten doch eigentlich schon längst weitere Umsiedlungen stattgefunden haben“, sagte Geena.
„Untersuchungen. Wir haben das alles doch schon hinter uns gebracht. Wir waren die Ersten, erinnerst du dich? Man hat mir das Angebot gemacht, und ich hab’s für uns beide angenommen. Wir waren recht lange in Quarantäne, wie du ja wohl noch weißt. Und dann haben sie uns von Kopf bis Fuß durchgecheckt. Wir sind gesund. Wir haben den verdammten Virus nicht, das steht fest. Die, die uns folgen sollen, müssen die ganze Prozedur ebenfalls durchlaufen. Sonst schleppt noch einer die Seuche hier ein. Nur so funktioniert es.“
„Aber es sollten doch noch viele andere gleichzeitig mit uns hier einziehen!“
Er wirkte ein wenig verunsichert. „Weiß der Teufel, wo die geblieben sind.“
„Meinst du, Stadtteile lassen sich überhaupt dauerhaft schützen und kontrollieren?“
„Wollen wir wieder jammern?“
Sie schwieg.
„Ich habe gestern mit dem provisorischen Hauptsitz meiner Firma telefoniert“, erzählte Peter und federte aus dem Sessel hoch. Tatendrang sprach aus jeder seiner Bewegungen. „Auf mich warten neue Aufgaben. Morgen früh tagt der Krisenstab. Ich werde gebraucht. Es gibt einen Korridor, der geschützt ist. Ich komme auf diese Weise ohne Risiko zum Hauptsitz. Mir kann nichts passieren. Und wenn ich zurückkomme, bringe ich die nächsten gesunden Bewohner mit. Wir werden Nachbarn kriegen. Jeden Tag werden es mehr werden. Du wirst schon sehen!“
Am nächsten Morgen kleidete er sich in einen seiner italienischen Maßanzüge, gewährte Geena einen flüchtigen Abschiedskuss, griff nach seinem Aktenkoffer und verließ das Haus. Fast schien er froh zu sein, aus der Wohnung zu kommen, weg von Geena, weg, weg von ihrer Hoffnungslosigkeit, weg von dem Hier-Gibt-Es-Nichts-Mehr-Zu-Tun.
Sie beobachtete ihn von oben durch das Fenster. Er winkte ihr noch einmal kurz zu. Dann stieg er ins Auto und fuhr davon. Das Brummen des Motors entfernte sich und war irgendwann nicht mehr zu hören.
Mit einem Glas Ginger Ale hockte sich Geena vor ihre Stereoanlage und durchwühlte die umfangreiche CD-Sammlung, die größtenteils Peters oberflächlichen Musikgeschmack widerspiegelte. Eine wahllose Anhäufung lebloser Popmusik. Endlich fand sie das, wonach sie suchte. Jazz. Art Blakey. Live. Eine Aufnahme mit Clifford Brown. Etwas zum Aufputschen. Etwas, das einem den Kopf durchpustete. Eine Kampfansage gegen die niederträchtige Stille.
Sie wählte eine Lautstärke, die das ganze Haus erfüllte. Welcher Nachbar hätte sich beschweren können? Für eine wohltuende Stunde konnte sie vor der Wirklichkeit fliehen. Jazz war nicht einfach nur zum Zuhören. Diese Musik erfüllte, trug und forderte.
Dann aber waren Art Blakey und seine Jungs fertig und der Schlussapplaus ebbte ab und verstummte. Sofort war die unheimliche Stille wieder da. Und so verging die Zeit. Sie hörte Musik. Aß. Saß herum. Starrte schweigend aus dem Fenster. Grübelte. Verfolgte die neuesten Schreckensmeldungen im Fernsehen oder Radio und verlor den Glauben, dass es jemals wieder besser werden würde. Und irgendwie auch die Hoffnung, dass Peter jemals wieder zu ihr zurückkehrte.
Es vergingen ungenutzte Tage. Dann war plötzlich das Telefon tot, das Handy fand kein Netz mehr, Fernsehgerät und Radio schwiegen, Strom und Wasser waren ausgefallen und über den leeren, einsamen Stadtteil beschien die Sonne eine graue Stille. Geena wusste, dass sie etwas tun musste. Aber was? Einfach in der Wohnung zu bleiben, sich mit falschen Hoffnungen zu beruhigen und auf den Tod zu warten, war die schlechteste aller Lösungen. Möglicherweise hatte sich die von Peter so großspurig angekündigte Umsiedlungsaktion anderer gesunder Menschen noch etwas verzögert. Vielleicht hatte diese Tatsache auch Peters schnelle Rückkehr verhindert. Viele „Vielleichts“ und „Wenns“, denen sie auf den Grund gehen sollte. Bevor ...
Geena streifte sich entschlossen ihren Mantel über. Sie hatte sich sparsam mit Mineralwasser gewaschen, die Haare frisiert und sich geschminkt. Vor dem Spiegel kontrollierte sie sich noch einmal ihr perfektes Äußeres. Sie sah phantastisch aus, stilvoll gekleidet, und es gab niemand mehr, dem das etwas bedeutete. Doch endlich war sie bereit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Auf der Straße empfing sie ein kalter Tag, den auch die seltsam kraftlose Sonne nicht wirklich erwärmen konnte. Die Straße war menschenleer. Natürlich. Hatte sie etwas anderes erwartet? Einigen ausgeschlachtete Autowracks standen kreuz und quer herum. Die Häuserfronten wirkten abweisend, fast feindselig. Aufmerksam blickte Geena sich nach allen Seiten um, versuchte sich in dieser für sie völlig fremden Gegend zu orientieren, eine kluge Entscheidung zu treffen, welche Richtung für ihren ersten Erkundungsgang am besten geeignet wäre. Es war mehr Zorn als Mut, der sie antrieb, und statt Interesse an der Erforschung der Situation verspürte sie eher eine perfide, selbstzerrstörerische Lust darauf, all ihre Ängste und Befürchtungen schon möglichst bald auf schlimmste Art und Weise bestätigt zu bekommen. Berge von Leichen. Amok laufende Zombies. Blutrünstiger Wahnsinn. Tod. Die Apokalypse. In der Luft kreisende Hubschrauber, von denen aus die letzten verseuchten Bewohner dieser Stadt durch Scharfschützen ganz gezielt von ihrem Leiden erlöst wurden. Dann das Ende. Reinigendes Feuer.
Jeder Schritt von Geenas Pumps hallte durch die verlassene Straße. Kein Anzeichen von Leben. Kein Mensch. Kein Tier. Kein Auto- oder Fluglärm. Nur das Geräusch des eisigen Windes, der Papier und Unrat über den Asphalt wirbelte.
Aufmerksam ließ Geena ihre Blicke die Häuserfassaden entlang gleiten. Die „weiße Zone“, in die sie Peter gebracht hatte, schien ein reines Wohngebiet gewesen zu sein, und bestimmt nicht das beste der Stadt. In den guten Zeiten war sie niemals hier gewesen. Läden, Geschäfte, Kneipen oder Restaurants schien es kaum gegeben zu haben, und die wenigen, die sie entdeckte, waren restlos geplündert worden. Sie hatte gehofft, wenigstens einen Supermarkt zu finden, um ihr Vorräte aufzufüllen. Das war einer der Hauptgründe für ihre Erkundung gewesen. Wenn es schon kein Leben in dieser Gegend gab, dann wollte sie wenigstens etwas finden, das ihr eigenes Überleben sicherte. Sie wollte das Gefühl haben, Sinnvolles und Wichtiges zu tun. Wollte den Überlebenswillen stärken, sich zum Weitermachen motivieren, irgendwie.
Geena hatte ein kleines Notizbuch bei sich, in dem sie wichtige Anmerkungen zur fremden Umgebung festhielt, verbunden mit kleinen Skizzen, Beschreibungen und Straßennamen. Unterwegs begegnete sie natürlich keiner Menschenseele und sie fragte sich, ob überhaupt noch andere Anwohner das Privileg bekommen würden, hier, in dieser als unverseucht ausgewiesenen Zone der Stadt einen neuen, ungewissen Anfang starten zu dürfen. Peter war davon bis zuletzt überzeugt gewesen, aber die Nachrichten aus Rundfunk und Fernsehen, die sie noch gehört hatte, bevor der Kontakt endgültig abbrach, hatten alles andere als zuversichtlich geklungen. Die Verseuchung, so hieß es, hätte längst unkontrollierbare Ausmaße angenommen. Es gab keine organisierte Behörde mehr, die irgendetwas leiten oder lenken konnte. Und angeblich hatte das Sterben nun auch schon auf der anderen Seite der Mauer begonnen. Anscheinend gab es kein Entkommen.
Trotz der Sonne wirkten die Straßen so grau, wie die Häuser, die Häuser so grau wie der Himmel, der Himmel so grau wie Geenas Gedanken. Alles war ruhig wie in einer großen Grabkammer. Niemals zuvor hatte sich Geena in ihrem Leben derart einsam gefühlt, wie in diesem Augenblick. Wäre jetzt ein Hubschrauber am Himmel erschienen, mit geöffneter Seitentür, aus der sie ein Scharfschütze anvisierte, dann hätte sie sich demütig niedergekniet und dankbar den Schuss als beste Lösung für ihre aussichtlose Situation angenommen. Unvorstellbar, dass hier, in diesen Straßen, noch vor wenigen Wochen dicht an dicht Autos gefahren waren, laut, hupend, brummend und knatternd, mit Menschen an ihren Steuern, fluchenden Männern, schimpfenden Frauen, mit Passanten, die auf beiden Straßenseiten hin- und hereilten, geschäftig, hastig, rücksichtslos, egoistisch und betriebsam. Verliebte, Verlassene, Verträumte, Verzweifelte, Verrückte, Vereinsamte...
Nichts vom einstigen Leben schien bleibende Spuren in den Straßen hinterlassen zu haben. Und mit jeder Ecke, die Geena erreichte, um dann vor der nächsten, leeren Straße zu stehen, starb ein Fünkchen Hoffnung. Längst sehnte sie sich nach all dem, was sie früher gestört hatte. Verkehrslärm, Hektik, drängelnde, stoßende Menschleiber, Rushhour, verstopfte Kaufhäuser, überfüllte Restaurants, volle Supermärkte, rücksichtslose Taxifahrer, kreischende Bremsen, Sirenen von Kranken- und Polizeiwagen, die nervenaufreibende Normalität einer typischen Großstadt. Jetzt, da sie nur vom Klang der eigenen Schritte begleitete wurde, wäre ihr selbst das Bellen eines Hundes wie eine Erlösung vorgekommen – obwohl sie Hunde eigentlich noch nie gemocht hatte.
Nur noch bis zur nächsten Ecke, sagte sie sich. Als die dann erreicht war, wandte sie sich nach rechts … ein freudiger Schreck durchfuhr sie, als sie plötzlich auf der anderen Straßenseite einen Spielplatz entdeckte. Sandkisten. Schaukeln. Klettergerüste. Wippen. Und spielende Kinder! Kleine Menschen. Lebewesen. Hoffnung!
Von unbändiger Freude angetrieben überquerte Geena hastig die Straße, rannte schnell und immer schneller, lachte vor Freude, während ihr Tränen über die Wangen liefen, erreichte glücklich den Spielplatz, breitete die Arme aus und fiel euphorisch auf die Knie. Die Kinder starrten sie an. Reglos. Kalt. Ohne Gefühl. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, auf welch irrsinnige Szenerie sie hier herein gefallen war, und als es ihr langsam klar wurde, verwandelte sich die Freude in Resignation. In diesem Augenblick wurde sie von hinten an der Schulter gepackt. Sie zuckte erschrocken zusammen, sprang auf, wirbelte herum und taumelte mit unsicheren Schritten rückwärts. Direkt vor ihr stand ein alter Mann und starrte sie aus rötlich geränderten, flackernden Augen argwöhnisch an. Er wirkte schmutzig und ungepflegt und seine Haut gelb und faltig. Schritt für Schritt wich sie vor ihm zurück. Er machte keine Anstalten, ihr zu folgen oder sie zu bedrohen.
„Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?“, fragte er. „So ’ne piekfeine Lady wie Sie?“
Sie blieb stehen und atmete einige Male tief durch. Mühsam zwang sie ihr wild klopfendes Herz zur Ruhe.
„Ich bin spazieren gegangen. Ich habe jemanden gesucht. Irgendjemanden. Und dann sah ich die Kinder. Nun, ich dachte jedenfalls im ersten Moment ... ich meine, es sah von Weitem alles so echt aus. Verstehen Sie?“
Der alte Mann rieb sich den grauen Bart. „Sind doch nur blöde Schaufensterpuppen.“ Er betrachte die starren überall auf dem Spielplatz verteilten Puppen. „Nichts weiter. Stehen hier so rum. Irgendwer hat das gemacht. Ist schon länger her.“
„Aber warum? Wozu soll das gut sein?
„Wozu das gut sein soll?“ Der Alte lachte. „Fragen Sie mich das doch nicht! Wozu soll überhaupt noch was gut sein? Bis vor kurzem waren hier wenigstens noch ein paar Menschen. Nach und nach sind die aber alle verschwunden. Seit einiger Zeit bin ich allein. Und nun treffe ich plötzlich Sie. Was wollen Sie hier?“
„Ich wohne ganz in der Nähe.“
„Hier haben niemals Leute wie Sie gewohnt.“
„Es gibt hier keine anderen Menschen außer Ihnen mehr?“, fragte Geena erschüttert.
Er zuckte mir den Achseln. „Ich habe jedenfalls schon lange keine mehr gesehen.“
„Aber die Gegend hier gilt als sicher und unverseucht.“
Der Alte lachte spöttisch. „Ach ja? Und warum sind alle weg? Wo sind die denn hin? Dave, Carl, Annie, Ted, Dana und Tom? Erst waren wir hier alle noch zusammen. Und nun?“
„Könnten sie vielleicht woanders hingegangen sein?“
„Wir hatten uns geschworen, zusammen zu bleiben. Nur für die Suche nach Essen haben wir uns immer aufgeteilt. Und nach und nach kam keiner mehr zurück. Annie und ich waren die letzten. Annie verschwand dann aber auch. Ich habe sie gesucht. Ich habe alle gesucht. Aber niemanden mehr gefunden. Und nun weiß ich nicht mehr weiter. Ich setze mich jeden Tag eine Weile auf den Spielplatz und schaue den ... Kindern ... zu. Diesen blöden Puppen. Rede mir ein, alles wäre noch in Ordnung. Was soll ich sonst machen?“
„Gibt es noch Supermärkte oder andere Geschäfte in der Nähe?“
Er zuckte mit den Achseln und starrte vor sich hin.
„Wovon ernähren Sie sich denn?“
Wieder zuckte er nur mit den Schultern.
„Es hat alles keinen Sinn mehr“, murmelte er.
Er ging langsam davon und bog um die nächste Ecke.
„Warten Sie doch“, rief Geena im hinterher. „Bitte!“
Es dauerte eine Weile, bis sie nach all der Verwirrung den Entschluss fasste, ihm zu folgen, doch als sie um die Ecke bog, war er verschwunden. Sie rannte die einsame Straße entlang, rief nach ihm, weinte und bettelte darum, dass er zurückkäme. Der erneuten Einsamkeit, in der er sie zurückließ, war nicht mehr zu ertragen. Aber der alte Kauz blieb verschwunden.
Sie fand die Wohnung anhand ihrer Aufzeichnungen ohne große Mühe wieder. Es wurde schon langsam dunkel, als sie sich auf das Bett warf und - von schweren Weinkrämpfen geschüttelt - ans Aufgeben dachte. Aber die Tränen reinigten ihre Gedanken, und eine trotzige Zuversicht machte sich in ihr breit. Noch hatte sie einige Nahrungsmittel und genügend Wasserflaschen, um einige Zeit durchzuhalten. Der Strom funktionierte immer noch nicht. Sie konnte nach wie vor nicht mehr telefonieren, nicht fernsehen, Radio- oder Musik hören und auch nicht heizen. Sie hätte sich gern gewaschen, aber das Wasser war einfach zu kostbar, um es noch einmal auf diese Weise zu vergeuden. Sie aß ein wenig, zog dann mehrere Kleidungsstücke übereinander und verkroch sich ins Bett – um erneut zu weinen und irgendwann einzuschlafen.
Waren Stunden vergangen? Tage? Oder gar schon Wochen? Der lethargische Dämmerzustand, in den sich Geena geflüchtet hatte, schien ihr Zeitempfinden zerstört zu haben. Ein fauliger, beißender Gestank erfüllte die Räume ihrer Wohnung. Durch den anhaltenden Stromausfall waren viele Vorräte im Eisschrank verdorben. Voller Ekel hatte Geena das Meiste davon einfach aus dem Fenster auf die Straße geworfen, und damit doch neues Leben angelockt. Ratten und Ungeziefer hatten sich über die verdorbenen Nahrungsmittel hergemacht. Einmal war sogar ein dreibeiniger Hund erschienen, doch die Ratten hatten ihn angegriffen und vertrieben.
Um nicht zu erfrieren, hatte Geena den Kamin in der Wohnung in Betrieb genommen. Sie verheizte seit einigen Tagen Möbel, Bücher, Zeitschriften und Aktenordner von Peter. Mit gleichgültigem Blick beobachtete sie, wie die Gegenstände, die einst so wichtig erschienen, nach und nach in der Kaminglut verschwanden.
Sie hatte noch einige Male die Wohnung verlassen und in verschiedene Richtungen kleine Erkundungen unternommen. Dabei war sie aber auf nichts Nennenswertes gestoßen. Auch der alte Mann war ihr nie wieder begegnet. Einmal hatte sie sogar längere Zeit auf dem Spielplatz mit den Schaufensterpuppen gewartet, in der Hoffnung, er käme wieder an den Ort zurück, so, wie er es erzählt hatte. Aber er ließ sich dort nicht mehr blicken. Versuche, andere Häuser zu erforschen, hatte sie schnell aufgegeben. In den meisten Gebäuden hatten Ratten und Kakerlaken die Herrschaft übernommen. Geena hatte in einem Treppenhaus bei fehlendem Licht knöcheltief in Ungeziefer gestanden und war schreiend aus dem Haus gelaufen, als ihr das klar wurde. In dem Gebäude, in dem sie ihre Wohnung hatte, gab es zunehmend die Anzeichen, dass die ekelhaften Tiere auch hier das Kommando übernommen hatten.
Geena wurde zunehmend kraftloser. Schleichend verlor sie ihr Urteilsvermögen und die Fähigkeit, klare Entscheidungen zu treffen. Sie ernährte sich aus den letzten Konserven, grübelte oft vor sich hin oder stand stundenlang am Fenster, um auf die Straße hinunter zu starren, ohne wirklich etwas zu erwarten oder mit Änderungen zu rechnen. Die Erinnerungen an das Leben in dieser Stadt wurden immer schwächer. An die Zivilisation, die Menschen. An ihr eigenes Leben. An das Leben mit Peter und ihren Freunden. An Lachen und Spaß. An den Beruf, den Alltag, Kino-, Theater-, Konzert- und Museumsbesuche. An gemütliche Abende in Restaurants und Bars. Nichts davon war mehr von Bedeutung. Ihre Gedanken kreisten um Konservendosen, Mineralwasser, das immer knapper wurde, ihren eigenen Körpergeruch, der ihr beißend in der Nase lag, um das Feuer im Kamin, um den nächtlichen Schlaf voller Alpträume und das tägliche Dahindämmern, das zu einem gefährlichen Vertrauten wurde.
Ihre Existenz hatte sich auf mechanisches Durchhalten reduziert. Ab und zu huschten in klareren Momenten Zweifel durch ihre immer beengter werdende Gedankenwelt, Fragen nach dem Sinn dieses Lebens, nach dem Sinn des Überlebens. Warum? Für was? Lohnte er sich denn überhaupt noch, der Kampf gegen das allmähliche Sterben? Sollte sie sich nicht lieber dieser wohligen, entspannenden Müdigkeit hingeben, die sich in ihrem Körper zunehmend breit machen wollte? Sie ahnte, dass ihr Geist ohnehin nicht mehr allzu lang Gegenwehr leisten konnte. Die Schwere in ihren Gliedern war so verlockend und behaglich. Der Verstand verlor die Lust daran, den Körper immer und immer wieder zur Disziplin zu zwingen. Aufstehen. Laufen. Essen. Denken. Hoffen. Beten. Und all das Absurde aus dieser gespielten Alltäglichkeit zu verbannen. Nein, es hatte wirklich keinen Sinn mehr, die Spielregeln dieses alten, unwichtig gewordenen Leben weiterhin aufrecht zu erhalten. Ganz plötzlich wurde ihr klar, dass ALLES seine Bedeutung verloren hatte.
Mit der letzten Kraft, zog sie sich aus und legte sich nackt auf das Bett. Die Dunkelheit sollte ihr neues Gewand werden, und sie war bereit für die unvermeidliche Vereinigung. Sie vernahm das aufgeregte Krabbeln, das suchende Scharren um sich herum. Sie schienen mittlerweile überall in der Wohnung zu sein. Die anfängliche Orientierungslosigkeit verlor sich schnell. Geena spürte mit ihren letzten klareren Gedanken, dass sie selbst, nackt auf dem Bett liegend und entspannt wie lange nicht mehr, zum begehrten Zentrum der Suche wurde und Interesse weckte. Begierde. Neugier. Leben, das sich mit anderem Leben vereinigen wollte. Und aus der Jagd wurde zielstrebige Eroberung. Geena spreizte die Beine und öffnete den Mund als sie spürte, nach welcher Nähe sie suchten und ließ sich willig erobern. Ihr ganzer Körper geriet in eine Art ekstatischen Aufruhr, bei dem, was die kleinen Invasoren mit ihr machten. Sie schienen jeden Zentimeter ihrer Haut zu kosen und nutzen jede Möglichkeit, in sie zu dringen. Dabei wirkten sie alles andere als planlos oder unwissend. Was auch immer geschehen sein mochte, den Menschen hatte es auf jeden Fall geschadet, aber andere Lebensformen schienen sich dadurch weiterentwickelt zu haben. Erste kleine Bilder erschienen in Geenas Kopf und verdrängten die übliche Form des Sehens, des Erkennens und des Bewertens. Kleine Mosaike. Bunte Punkte. Bildfetzen. Fragmente. Gedanken verschwanden. Emotionen lösten sich auf. Ein seltsames Summen ersetzte alles. Die Kommunikation war noch fremd, es war so, als würde sie sich in der Dunkelheit auf ein Licht zu bewegen. Geena lächelte, spürte in ihren Mundwinkeln die kleinen Fühler, die aufgeregt jede Veränderung registrierten und weitergaben. Es funktionierte alles fast so gut wie vorher. Nur in der Kommandozentrale saß plötzlich jemand anderes.