Tick Tack...
Tick Tack, Tick Tack, Tick Tack… In Zeitlupe kletterte der Sekundenzeiger das Ziffernblatt empor, nur um an der Spitze angekommen, erneut zu einer ebenso bedeutungslosen Runde beginnen. Ich versuchte mich dazu zu bringen, meinen Atem dem unerträglich langsamen Takt des Tickens anzupassen, das unablässig von der schlichten weißen Uhr an der Wand auf mich herab hallte. Es gelang mir nicht.
Frustriert wandte ich meinen Blick zu dem Dokument, welches immer noch genauso unbearbeitet wie vor zehn Minuten, zurückstarrte. Ich ließ den schmucklosen Kugelschreiber, in den Farben der Firma, um meinen Daumen kreisen, bis die grauen Buchstaben eines nichts sagenden Schriftzuges zu einem unleserlichen Schleier verschmolzen. Das Rotieren wurde zu schnell, meine Finger zitterten unkontrolliert und der Stift fiel klirrend zu Boden. Ich zuckte zusammen. Reflexartig schaute ich auf um zu überprüfen, wessen Aufmerksamkeit ich auf mich gezogen hatte. Niemand sah zu mir. Ich ließ mich wieder in den Schreibtischstuhl fallen, so dass die langweilige graue Trennwand, mir wieder den Blick zu meinen Kollegen verbot. Das Geräusch war indem zusammengewürfelten Brei aus Gesprächsfetzen, vermischt mit dem fast schon rhythmisch aufeinander folgende Surren, des einheitlichen Klingeltons aus irgendeiner Ecke des riesigen Raumes, untergegangen.
Ich wiedersetzet mich dem Drang erneut auf die Uhr zu sehen, befahl mir meine Augen auf die Schreibtischplatte zu heften. Doch das war auch nicht besser, denn sofort blieb ich an dem altmodischen Telefon hängen, das neben unseren nagelneuen Computern wie eine Antiquität wirkte. „Bitte nicht klingeln, bitte nicht jetzt“, flehte ich in Gedanken. „nur noch“ jetzt huschte mein Blick doch wieder zur Uhr. „eine Stunde und 37 Minuten“. Ich schloss die Augen. Mein Fuß wippte nervös. Ich kreuzte die Beine und klemmte meinen Kopf zwischen meine Hände. Ich dachte an sie.
Die wirren hellbraunen Haare zu eine unordentlichen Konten zusammengebunden, hohe, rosa Wangen die es nicht schaffen von ihren treuen rehbraunen Augen abzulenken. Tiefrote Lippen, zu einem freudigen Lächeln geöffnet, wenn ich nach Hause kam oder zu einer schiefen Grimasse verzogen wenn ich früh ging. Wie ich mich nochmal zu ihr umdrehte um die kleine Furche zwischen ihren Augen mit meinen Fingern zu glätten und ein flüchtiger Abschiedskuss auf die Stirn drückte. Wie meine Hand von der Senke an ihrem Hals, über ihre Brust zu ihrem Buch glitt und wie der Weg fast täglich, mit ihrem immer größer werdenden Buchumfang, wuchs. Ihre glitzernden Augen, als ich zu erste Mal einen protestierenden Stoß gegen den Druck meiner Hand fühlte. Wie unsere Nervosität und Sorge stieg als das Stupsen lange über die errechnete Zeit andauerte und ich sie immer ungerner allein ließ…
Ich schüttelte mich und wanderte zurück zu ihrem Gesicht. Mein Atem wurde langsamer, meine Gesichtszüge entspannten sich etwas. Ich richtete mich auf, atmete einmal tief ein und ließ die Luft durch meine zusammengebissenen Zähne wieder hinaus.
Ich blinzelte zur Wand. Eine Stunde und 34 Minuten. Das schaffte ich. Es wird nicht jetzt passieren. Ich werde bei ihr sein, ihre Hand halten, wenn es passiert.
Ich versuchte mich erneute vergeblich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Ich sah die Buchstaben und Zahlen, doch ich verstand den Sinn hinter ihnen nicht. Alles kam mir so unbedeutend klein vor. So unwichtig, ja fast schon albern. Es gab so viel Wertvolleres, Bedeutsameres im Leben. Ich kam am unteren Ende der Seite an, ohne den Inhalt begriffen zu haben, legte das Blatt auf meinen „wichtig“-Stapel und griff gedankenverloren nach dem Nächsten.
Der schrille Aufschrei des Telefons ließ mein Herz für einen Moment aussetzen. Es war der Klingelton den ich heute schon tausende Male gehört hatte, jedoch viel zu laut, viel zu nah. Schockiert riss ich meinen Blick auf den Apparat vor mir. Das kleine grüne Lämpchen blinkte. Das winzige Anzeigenfeld strahlte mir mit grauen Zahlen ihre Nummer entgegen. Mein Herz sprang schlagartig mit doppelter Geschwindigkeit wieder an. Ich konnte nicht Atmen als ich blitzschnell nach dem Hörer griff und hatte immer noch keine Luft in den Lungen als ich ihn mit unnötigem Schwung an mein Ohr presste. Hätte ich etwas sagen können, hätte ich nicht gewusst was. Doch das war nicht nötig, denn sofort hörte ich ihre wunderbar weiche Stimme, merkwürdig verfälscht durch das kratzen der Telefonleitung, direkt in meinem Kopf. „Das Baby kommt!“ Nur drei Worte. Drei Worte die ich mir sehnlichst herbei gewünscht hatte, als ich neben ihr lag, eine Hand auf ihren ballonförmigen Bauch, die andere über ihre lächelnde Wange streichend. Ich bei ihr, sofort zu Stelle um alles Erdenkliche zu tun damit sie jede vorstellbare Hilfe bekommt, die sie braucht. Aber nicht jetzt. Nein. Nein, nicht jetzt! Nicht wenn ich nutzlos am anderen Ende der Stadt festsaß. „Bitte! Du musst sofort kommen. Ich brauche dich.“ Ihre Stimme brach ab und sie stöhnte vor Schmerz durch ihre zusammengepressten Lippen. „I-Ich bin sofort da. Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.“ Die Panik in meiner Stimme trug nicht gerade zu meiner Glaubwürdigkeit bei. Während ich versuchte mein Jackett mit ungeschickten Bewegungen von der Stuhllehne, über meine Arme, auf meine Schultern zu bugsieren, ließ ich das Telefon nicht los. Was zu Folge hatte, dass ich es an dem gekringelten Kabel beinahe aus der Halterung riss. „Ich bin sofort zu Hause!“ Meine Tonlage war zwei Oktaven höher als normalerweise aber ich schaffte es endlich mich in meine widerspenstige Jacke zu zwängen. „Der Notarzt ist schon unterwegs. Komm zum Krankenhaus.“ Erklärte sie kurz angebunden. Sie hechelte mehr als das sie atmete und sie klang merkwürdig gezwungen und angestrengt, als würde ihr jedes Wort erneut all ihre Kraft kosten. Ich hatte ihr das immer wieder eingetrichtert. Erst der Notarzt, dann ich. Trotzdem konnte ich es jetzt einfach nicht fassen, dass ich hier tatenlos herumsaß, während bei ihr die Wehen eingesetzt hatten. „Ja, natürlich ich bin sofort bei dir. Mach dir keine Sorgen.“ wiederholte ich. Ich merkte selbst, dass meine Stimme völlig ungeeignet zum Beruhigen war. Wahrscheinlich war ich aufgeregter als sie. Ich konzentrierte mich, atmete leiser, dachte an ihr Gesicht. „Ich liebe dich.“ Ich flüsterte um die Kontrolle über meine Stimme nicht zu verlieren. Das funktionierte. Ich klang ruhig und zuversichtlich. Ihr stoßweise hervorgepresster Atem wurde für einige Sekunden langsamer. „Ich liebe dich auch.“ Sie klang fester, sicherer. Plötzlich tönte wieder ein unterdrückter Schrei durch den Hörer. Doch sie legte auf bevor ich etwas sagen konnte. Als ich sie nicht mehr in meinem Kopf hatte, stürzte alles wieder auf mich ein. Ich schmiss das Telefon auf die Halterung. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich brauchte einen Moment bis ich meine Beine wiedergefunden hatte. Mit großen, viel zu schnellen Schritten stürmte ich in Richtung Ausgang. Der Computerbildschirm leuchtete und meine Tasche stand noch geöffnet unter dem Schreibtisch. Ich nahm mir nicht die Zeit Ordnung zu schaffen. Ich spürte meine Autoschlüssel in der Jackentasche und mehr brauchte ich nicht. Adrenalin spülte durch meine Adern und setzte mich unter Strom. Ich stürmte ungebremst und viel zu hastig für einen so trägen Nachmittag durch das weiträumige Büro und durchschnitt mit meiner aufgeregten Nervosität das schwere Lacken aus Banalität das über dem ganzen Raum zu hängen schien. Von den umliegenden Tischen starrten mich verwunderte Augenpaare an. Ich versuchte so rasch wie möglich zu gehen ohne zu rennen. Ich fragte mich, was meine Kollegen wohl dachten, bis ich merkte, dass es mir egal war. Ich stieß die milchig trübe Glastür auf und hastete den Gang zum Treppenhaus entlang. Meine Gedanken waren ein einziges Wirrwarr aus Bildern und Worten. Ihre Schmerzenslaute, mein Gefühl der Hilflosigkeit, die Anspannung der letzten Tage und Wochen und der unbändige Wunsch endlich bei ihr zu sein.
Beinahe überrannte ich die kleine Sekretären die mir mit staksigen Schritten in viel zu hohen Absätzen entgegenstolperte. Die misslungene Blondierung in einer aufwendigen Turmfrisur versteckt, versuchte sie sich mir in den Weg zu stellen und grinste süffisant zu mir hoch. „Warum haben wir es denn so eilig?“ säuselte sie. Mit einer für mich schon fast untypisch geschickten Drehung wich ich ihr aus, stand plötzlich auf ihrer anderen Seite und lief mir unverminderter Geschwindigkeit weiter. Meine Stimme überschlug sich. „Ich werde Vater!“ rief ich nach hinten ohne mich umzudrehen um die Reaktion von ihrem Gesicht abzulesen.
Jetzt rannte ich doch, als die Tatsache endlich in mein Bewusstsein sickerte und ich die Situation realisierte. Ein euphorisches Lächeln überzog mein Gesicht. Ich werde Vater!