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tatenlos
Achtzehn Uhr dreißig. Beginn der Dämmerung. Ein kleiner Wartesaal eines kleinen Bahnhofs in der Provinz. Wenige Personen.
Ein junges Mädchen, ca. zwanzig. Brille, dunkle Pudelmütze, dicker Strick-Pullover, Jeans. Ein offenes Taschenbuch in einer Hand, in der zweiten eine Zigarette. Der Blick aufs Buch gedankenverloren, oder konzentriert vielleicht.
Vier Plätze entfernt eine alte Frau mit je zwei Plastiktüten auf jeder Seite. Die zittrigen Hände fest an den Griffen der Tüten. Handschuhe ohne Fingerspitzen. Ein dicker Lodenmantel, darüber ein Haarnetz auf langen, grauen Haaren, alte, zerschlissene Schuhe und ein angstvoller Blick.
Grund: Drei junge Männer, in vielleicht fünf Meter Entfernung, mit großer Selbstsicherheit und gegenseitigem Imponiergehabe. Zwei mit Lederjacken, der dritte im Hemd, ohne Kälteempfinden. Kampfimitation durch Karateschläge auf Bänke und gegen den Holzkasten mit den An- und Abfahrtszeiten. Plötzliches Scherbenklirren mit anschließendem lauten Gelächter. Freude an der Zerstörung. Ein weiterer Schlag, noch mehr Scherben, mehr Belustigung, noch mehr weibliche Angst.
Zuggeräusche. Ein schriller Schmerz im Ohr. Vier Tüten und ein Buch, mit zögerlichem Schritt vorbei an den drei jungen Männern. Vergebens. Lärmend fröhliche Kontaktaufnahme gegen ängstliche Hilflosigkeit. Ignoranz der Mächtigen. Besitzerwechsel der Tüten und resignierende Auflehnung einer alten Frau.
Eine Minute später: Vier Tüten ordentlich in Reihe neben einem Sitzplatz im Zug. Darauf die alte Frau mit erstauntem, dankbaren Blick. Auch bei dem jungen Mädchen ein erstaunter Gesichtsausdruck ob der zuvorkommenden, ehrfurchtsvollen Behandlung.
Achtzehn Uhr vierzig. Starke Dämmerung. Ein kleiner Wartesaal eines kleinen Bahnhofs in der Provinz. Keine Personen. Ein verstreuter Scherbenhaufen. Draußen ein leeres Gleis. In der Ferne das schwindende Geräusch dreier Mopeds.