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Todeszone

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24.03.2014
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Todeszone

Es war wieder einer dieser Tage, an denen man besser im Bett geblieben wäre. Der Bus ließ sich Zeit, und als ich am Bahnhof ankam, stellte ich fest, daß mein Zug gerade abgefahren war. Der nächste kam erst in zwanzig Minuten. Und dann eine Stunde Fahrzeit. Aber ich war froh, überhaupt wieder Arbeit gefunden zu haben. Ich hatte früher eine gute Stelle nicht weit von meiner Wohnung entfernt, aber dank der Intrigen des Herbert Laufenberg wurde ich gekündigt. Herbert Laufenberg. Noch heute wird mir übel, wenn ich an den Typen denke. Wir waren uns in einem antirassistischen Verein begegnet, für den ich ehrenamtlich eine Begegnungsstätte für Flüchtlinge und ihre Nachbarn leite. Er gab sich sozial engagiert, und so kamen wir ins Gespräch. Aber je besser ich ihn kennenlernte, umso mehr stellte ich fest, daß er zwar gut reden konnte, aber diesen Reden seltenst Taten folgen ließ.
Dies allein wäre jedoch noch gar nicht mal so schlimm gewesen. Solchen Typen sagt man einfach gelegentlich mal ein „Ja, ja, Du hast recht“ oder nickt zustimmend, wenn sie gerade mal wieder auf ihrem besserwisserischen Trip sind und läßt sie ansonsten labern und plant in Gedanken das Abendessen. Aber bald fing Herbert an, im Internet massivst über die Mitglieder unseres Vereins herzuziehen. Jeder hat schließlich irgendwo einen dunklen Punkt in der Vergangenheit, der sich finden läßt, wenn man nur lange genug danach sucht. Und wo das nicht reichte, erfand er etwas.

Ich hatte zunächst Ruhe vor ihm, bis zu jenem Plenum, als er einer der Tagesordnungspunkte war, da sich die Beschwerden häuften. Ein paar Tage zuvor hatte mir mein Cousin, der im Archiv einer Tageszeitung arbeitete, einen alten Artikel mitgebracht, in dem es um eine Neonazizelle in einem Provinzstädtchen ging. Ich warf einen Blick darauf und wollte den Artikel achtlos einstecken, als Frank mich zurückhielt. „Schau Dir das Bild genauer an“, sagte er, „sieh mal den zweiten von rechts. Kommt der Dir irgendwie bekannt vor?“ Tatsächlich, das war Herbert. Zwar gut zehn Jahre jünger, aber die Gesichtszüge waren unverkennbar.
Diesen Artikel warf ich nun auf den Tisch, als Herbert in der für ihn typischen Art alle Vorwürfe zurückwies und sich als das eigentliche Opfer darstellte, welches sich lediglich zu wehren versuchte. Was in dem Moment in mir vorging, kann ich nicht mehr genau beschreiben. Ich glaube, ich war einfach wütend, weil er seinen Opfern, die weiß Gott schon genug unter ihm gelitten hatten, das Wort im Mund herumdrehte. Ich habe ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Zudem bin ich spontan und impulsiv, was mich schon häufiger in unangenehme Situationen brachte. Diesmal jedoch war ich zu weit gegangen, das spürte ich. Ich hätte besser noch gewartet und gründlich überlegt, welches die beste Gelegenheit war, die Bombe platzen zu lassen. Oder mich vielleicht noch mit Klaus, unserem Vorsitzenden, besprochen. Herbert lief knallrot an, und einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte er mich schlagen. Dann drehte er sich brüsk um und stürmte aus dem Haus.

Am nächsten Tag bekam ich die Quittung. Ich wurde zu unserem Chef zitiert und mit der Begründung, ein Herr Laufenberg hätte angerufen und davon gesprochen, daß mehrere Strafanzeigen gegen mich laufen, erhielt ich mein Entlassungsschreiben.
Herbert ließ sich von da an nicht mehr beim Verein blicken, aber seine Attacken gegen dessen Mitglieder wurden deswegen nicht weniger.

Endlich kam der Zug und ich stieg ein. Nochmal kurz das Smartphone raus und gucken, was es Neues gibt. Es war das übliche Blabla. Marion beschwerte sich über die Unzuverlässigkeit der Deutschen Bahn. Nadja postete ein Foto von einem Strand auf Teneriffa. Die war gerade im Urlaub, die Glückliche. Jemand aus einer Tierschutzgruppe teilte eine Petition zugunsten streunender Hunde in Russland. Meine Unterschrift konnte er haben.

Dann sprang mir die Schlagzeile ins Auge: „Mordanschlag auf Journalisten. Wie weit geht Martina Gerlach noch?“ Von Christiane Reinders. Ja, schon klar, das war nämlich laut Facebook Herberts Verlobte und sie postete zig Artikel, die ihn mit einer Art Heiligenschein versehen in den Himmel hoben, und die Berichte, welche Mitglieder unseres Vereins in die Nähe krimineller Milieus rückten, stammten zu einem großen Teil auch aus ihrer Feder.

Als Journalist bezeichnete sich Herbert gern, jedoch war es mir trotz intensivster Bemühungen noch nicht gelungen, einen von ihm geschriebenen Zeitungsartikel zu finden. Jedenfalls sofern man seine Hetzforen auf sozialen Netzwerken nicht als Zeitung bezeichnet. Na, mal schauen, was die gute Christiane da schrieb. Jemand hatte versucht, Herbert Laufenberg zu töten, indem man Rattengift in seine im Keller lagernden Marmeladengläser mischte. Zum Glück war Christiane rechtzeitig zur Stelle und konnte den Rettungsdienst rufen. Gleichzeitig mit ihnen hatte sich nur noch Martina in der Wohnung aufgehalten, angeblich, so schrieb Christiane, um noch einmal mit Herbert zu reden. Dann folgten Links zu früheren Artikeln, die Martina Veruntreuung von Vereinsgeldern, Vandalismus in Herberts Garten und die Verzierung seines PKW mit rassistischen Parolen vorwarfen.

Ich war so durcheinander, daß ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. „Guten Morgen!“ rief meine Kollegin Heike, als ich ihr im Flur begegnete, aber ich lief wie in Trance an ihr vorbei. Kopfschüttelnd sah sie mir nach. Bestimmt ein weiteres Kapitel der unendlichen Mobbing-Geschichte des Herbert L., war mein erster Gedanke. Aber würde er wirklich so weit gehen, jemanden einen Mordanschlag zu unterstellen? Ich traute ihm ja einiges zu, aber das? Und Martina? Sie war ein herzensguter Mensch, einer der besten, die ich kannte. Aber sie litt schon seit Jahren unter Herbert L., und nichts hatte ihn bislang stoppen können. Würde sie in ihrer Verzweiflung einen Mord begehen, um endlich wieder ein normales Leben führen zu können? Ich mußte mit ihr reden. Dann würde ich vielleicht Näheres in Erfahrung bringen können. Aber zunächst waren da noch zahllose Anfragen zu bearbeiten und immer wieder kamen Anrufe oder Emails von Kunden.

Endlich Mittagspause. Ich holte mein Handy hervor und wählte mit zitternden Fingern Martinas Nummer. Keine Antwort. Ich versuchte es bei Klaus. Er kannte den Artikel noch gar nicht, glaubte aber nicht, daß Martina etwas mit dem Anschlag zu tun hatte.

Beim dritten Versuch meldete sich endlich jemand in Martinas Wohnung. Aber es war nicht Martina, sondern eine Nachbarin. „Sie ist doch vorhin ins Krankenhaus gekommen“, sagte sie in einem Tonfall, als wunderte sie sich, daß ich das noch nicht wußte. „Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Mit Alkohol und Tabletten. Wahrscheinlich muß sie auch in die Psychatrie.“ – „In welchem Krankenhaus liegt sie?“ Die Nachbarin nannte mir den Namen und ich beschloß, sie nach Feierabend zu besuchen.

Auf den Krankenhausflur standen bereits zahlreiche Mitglieder unseres Vereins. „Sie haben ihr den Magen ausgepumpt“, wußte einer zu berichten. „Stellt Euch vor, wenn die Nachbarin nicht zufällig vorbeigekommen wäre, wäre sie tot gewesen!“ rief ein anderer dazwischen.

Ein Arzt betrat den Flur. „Sie ist soweit wieder stabil“, berichtete er, „Sie können jetzt zu ihr. Aber denken Sie bitte daran, daß sie noch Ruhe braucht. Bitte nicht mehr als zwei Personen.“

Klaus und ich gingen hinein. Martina sah bleich aus. „Habt Ihr das gelesen?“ flüsterte sie heiser. „Jetzt werde ich noch als Mörderin gebrandmarkt. Ich habe bald keine Kraft mehr, wißt Ihr das? Ich will nur noch sterben.“ Sie drehte sich zur Seite und weinte. Ich streichelte ihre Hand. Worte hatte ich in dem Moment nicht.

Samstagnachmittag. Seit drei Stunden stand ich, angetan mit einer dunklen Perücke und einer überdimensionalen Sonnenbrille, in einem von einem Bekannten geliehenen PKW vor Herberts Haus und beobachtete den Eingang. Ich war mittlerweile überzeugt, daß es nicht Martina war, die den Mordanschlag verübt hatte. Um ihre Unschuld zu beweisen, war ich wie besessen von dem Gedanken, den wahren Täter zu finden. Feinde hatte er sich ja viele gemacht, aber wer davon hatte Zutritt zu seiner Wohnung? Mein erster Gedanke war, daß sich jemand, den er bislang noch nicht kannte, zum Schein mit ihm anfreunden und zu seinem Vertrauten werden sollte, so daß er fast alles aus seinem Leben mitbekam. Aber alle, die ich fragte, wollten mit dieser Sache nichts zu tun haben. Also änderte ich meinem Plan und ging sozusagen auf Detektivtour. Deswegen stand ich jetzt hier. Bislang war noch nicht viel passiert. Die Post war gekommen, dann Christiane, und jetzt seit Ewigkeiten niemand mehr. Gähn. Privatdetektiv wäre definitiv kein Job für mich gewesen.

Ich beschloß, die Sache für heute abzubrechen und in die Begegnungsstätte zu fahren. Die Geschichte von dem versuchten Mord an Herbert und Martinas Selbstmordversuch hatte sich inzwischen auch bei den Flüchtlingen herumgesprochen. „Stimmt es, daß man versucht hat, Herbert umzubringen?“ fragte Aziza, eine kleine zierliche Afghanin. Ich nickte. „Wäre auf jeden Fall nicht schade drum“, fand Senait. “Das Schlimme ist nur, daß man jetzt Martina öffentlich im Internet verdächtigt. Ich glaube nicht, daß sie es war.“ – „Ich kann verstehen, daß sich Martina umbringen wollte“, warf Aminata ein, „ich hätte in ihrer Situation auch keinen anderen Ausweg gewußt.“ – „Kann man sie besuchen?“ fragte Aziza. „Klar, kann man. Ich glaube, daß sie sich über Besuch freut.“ Wir sammelten Geld für einen schönen Blumenstrauß, den Aziza und Senait als Abordnung der Flüchtlinge überbringen sollten. Es wurde noch eine ganze Weile heftig über Martina und Herbert diskutiert. Arlind und Brahim, zwei kräftige Kosovo-Albaner, mußte ich stoppen, weil sie zu Herbert fahren und ihm eine aufs Maul hauen wollten. „Lasst das. Das muß dann nur wieder Martina ausbaden.“ – “In albanischen Familien halten wir zusammen”, knurrte Arlind, “und Freunde sind wie Familie.“ – „Dann lasst uns überlegen, wie wir ihr sonst helfen können.“ – „Wir müssen ihre Unschuld beweisen.“
Eine bessere Idee als mein Detektivspiel hatte jedoch niemand.

Und so befand ich mich am Sonntag wieder in Herberts Straße.Diesmal saß ich jedoch nicht in einem PKW vor seinem Haus, sondern zusammen mit Frank in einer Kneipe ein paar Häuser weiter. Sicher kannte man ihn dort und wußte, mit wem er Umgang pflegte. Ich mußte nur mit den Leuten ins Gespräch kommen und im Verlauf des Gesprächs nach Herbert fragen. Das gelang mir auch tatsächlich, als sich ein rotgesichtiger Bauarbeiter zu uns setzte. „Nun ja, der kommt einmal die Woche und trinkt zwei bis drei Bierchen“, sagte er, „warum wollnse dat denn wissen? Eine junge hübsche Frau wie Sie kann doch andere Männer haben. Der hier“ – er nickte Frank wohlwollend zu – „sieht zum Beispiel zehnmal besser aus.“ Ich klärte ihn auf, daß Frank mein Cousin sei. „Aber ich bin nicht an Herrn Laufenberg als Liebhaber interessiert, sondern....“ - ich suchte verzweifelt nach einer plausiblen Ausrede – „sondern mein Interesse ist rein beruflich.“ – „Hä?“ machte der Bauarbeiter, und auch Franks fragender Blick entging mir nicht. Ich hatte mich inzwischen soweit wieder im Griff, daß ich meine soeben erfundene Geschichte glaubhaft vortragen konnte. „Es ist nämlich so“, begann ich, „ich bin Lehrerin. 10. Klasse Realschule. Meine Schüler sollten jetzt ein Berufspraktikum machen, und da ich von Herrn Laufenberg gehört habe, daß er einen Verlag hat, wollte ich ihn fragen, ob er vielleicht 2 – 3 Praktikanten für einen Monat beschäftigen kann. Hat er eine Sekretärin, mit der ich darüber sprechen kann?“ Der Bauarbeiter lachte dröhnend. „Sekretärin? Der? Und wenn der ‘n Verlach hat, dann hab ick ooch een. Ick bin zwar keen Intellektueller, aber auch ick hab een Blog bei Facebook.“ Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen.

Die Woche über hatte ich zu viel zu tun, um mich weiter dem Thema Herbert zu widmen. So wurde die Sache vorerst auf Eis gelegt.
Da ich immer recht spät von der Arbeit kam, war ich froh, wenn ich noch meinen Haushalt geregelt bekam und es darüber hinaus schaffte, einmal die Woche ins Fitnessstudio zu gehen oder durch den nahe gelegenden Stadtwald zu walken.
Auf der Arbeit war ich unkonzentriert und nervös und ich war Heike dankbar, daß sie mich mit Samthandschuhen anfasste und meine Fehler korrigierte, so daß unser Chef nichts davon mitbekam.

Die Wochen vergingen, ohne daß ich in der Sache irgendwie weiterkam, und man riet mir, das Projekt „Finde den wahren Täter“ abzublasen. „Du wirst sowieso nichts erreichen“, meinte Frank, „im Gegenteil, womöglich machst Du Dich damit noch zum nächsten Opfer von Herberts Intrigen.“

Tatsächlich passierte auch einiges, was geeignet war, mich die Sache vergessen zu lassen. Klaus heiratete und bestimmte mich zur Trauzeugin. Brahim und seine Familie wurden in den Kosovo abgeschoben. Meine Lieblingsband trat beim Stadtfest auf, und ich hatte Gelegenheit, ein Foto von mir und dem Leadsänger machen zu lassen.

Und ich lernte einen Mann kennen! Ja! Ich war schon lange nicht mehr bei unserem deutsch-italienischen Stammtisch gewesen, aber Frank, welcher der Meinung war, ich sollte mich ablenken, schubste mich regelrecht dorthin. In der Zeit, in der ich nicht beim Stammtisch war, hatte sich einiges verändert. Einige frühere Teilnehmer waren nicht mehr dabei, dafür waren neue hinzugekommen. Einer dieser Neuen war Francesco. Da es in Apulien keine berufliche Perspektive für ihn gab, war er zunächst in den Norden Italiens gezogen und ein Jahr später von dort aus weiter nach Deutschland. Binnen kurzem stellten wir fest, daß wir einige Interessen teilten und auch, daß wir beide vom Land stammten und in die Großstadt gezogen waren, hatten wir gemeinsam. Da wir nur eine Straße voneinander entfernt wohnten, sahen wir uns von nun an fast täglich.

„Hast Du Angst vor Hunden?“ fragte Francesco eines Tages, als wir gemeinsam um den See spazierten. „Selten. Wenn einer aggressiv wirkt, dann schon. Oder wenn der Besitzer keinen vertrauenswürdigen Eindruck macht.” – „Ich war nämlich gestern im Tierheim. Ich überlege, mir einen Hund anzuschaffen.“ Er zeigte mir ein Foto von einem mittelgroßen Mischling, der verstört in der Ecke seiner Box lag. „Sein Frauchen ist vor kurzem verstorben. Er hat den Umzug ins Tierheim nicht verkraftet, liegt nur apatisch in der Ecke und will nichts fressen. Dabei ist er ein ganz lieber Kerl, und was ich auch wichtig finde, bereits erzogen.“ – „Aber wie stellst Du Dir das vor? Du gehst schließlich arbeiten. Soll der Hund neun Stunden täglich allein sein?“ – „Das habe ich alles schon durchdacht. Da ich im Schichtdienst arbeite, geht es aber. Wenn ich Frühschicht habe, übernachtet er bei Dir, Du drehst morgens mit ihm eine Runde und ich hole ihn ab, wenn ich von der Arbeit komme. Habe ich Spätschicht, übernehme ich die erste Runde und Du holst ihn zum Spazierengehen, wenn Du abends nach Hause kommst. Gut, an die Stunden zwischendurch, die er allein ist, müssen wir ihn noch gewöhnen.“

Dann spendete ein Geschäftsmann unserem Verein eine größere Summe, und man einigte sich darauf, den Flüchtlingen damit einen erlebnisreichen Tag in einem Freizeitpark zu spendieren. Wir Ehrenamtlichen sollten sie begleiten. Auch Francesco war mit von der Partie. Für Jimmy, so hatte er den Hund genannt, hatte er einen Tiersitter engagiert.

Nach anfänglichem Chaos, da die Achterbahnen den älteren Kindern nicht wild genug sein konnten, während einige der jüngeren bereits weinten, als es etwas schaukelte, teilten wir uns in Gruppen auf. Francesco, Aminata und ich betreuten eine Gruppe acht- bis zehnjähriger Mädchen, unter denen auch eine von Aminatas Töchtern war. Aminata war im Alter von 16 Jahren zwangsverheiratet und von ihrem cholerischen Ehemann übelst mißhandelt worden, bis sie endlich den Entschluß fasste, mit ihren drei Kindern nach Europa zu fliehen. Bis sich eine Gelegenheit ergab, sollten aber nochmal zwei Jahre ins Land gehen.

„Was macht eigentlich Martina?“ fragte sie, als wir an der Wildwasserbahn anstanden. „Ist in einer Nervenklinik“, seufzte ich, „und Herbert und Christiane schmieren weiterhin alle Foren mit ihrem angeblichen Mordanschlag voll.“ – „Ich kenne einen guten Anwalt“, warf Francesco ein, „vielleicht kann der helfen.“ – „Ich glaube nicht, daß das was bringt. Martina war in den letzten vier Jahren schon bei zahllosen Anwälten. Aber Herbert macht das so geschickt, daß er deswegen nicht verurteilt werden kann.“ – „Wer auch immer ihn umbringen wollte“, bemerkte Francesco, „ich hoffe, er hat das nächste Mal Erfolg. Dann habt Ihr und vor allem Martina endlich Ruhe.“ Ich wollte es nicht laut sagen, aber ich dachte mittlerweile genauso.

Aminata schnitt das Thema wieder an, als wir zum Abschluß des Tages noch zusammen in einer Eisdiele saßen. „Vielleicht sollte Martina in einer anderen Stadt, vielleicht sogar in einem anderen Land, ein neues Leben anfangen“, überlegte sie. Ich zuckte die Schultern. „Ein wirklicher Sieg wäre das nicht, denn dann sucht sich Herbert neue Opfer und macht weiter.“

Francesco und ich lagen zusammen in meinem Bett, als das Telefon schrillte. Frank war am Apparat. „Herbert ist tot“, sagte er. „Waaas? Wer...“ – “Nein”, lachte er, “niemand hat ihn umgebracht. Er ist eines natürlichen Todes gestorben. Und zwar an einem Herzinfarkt.“

Die Nachricht von Herberts Tod verbreitete sich rasend schnell im Verein, und als Francesco und ich am Nachmittag, begleitet von Jimmy, in der Begegnungsstätte eintrafen, wußten bereits alle davon. Jeder wußte ein Erlebnis mit Herbert zu berichten, und es sah so aus, als würde seine Trauerfeier eher eine Jubelparty werden. „Aber auch Herbert war ein Mensch“, mäßigte uns Klaus, „und wir wissen nicht, was er in seinem Leben mitmachte, bevor er zu dem wurde, was er war.“ – „Immerhin kann er niemand mehr Schaden zufügen“, fand Aziza, „und das ist das Wichtigste.“

Nach einer Weile kam Christiane herein. Im ersten Augenblick wollte ich sie des Raumes verweisen und ihr nahelegen, mit ihren Intrigen zukünftig doch bitte jemand anderes zu beglücken. Dann sah ich, daß sie jemanden zum Reden suchte. „Setz Dich doch“, bat ich sie. Sie rang die Hände und wußte offenbar nicht, wie sie beginnen sollte. „Herbert und ich hatten eine Beziehung“, begann sie schließlich. „Das ist uns nicht entgangen“, bemerkte ich spöttisch. Francesco stupste mich in die Seite. „Laß sie doch reden.“ – „Anfangs lief alles super“, erzählte Christiane, „er war der aufmerksamste Liebhaber, den man sich vorstellen kann. Er brachte mir Blumen mit, führte mich zum Essen aus, schenkte mir Schmuck und neue Kleider, aber dann....“ Sie begann zu weinen. „Er hat sich auf einmal so verändert. Er setzte mich unter Druck, diese ganzen Artikel zu schreiben. Er drohte mir, sonst öffentlich zu machen, daß ich mit zwanzig mal wegen Drogenbesitzes im Knast saß und ich könne mein Geschäft dicht machen, weil niemand mehr zu mir käme.“ Christiane besaß einen Friseursalon in der Innenstadt. „Als er dann“ – ihr versagte die Stimme – „mit dieser fünfundzwanzigjährigen Studentin ankam, habe ich rot gesehen. Ich sollte dies alles für ihn getan haben, nur damit er mich wegen einer Jüngeren verläßt? Außerdem dachte ich daran, was passieren würde, wenn es irgendwann zu einer Anzeige wegen übler Nachrede und falscher Verdächtigung kommt. Wie Ihr sicher bemerkt habt, steht unter den meisten Artikeln mein Name, nicht seiner.“ – „Also warst Du diejenige, die das Rattengift in die Marmelade getan hat“, stellte ich fest. „Um dann den Verdacht auf eine andere Person zu lenken!“ empörte sich Francesco, „um ehrlich zu sein, das war ziemlich Scheiße von Dir!“ – „Ja, ich weiß“, sagte sie, „es tut mir auch so leid. Und glaubt mir, wenn ich es ungeschehen machen könnte, würde ich es tun.“ – „Was geschah dann? Du schriebst ja, er hätte nur gerettet werden können, weil Du den Notarzt alarmiertest.“ Sie schüttelte verlegen den Kopf. „Nein, so war es nicht“, murmelte sie. „Sondern?“ – „Martina war wirklich da. Herbert hatte zuvor ein Schreiben ihrer Anwältin bekommen, das ihm offenbar wirklich Angst machte. Er rief sie an und bat sie, zu ihm zu kommen, um noch einmal über alles zu reden. Gutmütig, wie sie ist, setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr hin.“ – „Und dann?“ – „Sie war es, die den Notarzt alarmierte. Herbert hatte nämlich bereits von der Marmelade gegessen, als sie kam.“ – „Uff, das ist schon ziemlich harter Tobak. Zunächst einmal solltest Du vielleicht zu allen Artikeln, die Du über Martina gepostet hast, eine Richtigstellung schreiben.“ – „Normalerweise könnten wir Dich wegen versuchten Mordes anzeigen. Das ist Dir sicher klar, oder?“ fragte Klaus. Christiane nickte. Sie war nur noch ein Häufchen Elend. “Aber ich denke, außer uns weiß niemand davon…” Er blickte in die Runde. „Und wenn wir uns alle einige sind...also, was ich sagen will...wichtiger finde ich, daß Du das mit Martina auf die Reihe kriegst. Sie hat jahrelang unter Euch gelitten. Laß Dir etwas einfallen, wie Du sie dafür entschädigst.“

Ein paar Monate später saßen wir alle zusammen in Martinas Café, das Christiane mit finanziert hatte. Wir hatten etwas zu feiern, denn Senait ihre Einbürgerungsurkunde bekommen. Als nächstes wollte sie an einem Qualifizierungsprogramm für ausländische Akademiker teilnehmen, damit sie auch in Deutschland ihren Beruf als Ingenieurin ausüben konnte.
Martina strahlte mit allen um die Wette. So glücklich und gelöst hatte ich sie schon lange nicht mehr gesehen.

 

Hallo AstridG,

herzlich willkommen!


Ein Gesellschaftskrimi, in dem kaum etwas fehlt. Intrigen, Mordversuch, undurchsichtige Journalisten, Rassismus, Facebook und Internet-Mobbing.
Ich finde, das hast du alles gut untergebracht.

Für einen Krimi fängt die Geschichte recht langweilig an. Wer interessiert sich für Arbeitsunlust und Zugfahrpläne der Protagonistin?
Interessant wird es ab hier:

Aber bald fing Herbert an, im Internet massivst über die Mitglieder unseres Vereins herzuziehen. Jeder hat schließlich irgendwo einen dunklen Punkt in der Vergangenheit, der sich finden läßt, wenn man nur lange genug danach sucht. Und wo das nicht reichte, erfand er etwas.
Wenn du diesen Gedanken an den Anfang und den Rest des ersten Absatzes, stark gekürzt, erst danach bringst, wäre der Einstieg nicht so zäh.

Jemand hatte versucht, Herbert Laufenberg zu töten, indem man Rattengift in seine im Keller lagernden Marmeladengläser mischte. Zum Glück war Christiane rechtzeitig zur Stelle und konnte den Rettungsdienst rufen. Gleichzeitig mit ihnen hatte sich nur noch Martina in der Wohnung aufgehalten, angeblich, so schrieb Christiane, um noch einmal mit Herbert zu reden.
Rattengift in Marmelade. Selbst mit Rattengiften der 60ger und 70ger Jahre war keine akute Vergiftung möglich. Die Symptome, zunächst einer Grippe ähnlich, traten erst nach langer, regelmäßiger Einnahme auf. Später kam es dann zu inneren Blutungen.
Auch heute oder erst recht heute, sind Rattengifte beim Menschen nur über lange Zeiträume der regelmäßigen Einnahme (dabei reicht ein tägliches Marmeladenbrötchen nicht aus) gefährlich.

Den Hinweis über dem Text brauchst du nicht. Unter „Kurzgeschichte“ versteht sich das von selbst. Daher habe ich den entfernt.

Lieben Gruß

Asterix

 

Hallo Astrid!

Hast du schon mal etwas von "show, don't tell" gehört? Das ist, wenn man nicht behauptet, dass etwas (oder jemand) so ist, sondern es zeigt. Auf deinen Text bezogen:

Das hier sind zum Beispiel Behauptungen:
"Er gab sich sozial engagiert"
"weil er seinen Opfern, die weiß Gott schon genug unter ihm gelitten hatten, das Wort im Mund herumdrehte."
=> Der Leser kann sich viel besser ein Bild von Herbert machen, wenn du ihm in einer oder mehreren Szenen zeigen würdest, was Herbert tut, wie er den Leuten das Wort im Mund herumdreht. Mir ist nämlich überhaupt nicht klar, warum sie ihn in ihrem Verein akzeptieren, in da machen lassen.

Das hier:
"und die Berichte, welche Mitglieder unseres Vereins in die Nähe krimineller Milieus rückten, stammten zu einem großen Teil auch aus ihrer Feder."
=> wirfst du zum Beispiel einfach hinterher, du zeigst es nie, weder die vermeintlichen Berichte noch die Reaktionen der Vereinmitglieder.

Andere Punkte:

"Ich wurde zu unserem Chef zitiert und mit der Begründung, ein Herr Laufenberg hätte angerufen und davon gesprochen, daß mehrere Strafanzeigen gegen mich laufen, erhielt ich mein Entlassungsschreiben."
=> Sie wird entlassen, weil irgendein Typ anruft und irgendwelche Lügen über sie erzählt? Das lässt unser Arbeitsrecht zum Glück nicht zu.

"Und Martina? Sie war ein herzensguter Mensch, einer der besten, die ich kannte."
=> Sie kennt Martina persönlich? Das ist jetzt auch so einfach reingeschoben. (Ich frage mich jetzt, wenn Martina schon jahrelang unter Herbert leidet, und deine Protagonistin sie kennt, warum ist sie dann am Anfang deines Textes unbefangen mit ihm ins Gespräch gekommen?)

"daß es nicht Martina war, die den Mordanschlag verübt hatte."
=> Gab es überhaupt einen "Mordanschlag"? Oder hat diese Christiane nur einfach was geschrieben? Hier fehlt mir die Beteiligung der Polizei. Entweder als Ermittler bei versuchtem Mord, oder von der anderen Seite, wegen Verleumdung.

"Die Woche über hatte ich zu viel zu tun, um mich weiter dem Thema Herbert zu widmen. So wurde die Sache vorerst auf Eis gelegt."
=> Die ist ja 'ne tolle Rächerin. Ihre Freundin wird des Mordes verdächtigt und sie hat halt zuviel zu tun, als sich darum zu kümmern. Siehe mein voriger Punkt. In der jetzigen Form finde ich das unglaubwürdig.

Hier schickst du wieder etwas nach, und du behauptest:
"Martina war in den letzten vier Jahren schon bei zahllosen Anwälten. Aber Herbert macht das so geschickt, daß er deswegen nicht verurteilt werden kann.“
=> Was macht er denn so geschickt? Zeig es!

Die Sache mit dem Rattengift hat Asterix schon angemerkt. In dem Punkt empfehle ich Recherche. Leute zu vergiften (an wirksames Gift zu kommen) ist gar nicht so einfach.

Die Auflösung kommt sehr plötzlich. Deine Protagonistin ist nicht beteiligt (ihr Leben ist also für den Leser gar nicht von Belang gewesen), stattdessen ist die Mörderin die vermeintlich böse Christiane, von der wir aber nur wissen, was deine Protagonistin von ihr behauptet hat.

Fazit: Wie du sicher bemerkt hast, bin ich nicht wirklich begeistert von deiner Geschichte. Das liegt nicht an der Idee (Mobbing und Stalking und sowas kann irre spannend sein) sondern nur an der Umsetzung. Daran kann man arbeiten.

Grüße,
Chris

 

Hallo!
Du hast in deinen Text viele Aspekte eingebaut, die ihn aktuell machen, wie zum Beispiel das Cybermobbing. Die Idee deines Textes hat mir gut gefallen, allerdings habe ich ein paar Kleinigkeiten vermisst. Man erfährt nicht viel über die, die das Gift in die Marmelade gemischt hat. Da sie am Ende der Täter ist, wäre es für mich schön gewesen schon vorher etwas mehr über sie zu erfahren. So hatte ich am Ende das Gefühl, dass ich mich nicht wirklich in die Täterin hineinversetzen kann. Das ist mir (meiner persönlichen Meinung nach) ein bisschen zu kurz gekommen.
Und ein weiterer Punkt: Ich finde manche Aspekte könntest du streichen und würdest damit deiner Geschichte keinen Abbruch tun. Zum Beispiel die Episode, dass ein Hund aus dem Tierheim geholt werden soll. Das macht deinen Text länger, bringt aber inhaltlich nichts, was die Geschichte weiterbringt. Wärst du später noch einmal darauf zurückgekommen, hätte ich es verstanden, aber so erscheint mir der Teil überflüssig. Beispielsweise hätte es zufällig sein können, dass jemand in dem Tierheim Herbert kennt und der Protagonistin Hinweise gibt, dann wäre auch die Szene in der Eckkneipe entfallen. Genauso am Beginn deiner Geschichte: Dass die Protagonistin auf den Zug wartet etc ist eigentlich im Prinizp egal..oder? Aber bis auf diese "überflüssigen" Teile, fand ich die Geschichte gut. Sie war gut geschrieben und ich bin auch über keine Worte oder andere Ungereimtheiten gestolpert!

Liebe Grüße!

 

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