Was ist neu

Terror-TV

Mitglied
Beitritt
26.11.2001
Beiträge
5

Terror-TV

Wie jeden Tag zur selben Zeit kehrte Armin in seine Junggesellenbude zurück. Armin Kurowski, Single aus Überzeugung, war ein zufriedener Mensch. Jedenfalls redete er sich das ein. Seine Ansprüche lagen eigentlich schon immer auf einem konstant niedrigen Niveau.

Nach der Schule absolvierte er mit mäßigem Erfolg eine Lehre als KFZ- Mechaniker weil er wie jeder normale Mann eine Vorliebe für Kraftfahrzeuge hatte. Bereits während seiner Ausbildung bezog er eine geräumige 2-Zimmer-Wohnung in einem Berliner Neubaugebiet. Die Miete war für sein Einkommen gerade noch akzeptabel und auf seiner Etage war er der einzige Bewohner. Ein klarer Vorteil wenn man nachts ohne Vorwarnung den Lautstärkeregler der Stereoanlage bis zum Anschlag dreht.

Seine Freizeit verbrachte Armin größtenteils vor seinem Fernseher. Das Gerät war noch dazu, im Gegensatz zu Waschmaschine, Stereoanlage und Geschirrspüler ein absolut hochwertiges High-Tech-Produkt von Sony. Er hatte Wochen gebraucht, um alle Funktionen wenigstens einmal auszuprobieren. Natürlich nutzte er letztendlich nur die Grundfunktionen. Die Reihenfolge der einzelnen Sender war dabei genau auf seinen individuellen Geschmack abgestimmt. Er konnte sich nur nicht entscheiden ob VIVA vor MTV kommen sollte oder umgekehrt. Im Augenblick war VIVA sein Favorit aber das Blatt konnte sich auch urplötzlich wenden. Ein klein wenig Spannung, für seine Verhältnisse gerade noch erträglich.

Auch heute schien nichts Unerwartetes zu passieren.

Armins Standpunkt war eindeutig.
Wozu Abenteuer erleben, wenn die Vielfalt des Fernsehprogramms ihm schon genug Abenteuer, Abwechslung und Spannung bot. Seine Lebensplanung orientierte sich folglich an einer Programmzeitschrift mit dem Namen TV Perfekt, die monatlich erschien und im Abo 10 Euro weniger kostete. Das Wort Karriere existierte in seinem Wortschatz nicht. Armins Ansprüche waren, wie gesagt nicht gerade hoch.

Nachdem er, routiniert wie jeden Tag die Tasche mit seinen Arbeitsklamotten in der nächstbesten Ecke verstaut und das Six-Pack im Kühlschrank um eine Dose Paulaner erleichtert hatte, griff er sich die abgenutzte Fernbedienung und schaltete das TV-Gerät ein. Im selben Moment versetzte sich sein Gehirn in den Standby-Modus, bereit für Stunden sinnentleerter Unterhaltung. Ein positives Gefühl ergriff von ihm Besitz. Genau einordnen konnte er das Gefühl zwar nicht, nicht mehr, aber was spielte das schon für eine Rolle. Der Bildschirm erwachte zum Leben.

Ein Werbespot von Ferrero lief auf Pro Sieben. Mehrere Kinder versuchten einen Busfahrer davon zu überzeugen, dass Kinder-Schokobons für die Innenausstattung des Busses keine Gefahr darstellten. Armin fand Ferrero-Werbung ziemlich bescheuert. Konsequent nahm er die Fernbedienung (die er öfter in die Hand nahm als seinen eigenen Schwanz) und begann ziellos durch die Kanäle zu schalten.

Das Fernsehprogramm offenbarte keinerlei Überraschungen.
Im Zweiten beruhigte Pfarrer Fliege eine blinden Frau, die an Kehlkopfkrebs erkrankt war. Auf RTL stritten sich zwei türkische Jugendliche mit Argumenten wie "Komm her wenn du was willst". Auf Phönix stellte Kanzler Schröder die Vertrauensfrage. Bei VIVA moderierte eine kompetente Hauptschulabsolventin die Sendung Interaktiv. MTV konterte mit den Europe Top 20 und auf SAT 1 verhandelte Richterin Barbara Salesch über Handyschulden von Teenagern.

Nichts davon interessierte ihn wirklich. Es spielte auch keine Rolle.

Was für ihn zählte, war Illusion. Die Illusion, an etwas Einzigartigem teilzunehmen, die Illusion von Gemeinschaft. Prominente im Fernsehen waren für Armin mehr als nur oberflächliche Stereotypen mit weiß gebleichten Zähnen. Er glaubte allen Ernstes, Andreas Türk wäre mit ihm auf derselben Wellenlänge, nur weil dieser seine Gäste mit derselben Verachtung vorführte wie er es gelegentlich mit seinen Arbeitskollegen tat.

Armin hatte in der wahren Welt kaum Freunde. Genaugenommen hatte er überhaupt keine Freunde, nur Bekannte. Ohne TV wäre er zweifelsohne depressiv geworden. Die Glotze war nur ein Alibi, um nicht über das eigene stupide Leben nachdenken zu müssen.

Er trank einen Schluck Bier und rülpste zufrieden.

Ein leichter Nebel hatte sich bereits über seine Wahrnehmung gelegt als plötzlich ein ohrenbetäubender Knall die Wände um ihn herum zum Erbeben brachte. Er erschrak sich dermaßen, dass sich seine rechte Hand zusammenkrampfte und der Bierdose darin eine neue Form verpasste. Schäumender Gerstensaft sprudelte zischend aus der runden Öffnung und ergoss sich auf seine Hose.

Armin war wie paralysiert. Im Augenblick der Erschütterung hatte er zum ersten Mal in seinem Leben echte Angst erlebt. Sein Gehirn, welches seit einer Ewigkeit in einer Art Dämmerzustand dahinvegetierte, schüttete sofort Adrenalin in rauen Mengen aus. Er war jetzt hellwach, trotz erhöhtem Blutalkohol. Sein Herz schlug Purzelbäume in seiner Brust. Was war passiert?

Dem Geräusch nach war etwas von beträchtlicher Größe explodiert. Armin stürzte zum Fenster, öffnete es hastig und sah hinaus auf die Straße. Für einen kurzen Moment war er verwirrt, ein räumliches Abbild der Wirklichkeit zu sehen. Das erste was ihm auffiel waren die unzähligen Menschen, die wie in einem Portrait aus ihren Fenstern spähten und genau wie er wissen wollten, was draußen los war.

Die Straße unter ihm bot ein furchtbares Bild. Ein Schulbus war allem Anschein nach in die Häuserfront auf der gegenüberliegenden Straßenseite gerast und sofort explodiert. Das Wrack hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Bierdose, mit dem Unterschied dass meterhohe Flammen aus dem Inneren des Busses in den wolkenlos-blauen Himmel loderten. Auf dem Asphalt waren deutliche Bremsspuren auszumachen. Das wirklich Grausige waren jedoch die Leichen der Schulkinder. Drei von ihnen hatte die Detonation zusammen mit den Fensterscheiben hinausgeschleudert. Ihre kleinen Körper lagen mit grotesk verdrehten Gliedmaßen regungslos mitten auf der Straße. Die Leiche des Busfahrers hing aus der geplatzten Windschutzscheibe und war mit Glassplittern gespickt. Im Bus selbst waren sich bewegende Schatten auszumachen, die mit erstickenden Stimmchen um Hilfe riefen.

Von Armins Position im vierten Stock war die Situation nur leicht verschwommen zu erkennen. Er brauchte eine Brille, keine Frage aber das wollte er sich auch jetzt nicht eingestehen. Seine wiedergefundene Geistesgegenwart ließ ihn sofort an das alte Fernglas denken, das ihm sein Großvater vermacht hatte. Mit bewundernswerter Zielstrebigkeit suchte er danach und fand es auch in Rekordtempo.

Jetzt war er wirklich live dabei.

Die Zoomfunktion war für ein derart antikes Fernglas erstaunlich gut. Er konnte sogar die Sommersprossen im Gesicht des Jungen erkennen, der ihn mit weit aufgerissenen Augen anzustarren schien. Etwa zehn Meter von dem Jungen entfernt, lag sein abgetrennter rechter Arm, aus dem noch immer Blut spritzte. Mittlerweile waren die Hilfeschreie aus dem Innenraum des Busses verstummt. Der süßliche Geruch von verbranntem Fleisch stieg Armin in die Nase.

Seit einer Ewigkeit war er neidisch auf seine Bekannten gewesen, die sich einen Premiere World-Decoder leisten konnten. Doch jetzt grinste er hämisch als er daran dachte. Sein exklusiver Augenzeugenbericht würde ihm das nötige Kleingeld einbringen. Als er noch etwas länger nachdachte, fiel ihm ein, dass er erst kürzlich seine alte Canon-Videokamera an einen Bekannten verkauft hatte. Wut kochte daraufhin in ihm hoch. Für professionelles Filmmaterial von einer solchen Katastrophe zahlten vor allem Privatsender Unsummen. Das wusste Armin. Er hatte mal einen Beitrag darüber bei Explosiv gesehen.

Vor der Unglücksstelle hatte sich jetzt eine Traube Menschen versammelt. Einige hielten Fotoapparate wie zum Schutz vor ihr Gesicht und knipsten, andere fummelten an den Funktionstasten ihres Camcorders herum. Eine alte Frau beugte sich zur Leiche des kleinen Jungen hinunter und begrub ihn unter Tränen, wobei ihre Hände unentwegt zitterten. Schockiert und fassungslos beobachtete die Menge, wie sich der brennende Schulbus zusehends in ein schwarz-verkohltes Stahlgerippe verwandelte. Keiner von ihnen, nicht ein einziger kam auf die Idee, etwas zu unternehmen.

In der Ferne heulten Sirenen.

Armin verlor langsam aber sicher das Interesse für das Geschehen unter seinem Fenster. Im Prinzip hatte er das Beste ja schon gesehen. Polizei und Feuerwehr waren alarmiert aber bis zu ihrer Ankunft würden noch einige Minuten verstreichen. Außerdem war um die Uhrzeit immer Rush Hour in und um sein Wohngebiet. Die Löschfahrzeuge würden also einige Mühe haben, bis zur Unglücksstelle vorzudringen. Armin schätzte die verbleibende Zeit auf etwa neun bis zehn Minuten. Immerhin genug, um den Beginn der Quizshow auf SAT 1 mitzuverfolgen.

Auf dem TV-Schirm erschien bereits der Moderator mit einem breiten Grinsen zwischen den Backen, begleitet von frenetischem Applaus des Publikums. Armin ließ sich in seinen IKEA-Sessel fallen und schaltete auf Standby.

Seine Gedanken waren noch immer bei der Katastrophe vor seiner Haustür, wurden aber schleichend von der beruhigenden Farbgebung der Studiodekoration verdrängt. Seine Aufmerksamkeit widmete er jetzt wieder voll und ganz dem Fernsehapparat. Die erste Kandidatin in der Quizshow hieß Uschi Wiesenthal und kam aus Hannover. Ihr Pferdegebiss wurde von der Kamera besonders gut hervorgehoben. Armin schätzte sie als intelligent aber nicht sehr risikofreudig ein. Uschis Gewinnlimit lag in seinen Augen bei 8000 Euro, vielleicht auch etwas höher. Ihre Nervosität versuchte Uschi mit einer betont lockeren Gestik zu überspielen, was aber reichlich misslang. Die Scheinwerfer erhellten ihr Gesicht und entlarvten nebenbei glänzende Schweißperlen, die ihr in Strömen von der Stirn liefen. Armin grinste breit und kratzte sich im Schritt.

Gott sei Dank passierte ihm nichts derartig Peinliches.

 

Hallo Trevor,

ich finde die Geschichte steht in derfalschen Rubrik da ich sie eher als eine Satire empfinde. Eine Satire auf das Fernsehgeschehen auf die Mittelmäßigkeit der Leute und auf die starre abstumpfung durch die Glotze. Meiner Meinung nach ist die Geschichte ganz gut geschrieben dein Protagonist hat eine klare Denkweise und gewissermaßen eine Seele. Ganz gut, weiter so.

Nighty

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom