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tatenlos

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25.05.2002
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tatenlos

Achtzehn Uhr dreißig. Beginn der Dämmerung. Ein kleiner Wartesaal eines kleinen Bahnhofs in der Provinz. Wenige Personen.

Ein junges Mädchen, ca. zwanzig. Brille, dunkle Pudelmütze, dicker Strick-Pullover, Jeans. Ein offenes Taschenbuch in einer Hand, in der zweiten eine Zigarette. Der Blick aufs Buch gedankenverloren, oder konzentriert vielleicht.

Vier Plätze entfernt eine alte Frau mit je zwei Plastiktüten auf jeder Seite. Die zittrigen Hände fest an den Griffen der Tüten. Handschuhe ohne Fingerspitzen. Ein dicker Lodenmantel, darüber ein Haarnetz auf langen, grauen Haaren, alte, zerschlissene Schuhe und ein angstvoller Blick.

Grund: Drei junge Männer, in vielleicht fünf Meter Entfernung, mit großer Selbstsicherheit und gegenseitigem Imponiergehabe. Zwei mit Lederjacken, der dritte im Hemd, ohne Kälteempfinden. Kampfimitation durch Karateschläge auf Bänke und gegen den Holzkasten mit den An- und Abfahrtszeiten. Plötzliches Scherbenklirren mit anschließendem lauten Gelächter. Freude an der Zerstörung. Ein weiterer Schlag, noch mehr Scherben, mehr Belustigung, noch mehr weibliche Angst.

Zuggeräusche. Ein schriller Schmerz im Ohr. Vier Tüten und ein Buch, mit zögerlichem Schritt vorbei an den drei jungen Männern. Vergebens. Lärmend fröhliche Kontaktaufnahme gegen ängstliche Hilflosigkeit. Ignoranz der Mächtigen. Besitzerwechsel der Tüten und resignierende Auflehnung einer alten Frau.

Eine Minute später: Vier Tüten ordentlich in Reihe neben einem Sitzplatz im Zug. Darauf die alte Frau mit erstauntem, dankbaren Blick. Auch bei dem jungen Mädchen ein erstaunter Gesichtsausdruck ob der zuvorkommenden, ehrfurchtsvollen Behandlung.

Achtzehn Uhr vierzig. Starke Dämmerung. Ein kleiner Wartesaal eines kleinen Bahnhofs in der Provinz. Keine Personen. Ein verstreuter Scherbenhaufen. Draußen ein leeres Gleis. In der Ferne das schwindende Geräusch dreier Mopeds.

 

Hallo bigmica!

Gefällt mir ganz gut, deine Geschichte. Ist aus einer interessanten beobachtenden Sichtweise heraus geschrieben ohne dass Gedanken o. ä. der vorkommenden Personen auftauchen. (Ob letzteres nun positiv oder negativ ist, lass ich mal dahingestellt.)
Die Tüten hat das Mädchen in den Zug getragen, oder? Deiner Ausdrucksweise nach an dieser Stelle bin ich mir nicht ganz sicher, aber ich denke schon; sonst macht die Story glaube ich wenig Sinn.
Jedenfalls finde ich es gut, wie du die unterschiedlichen Verhaltensweisen deiner Personen in diesem Text dargestellt hast.

Viele Grüße,
Michael :)

 

hey Michael,

danke für deine meinung, die, glaube ich, anders als du es aufgefasst hast, positiv für mein experiment spricht.
das experiment selbst ist n bissl an dir vorbeigegangen, was mir aber fast schon wieder gefällt. :)
möchte im moment nicht mehr dazu sagen, lieber noch andere kommentare abwarten. dir aber in jedem falle vielen dank.
cu bigmica

 

das experiment selbst ist n bissl an dir vorbeigegangen
Oh, das überrascht mich jetzt aber. Hab' den Text nochmal durchgelesen; konnte trotzdem nichts Experimentelles mehr finden.
Na, jedenfalls bin ich mal gespannt, bis du die Auflösung bringst.

Grüße - Michael :)

 

Ich weiß es! Ich weiß es!

Der gute bigmica hat... nein, ich möchte hier nicht vorweggreifen, das soll er selber zu gegebener Zeit aufklären, aber die Überschrift gibt einen recht guten Hinweis.

Ich finde dieses Experiment ist wirklich gelungen, sowohl von der Idee, als auch von der Ausführung her.
Aber ein paarmal hast du es nicht ganz durchgehalten (vorrausgesetzt, ich habe überhaupt recht mit meiner Vermutung, ansonsten nehme ich das zurück ;) ).

 

@ bigmica:
Hm... du hast die Umgebung und die auftauchenden Personen beschrieben, aber nicht, dass sie irgendetwas getan haben.
"Tatenlos" eben.

Liege ich damit richtig oder übersehe ich da noch was?

Falls ich Recht hab', verstehe ich zumindest, was gnoebel mit "nicht ganz durchgehalten" meint.
(Ich denke da z. B. an die Stelle, in der die alte Frau die Tüte in der Hand hält.)

 

Hallo bigmica!

Ist Dein Experiment das, daß man vor lauter Vorurteilen nicht sieht, daß die jungen Männer, oder wenigstens einer von ihnen, der Frau die Sackerl (=Tüten) abgenommen hat und sie ihr in den Waggon gestellt hat? Und das, ohne selbst in dem Zug mitzufahren?

Was bzw. wer aber war dann tatenlos? Du meinst das Mädchen, richtig? Oder bezieht sich tatenlos auf die befürchtete schlimme Tat der jungen Männer?

Alles liebe
Susi

 

Ach einer der jungen Männer hat der Frau die Tüte in den Zug getragen, nicht das Mädchen??? :confused:
Könnte Sinn machen.

Langsam bin ich aber wirklich etwas verwirrt... muss den Text nochmal in Ruhe durchlesen.

 

hey gnoebel, michael

denke, du/ihr hast/habt es erkannt.

Aber ein paarmal hast du es nicht ganz durchgehalten
einmal, diese stelle hat dann michael explizit genannt, habe ich versagt :( aber hab es inzwischen korrigiert. aber wo noch?
hab mir echt einen abgebrochen, ist wirklich schwer auf die art eine halbwegs sinnvolle geschichte zu schreiben. aber ich denke, es kommt ein seltsamer und distanzierter stil dabei raus, bei dem das fehlen garnicht so deutlich wie von mir erwartet auffällt

hey susi

erstmal auch dir danke dafür, dass du dich mit meiner geschichte beschäftigst. dass einer der jungen männer der alten frau geholfen hat, wollte ich eigentlich nicht als geheimnisvoll darstellen, dachte es sei deutlich genug.
das tatenlos ist in mehrerlei art interpretierbar. zum einen in die richtung, wie du es siehst, zum anderen aber auch wie gnoebel es verstanden hat (das ist auch mein eigentliches experiment).
cu bigmica

 

Nein, der Witz ist, das niemand irgendwas tut. Es wird nur beschrieben, wie die Frau erst am Bahnstieg sitzt und danach neben ihren Taschen in ihrem Abteil. Niemand trägt irgendwas.

Jetzt sag ichs... in dem Text fehlen, bis auf einige Ausnahmen, die Verben.
Ich glaube, drei oder vier mal hat er noch welche drinnen, aber ansonsten fehlen sie.

 

Jetzt haben wir durcheinander gepostet und ich steh doof da... na gut, wo es mMn noch hakt und meine Tips dazu:

Der Blick gedankenverloren, oder konzentriert vielleicht, im Buch versunken.
Einfach das versunken streichen

zerschlissene Schuhe und ein angstvoll gesenkter Blick.
ein angstvoller Blick

 

dennoch - die geschichte ist nicht vollständig tatenlos.
einige partitipien deuten noch ansatzweise handlungen an:

etwa
[...]die Kälte ignorierend.

hier wird das partizip auf eine person bezogen, somit entsteht für einen moment der anschein einer handlung, in den restlichen zwei fällen beziehen sich die partizipien auf abstraktere begriffe, dort haben sie mehr adjektiv-charakter:

resignierende auflehnung
schwindende geräusche

vielleicht kannst du das mit der kälte noch etwas korrigieren, ansonsten hätt ich keine ungereimtheiten (auf den titel "tatenlos" bezogen) gefunden

 

@gnoebel

die :) gute bigmica dankt dir für die tipps, habs schon korrigiert.

@linjus

das "ignorierend" ist fort. das resignierend und schwindend sehe ich als adjektiv. danke dir für dein aufmerksames lesen und kommentieren. ich erkenne in dir einen grammatikkenner, hätte es so nicht sagen könne, aber ich gebe dir recht :D
cu bigmica

 
Zuletzt bearbeitet:

Was doch auffällt ist das Fehlen von Verben. Das ist in meinen Augen das Experiment. :thumbsup:

Gelungen, inhaltlich und formal. Kühler Zeitungsstil.

editiert, weil: Gnoebel hat das Experiment schon erkannt, habe ich gerade gesehen.

 

hey Leif, (lustig, kann man auch "hailaif" aussprechen)

freut mich, dass es dir gefällt. das experiment hast du völlig richtig erkannt. ist also doch recht deutlich :( hatte ich aber eigentlich nicht anders erwartet.

meinst du wirklich, dass durch das weglassen von verben ein zeitungsstil entsteht? werde morgen mal bewußt auf die texte in einer zeitung schauen.
danke für deinen kommentar.
cu bigmica

 

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