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Traummädchen
Wie jeden Samstagabend bahnte sich Eric seinen Weg durch das verdreckte breite Treppenhaus, durch den von der Nebelmaschine produzierten Dunst und die wogenden Menschenmassen. Unter den Sohlen seiner schwarzen Nike-Turnschuhe vibrierte der Bass und schickte Wellen freudiger Erregung durch ihn.
Er grüßte einen flüchtigen Bekannten, bevor er weiter ging. Sein Blick, der fixiert auf große Brüste und blondes Haar war, schwebte suchend durch den Raum. Die flirrenden Lichter der Scheinwerfer tanzten in allen Farben auf den Körpern der Jugendlichen, für Eric vor allem auf denen von jungen Mädchen, die sich im Takt der lauten Musik bewegten.
Er leckte sich kurz über seine trockenen Lippen.
Mit einem Seufzen sog er den Duft von Schweiß und abgestandenem Rauch ein, bevor er seinen Weg fortsetzte um sich zur überfüllten Bar zu zwängen. Dort angekommen bestellte er sich ein Bier, lehnte sich lässig gegen die Theke und starrte das Mädchen an, dass ihm schon vorhin ins Blickfeld gestochen war: Blond und schlank, wie er es erwartete, ansehnliche Brüste und ein zartes Gesicht.
Für einen Moment ließ er sich vom Beat der Trancemusik ablenken und von den glitzernden Lichtern verführen. Er dachte an den letzten Samstag, den er schon auf ähnliche Weise verbracht hatte. Was sollte er sonst an einem verbockten Wochenende tun? Seine oft überschwängliche Lebensweise hatte ihn schon viel zu früh mit Problemen konfrontiert, da konnte er sich ein weiteres Vergnügen leisten – wie fast jedes Wochenende. Mit einem Kopfschütteln kehrte er mit seinem Bewusstsein in die überfüllte Disco zurück und setzte die Bierflasche erneut an, dann lenkte er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen.
Ein dumpfes Geräusch erklang, als er die leere Bierflasche abstellte. Er hatte sich genug Mut angetrunken. Mit einem selbstsicheren Grinsen, seines guten Aussehens bewusst, tanzte er sich langsam an sie heran. Sie schien alleine, zumindest konnte er niemanden in ihrer Nähe entdecken, der zu ihr zu gehören schien. Als er schließlich nah genug bei ihr war, schenkte er ihr ein blendendes Lächeln. Irritiert sah sie ihn an, einen Moment verweilte ihr gelangweilter Blick auf seinen Lippen, bevor sie sich umwandte und ihm ihren Rücken zeigte.
Erik hielt sich noch eine geschlagene halbe Stunde inmitten des Trubels auf, immer wieder einen netten Blick aufsetzend, sobald sich die Blondine zu ihm umwandte. Es ärgerte ihn immer mehr, dass er für sie uninteressant schien. Fünf Minuten später entfernte er sich resigniert von seinem Zielobjekt und suchte Zuflucht an einer Seite des großen Raumes. Vielleicht war heute einfach nicht sein Tag. Mit seinen dreckigen Fingernägeln schabte er ein wenig aus Langeweile an dem vergilbten Putz an der Wand, dann zündete er sich eine Zigarette an und pustete den Rauch demonstrativ desinteressiert in die sowieso schon stickige Luft.
Von hier aus konnte er die kleine Bühne sehen, auf dem ein gestylter Typ mit Kopfhörern immer wieder neue Musik auflegte. Auf einer Musikbox in einer der vielen Ecken saß ein Liebespaar und knutschte, als würde jeder Kuss ihr letzter sein. Überdrüssig sah er weg. Sein Blick wurde von den Lichtern abgelenkt und in dem roten Scheinwerfer gefangen. Wenn er direkt hinein sah, war die Helligkeit so gleißend, dass er dachte, er befände sich in anderen Sphären aus rotem Licht.
Blinzelnd gewöhnten sich seine Augen wieder an die belebte Umgebung. Er drückte seine Zigarette aus und sah sich um. Er sollte heimgehen. Die Tanzfläche leerte sich allmählich; er konnte kein Mädchen sehen, welches ihm gefallen hätte. Er wandte seinen Blick ab und blinzelte kurz mit den Augen, ehe er realisierte, das ihn seine Augen nicht täuschten.
Auf dem kalten Boden, an die Wand gelehnt, hockte ein unscheinbares Mädchen. Nicht, dass sie sein Geschmack gewesen wäre; sie war klein, hatte schulterlanges braunes Haar und ein schwarzes Shirt an, dass ihren Oberkörper bedeckte. Nein, sie hatte auch kein hübsches Gesicht, ihre Wangenknochen stachen kantig aus ihrem Gesicht heraus und ihre braunen Augen lagen tief in den Augenhöhlen. Dazu kamen noch dunkle Augenringe und ein verschwommener, trüber Blick.
Doch unwillkürlich trat er näher und beobachtete sie mit großem Interesse. Er wusste nicht, was sie tat, aber es gefiel ihm.
Ihr ganzer Körper bewegte sich im Einklang mit dem bebenden Bass, es war, als hätte sie einen sitzenden Tanz für sich erfunden. Für kurze Momente schloss sie die Augen, um sie gleich darauf wieder aufzureißen und starr vor sich hin zu blicken. Es jagte Eric einen Schauer über den Rücken. Sie schien völlig im Rausch zu sein. Und egal, was sie dorthin versetzt hatte, Eric musste herausfinden, welche Substanz solch einen Zauber auslösen konnte.
Ihre Mundwinkel bewegten sich in kleinen Abständen immer wieder einer unkontrollierbaren Zuckung gleich nach oben, als würde sie versuchen, jedes Mal ein Lächeln anzudeuten. Erics Blick glitt tiefer in ihren Schoß und fixierte ihre kleinen Hände, die sich zu einer Faust schlossen und gleich darauf wieder öffneten, im Takt des zuckenden Mundwinkels und des dröhnenden Basses.
Betont gelangweilt schlenderte er näher an sie heran. Ohne Furcht ließ er sich neben ihr zu Boden sinken und schenkte ihr ein aufmerksames Lächeln, welches sich jedoch sofort in ihren glasigen Augen wieder verlor. Einen kurzen Moment lang betrachtete er ihre Bewegungen, einer sitzenden Ikone gleich, bevor er ihr seine Hand auf den Arm legte. Ihre Haut war erstaunlich warm. Eric neigte seinen Kopf, fast schon schien es als wolle er ihn auf ihrer Schulter ablegen, doch er wollte nur ihren Duft einatmen. Den Geruch, welchen er tief in sich aufnahm, konnte er nicht beschreiben. Es war eine elektrisierende Mischung aus Rauch, Kokos und einem undefinierbarem würzigem Hauch.
Vorsichtig strich er mit seinem Daumen auf ihrem Arm hin und her, doch sie regte sich nicht. Anscheinend hatte sie noch nicht einmal bemerkt, dass neben ihr jemand Platz genommen hatte. Seufzend holte er sich eine Zigarette aus seiner Hosentasche und zündete sie an. Während er den Qualm tief inhalierte, bewegte sie sich neben ihm. Unverständliche Worte grummelnd, schob sie ihre Hände an seinem Hosenbein entlang, als suche sie irgendetwas. Der Zigarettenrauch hatte sie wohl zurück in die Realität geholt.
„Hey“, widersprach Eric und drückte die Zigarette aus. Mit besonderer Vorsicht griff er nach ihrer Hand und hielt sie fest. „Zieh mir ja nicht das Geld aus der Tasche.“
Sie wandte ihren Kopf und blickte ihn an.
Erics Schrei wurde durch den tiefen Bass übertönt und ging in der Masse unter. Er sprang torkelnd auf und wirbelte, Stossgebete stammelnd, herum, um wegzurennen. Der Schreck saß ihm in Mark und Bein. Mit hektischen Gesten zwängte er sich durch die Menschenmasse nach draußen, er traute sich nicht mal, einen Blick zurückzuwerfen.
Noch als er zwei Stunden später durch die kalten Straßen lief, ging ihm das Bild ihres Gesichtes nicht aus dem Kopf:
Dass aus ihrer Nase laufende Blut, perlenden Wassertropfen gleich, an ihrer Lippe entlang, bevor es zu Boden tropfte; die riesigen schwarzen Pupillen, wie die einer Katze in der Nacht und dieser Blick, dieser furchtbar tote Blick, als hätten ihre Lebensgeister schon Einzug in der Hölle genommen.
Wieder ein trister Samstagabend, der vorbeizurauschen schien wie die restlichen Abende der Woche es getan hatten. Eric hatte die letzten Stunden zusammengekauert auf seinem Bett verbracht, möglichst immer eine brennende Zigarette in den Händen, den Blick starr auf den flimmernden Bildschirm seines Fernsehers gerichtet. Noch während er mit den Augen die Szenen eines Actionfilms verfolgte, spürte er diese aufsteigende Leere in sich, die ihn in den Wahnsinn trieb.
Kein Bass, keine Musik, kein Dröhnen, kein Hochgefühl, keine Mädchen, keine geile Nacht.
Nachdem er ein Stück durch seine Wohnung gelaufen war, ruhelos und ungeduldig, immer das Bild des Mädchens vor Augen, hatte er einen Entschluss gefasst. Mit einem grimmigen Gesicht nahm er seine Jacke an sich, zog die Wohungstür hinter sich zu und verließ seinen Block, um wieder einmal in die Disco zu gehen. Nichts, gar nichts, würde ihn abhalten, an seinem Lieblingsort zu sein und auf Jagd zu gehen. Nicht einmal dieses Mädchen.
Trotz alledem war er vorsichtig und aufgeregt.
Wie nun jeden Samstagabend bahnte sich Eric seinen Weg durch das verdreckte breite Treppenhaus, durch den von der Nebelmaschine produzierten Dunst und die wogenden Menschenmassen. Unter den Sohlen seiner schwarzen Nike-Turnschuhe vibrierte der Bass und schickte Wellen von Erregung durch ihn.
Wie immer und doch anders.
Doch diesmal hielt er nicht Ausschau nach einer vollbusigen Blondine oder der umringten Bar. Sein Blick fiel sofort zur Seite, an die vergilbte Wand. Er erstarrte.
Schon wieder saß sie da, die gleichen zuckenden Bewegungen ausführend, den gleichen Blick. Hastig suchten seine Augen nach Blutspuren in ihrem Gesicht, nach Blicken die an Tote erinnerten, doch sie sah so aus, wie er sie kennengelernt hatte.
Ihre magische Aura, ihre anziehenden Bewegungen ließen ihn die wenigen Schritte bis zu ihr unwillkürlich machen, dann ließ er sich neben ihr zu Boden fallen, sah in ihre leeren Augen, sagte: „Na, auch wieder hier. Wie geht´s?" und zündete sich eine Zigarette an.