- Anmerkungen zum Text
Das ist ein erster Versuch für eine Kurzgeschichte an der ich derzeit arbeite. Ich habe mich mit dem Thema vorher nur wenig befasst und baue daher auf offene Kritik.
Traumwächter
Die Sonne schien durch von Osten durch die große Fensterfront des modern eingerichteten Büros. Die vor ihm sitzende Person konnte Lars wegen des Gegenlichts nur als Schattenriss sehen, erkannte aber an der Form der Silhouette, dass er eine Frau vor sich hatte.
„Es freut mich sehr, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind Herr Reeb.“
Aha, also wirklich eine Frau. Ihre Stimme war zwar recht tief, aber eindeutig weiblich.
„Sie werden sehen, sie haben diesen Weg nicht umsonst auf sich genommen. Wir haben ein sehr lukratives Angebot für Sie, dass Sie interessieren wird.“
Lars richtete sich ein wenig in seinem Stuhl auf und rückte die Brille mit den großen schweren Gläsern zurecht.
„Ein Angebot? Was für ein Angebot?“, fragte er und merkte schon im Ansatz, dass sein Versuch seine Stimme ruhig und tief klingen zu lassen gescheitert war.
„Na ein Jobangebot Herr Reeb. Dies ist eine Firma und wir vergeben Arbeit. Wir möchten, dass Sie für uns arbeiten. Sie scheinen ausgezeichnet zu uns zu passen und – Nun ja, haben die entsprechenden Qualifikationen.“
„Und was für Qualifikationen sollen das bitte sein?“
Die Silhouette schien sich leicht nach vorne zu beugen und sprach ganz leise.
„Herr Reeb, haben Sie schon einmal was von den Traumwächtern gehört?“
Lars nahm einen großen Schluck aus seinem Kaffeebecher und warf einen Blick auf die Uhr. Sie zeigte 4:45 an. Noch vier Stunden, dachte er bei sich. Er rieb sich über die Augen. An die neuen Arbeitszeiten hatte er sich immer noch nicht gewöhnt.
Seine Augen schmerzten von dem kaltweißen Licht der vielen Bildschirme, die vor ihm an der Wand hingen. Jeder zeigte eine völlig andere Szenerie. Auf dem Ersten war eine Wüste zu sehen. Ein Mann, vermutlich der Träumer, grub in eine Düne hinein. Vielleicht suchte er Wasser, vielleicht hatte er auch einfach nur Spaß am Buddeln. Lars hatte aufgehört, die Träume der Menschen verstehen zu wollen. Die meisten waren ohnehin zu verworren, um auch nur einen roten Faden erkennen zu lassen.
Einige Monitore waren schwarz. Entweder die betreffenden Personen waren noch wach oder befanden sich derzeit in einer traumfreien Phase. Gut für mich, dachte Lars. Je weniger Monitore er auf einmal im Auge behalten musste, desto besser konnte er sich auf die anderen konzentrieren.
Sein System zeigte für Bildschirm Zweiunddreißig eine gelbe Warnstufe an. Er betrachtete die Szenerie.
Ein Junge kämpfte in einer Art Supermarkt gegen ein Riesiges mit gigantischen Klauen bewehrtes Geschöpf, das ihn geifernd zu packen versuchte.
Lars öffnete das Menü des Monitors und klickte auf die Schaltfläche „Selbstverteidigung“. Die Warnmeldung verschwand und das System arbeitete wieder normal.
Lars stellte seinen Becher bei Seite und erhob sich. Es war Zeit für einen kleinen Spaziergang. Die ganze Nacht nur sitzen, das machten seine Knochen einfach nicht mit. Schließlich war er auch schon ende 40.
Er stand bereits im Türrahmen, als eine Veränderung der Lichtverhältnisse seine Aufmerksamkeit weckte. Er drehte sich wieder zu den Monitoren um und sah, dass im Bedienfeld eine rote Anzeige aufgetaucht war.
Ihm wurde flau im Magen. Natürlich hatte man ihm gesagt, was in diesem Fall zu tun war, für solche Fälle war er schließlich ausgesucht worden, aber in dem einen Monat, den er hier arbeitete, war der Ernstfall noch nie eingetreten. Er näherte sich dem Bedienfeld.
„Warnung! Erhöhtes Gewaltpotential für Übertragung 46 festgestellt. Manuelle Eingabe erforderlich.“
Sein Blick wanderte zu der Tafel mit der Aufschrift 46 und dem dazugehörigen Bild.
Eine Frau war zu sehen. In ihrer Hand hielt sie eine Schere und öffnete eine mit bunten Aufklebern dekorierte Tür. Jetzt war schnelles Handeln gefragt.
Er öffnete die oberste Schublade seines Schreibtisches und entnahm das darin enthaltene Headset. Er steckte es in den Monitor und zögerte kurz.
Er schob das Mikrophon vor seinen Mund und sagte: „An Ihrer Stelle würde ich das nicht tun.“
Die Frau im Video sah sich um. Dann bewegten sich ihre Lippen. Lars drehte den Ton lauter.
„… Sünde, aber es muss getan werden. Bist du es Gott?“
Er hatte sie kurz abgelenkt, aber es war noch nicht überstanden. Er würde nach Handbuch vorgehen und persönlich eingreifen müssen.
Lars nahm eine grüne Kugel aus der Schublade, steckte sie in den Mund und biss darauf.
Augenblicklich drehten sich seine dunklen Augen ins Schädelinnere und sein gesamter Körper verkrampfte sich. Es dauerte nicht lange, aber es war sehr unangenehm. Als er spürte, dass die Krämpfe nachließen, atmete er kurz durch und öffnete dann die Augen.
Nun stand er selbst direkt vor der Tür mit den Aufklebern und die Frau mit der Schere war neben ihm.
„Sie werden beobachtet. Wenn Sie tun, was auch immer Sie da vorhaben muss ich diese Aufzeichnung veröffentlichen. Bitte gehen Sie noch einmal in sich und denken Sie gut darüber nach, ob Sie das wirklich tun wollen.“
„Du bist nicht Gott“, sagte die Frau und sah ihn mit ihren schönen braunen Augen an. Sie war höchstens dreißig und ziemlich attraktiv.
„Nein, ich bin ein Traumwächter. Sie sollten das nicht tun. Sie würden es bereuen.“
„Ich muss“, stammelte sie, „Das Kind raubt meinem Mann und mir den letzten Nerv. Sie raucht und nimmt Drogen. Und letzte Woche ist sie beim klauen in einer Drogerie erwischt worden. Wie sollen wir denn so leben?“
„Wenn Sie mich zwingen dieses Video zu veröffentlichen, werden alle erfahren, was Sie getan haben. Sie könnten ihre Arbeit und ihre sozialen Kontakte verlieren. Ist ihnen das klar?“
Die Frau sah ihn lange ungerührt an. Dann, im Bruchteil eines Augenblicks, blitzte die Schere in Lars Sichtfeld auf und versank bis zum Griff in seinem linken Ohr. Kurz schrie er vor Schmerz, dann verkrampfte sich sein Körper und er fiel um.
An die Sache mit den Krämpfen würde er sich gewöhnen müssen, dachte er, als er sich langsam aufrappelte. Er war von seinem Bürostuhl gefallen. Er setzte sich wieder hin und beobachtete das Video weiter. Manchmal war eben nichts zu machen.
Er sah ihr dabei zu, wie sie die Tür öffnete und das Zimmer betrat. Die Schere hatte sie hinter dem Rücken versteckt. Sie ging langsam auf das Bett zu, in dem sich ihre schlafende Tochter verbarg. Liebevoll streichelte sie ihr mit der linken Hand über die Wange. Dann richtete sie sich auf, nahm die Schere in beide Hände und stach zu.
Die Situation war alles andere als angenehm für Lars. Dennoch wendete er sich nicht ab. Seine „Speziellen Qualifikationen“, die ihm diese Beschäftigung erst eingebracht hatten, bestanden unter anderem in einer hohen Toleranz für solche Dinge. Jahre lang hatte er sich Splatterfilme angesehen. Und schließlich war auch diese Übertragung nicht wirklich real. Es passierte nur in dem Kopf der Frau. Schlimm genug, dachte er bei sich und speicherte den Clip im dafür vorgesehenen Ordner ab. Dann drückte er die Senden-Taste.
Innerhalb eines Augenblicks war das Video auf allen staatlichen Plattformen verfügbar. Jeder würde es sehen können. Freunde und Nachbarn würden sich von der Frau abwenden. Sie würde vermutlich ihre Arbeit verlieren. Und ob ihr Mann danach noch bei ihr bleiben wollte, war fraglich. Die Tochter würde wohl in ein Heim kommen.
Alles immer noch besser, als wenn Sie wirklich die Schere benutzt hätte. Lars war sich in diesem Moment zum ersten Mal darüber bewusst, dass die Arbeit die er hier erledigte wichtig war. Die meiste Zeit saß er zwar nur rum, aber im Ernstfall konnte er zumindest versuchen, den Menschen ihr Leid zu ersparen, und wo das nicht mehr möglich war, zumindest den Schaden begrenzen.
Natürlich wusste er, dass seine Position scharf kritisiert wurde. Man war sich durchaus nicht einig darüber, ob eine im Traum begangene Gewalttat tatsächlich bedeutete, dass der gleiche Mensch im wachen zustand, ebenfalls die Hand gegen jemanden erheben würde. Aber das Programm lief gut an und schon nach wenigen Monaten fiel die Anzahl der Gewaltverbrechen. Öffentliche Bloßstellung ist ein wirksames Mittel, um Leute in ihr ganz persönliches Gefängnis zu bringen, ohne dafür Unmengen staatlicher Gelder auszugeben.
Vor dem Gebäude ging allmählich die Sonne auf und die ersten warmen Strahlen des Tages vielen auf die am Dach der Büroeinheit angebrachte Leuchtreklame.
In großen blauen Lettern prangte dort das Wort „Dreambook“.