- Anmerkungen zum Text
Dieser Text basiert auf einer wahren Begebenheit und spielt in der Schweiz.
Taubenblut
Donnerstagnachmittag, 16.4.2020. Ein junges Paar sitzt auf dem grauen Sofa im Wohnzimmer. Um sie herum hängen Bilder aus vergangenen Tagen, ein Poster mit London-Motiv und ein Bild eines lokalen Künstlers. Eine etwas zusammengewürfelte Sammlung. Sie lauschen der Medienkonferenz des Bundesrates zur Corona-Krise.
Es wird über die nächsten Schritte gesprochen. Es wird drei Phasen geben. Die erste Phase ab dem 27. April, sie bringt gewisse Lockerungen mit sich. Garten- und Coiffure-Geschäfte dürfen wieder öffnen. Der Rest bleibt zu. Die Schulen werden schon bald geöffnet, nämlich in der zweiten Phase. Diese beginnt ab dem 11. Mai. Dann werden auch alle Geschäfte öffnen dürfen. So weit, so gut. Restaurants, Kinos, Museen dürfen darauf hoffen, dass sie ab dem 8. Juni wieder öffnen dürfen.
Eine ausserordentliche Lage nennt man das. Das Paar bespricht das Gehörte, lacht und nascht ein wenig vom selbst-gemachten Tiramisu. Es ist ein normaler Tag in dieser ausserordentlichen Zeit.
Dann – PÄNG!
Die monotone Stimmung ist vorbei. „Was war das?“, fragt sie. „Wahrscheinlich ein Vogel“, meint er.
Der Vogel – beim näheren Betrachten – ist eine Taube. Da liegt sie nun. Die Taube. Sie ist in das Küchenfenster gedonnert. Sie lebt noch. Sie hechelt. Ansonsten bewegt sie sich nicht. Blutspritzer sind zu sehen. Aber keine offene Wunde.
Sie holt eine Kiste aus dem Keller. Eine Umzugskiste, die schon viele Umzüge mitgemacht hat. Jetzt steht wieder einer an.
Er legt die Taube in die Kiste. Ein Geschirr mit Wasser wird zur Taube gestellt, falls sie durstig wird. Küchentücher werden darüber mit Aufhängeklammern befestigt. So hat es die Taube schön dunkel.
Sie ruft beim Tierarzt an. Sie solle besser bei der Stadtpolizei anrufen. Die haben Taubenbeauftragte, heisst es.
Er ruft bei der Polizei an. Die Polizei schickt jemanden vorbei.
Eine halbe Stunde später: Die Taube lebt noch. Sie scheint nicht mehr ganz so munter. Sie hat den Kopf auf die Wasserschale gelegt.
Die Polizisten kommen und holen das Tier ab. „Dürfen wir es so mitnehmen?“, fragen sie. „Kein Problem“, meint das Paar.
Sie nehmen die Taube mit. Nur etwas bleibt: Taubenblut.