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Traurig erwacht der Dienstag

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12.10.2005
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Traurig erwacht der Dienstag

Für sim

Dienstagmittags gehe ich Justus immer vom Kindergarten abholen, weil unsere Mutter zu dieser Zeit in der Schulbibliothek aushilft. Mein kleiner Bruder steht meistens schon an der Glastür, die zu schwer ist, als dass er sie aufbekommen würde und winkt mir zu. Wenn ich näher komme und die Türe aufstoße, hüpft er an mir hoch und will mich umarmen. Auch diesen Mittag ist es wie jeden Dienstag zuvor. Seine Silhouette sehe ich bereits, als ich mich langsam an den Familien vorbei schlängle.
„Endlich bist du da", sagt er gut gelaunt.
Ich nicke der Kindergärtnerin höflich zu und warte. Mit Mühe zieht er sich die warme Jacke, die vor Jahren von mir getragen worden ist, an und stülpt seine Mütze über den Kopf.
„Fertig, Kleiner? Hast du alles?"
„Jojo."
Einer von seinen kleinen Freunden quetscht sich an mir vorbei, ich grinse und streiche ihm über den Kopf. Er lächelt als Antwort. Wir gehen mit ihm noch bis zum Ende des Weges, der in die Anlage hinein führt und lassen uns von ihm erzählen, wie weit er springen kann; so weit wie niemand sonst auf der Welt. Dann trennen sich unsere Wege und Justus winkt seinem Freund kurz hinterher. In der Einbahnstraße, der wir nun folgen, stehen an den Rändern viele Autos. Manche der Scheiben sind vom sich ankündigen Winter gefroren, andere dagegen vom Laub des sich verabschiedenden Herbstes zugedeckt.
„Und wie war´s heute?"
„Ganz gut. Wir haben Tiere aus Pappe ausgeschnitten. Magst du eins?"
„Ja, klar. Lass mal sehen."
Sofort hält er an, legt seinen Rucksack auf den Boden und wühlt im Inneren herum, sieht nur hin und wieder zu mir hoch, als müsse er überprüfen, ob ich noch da bin. Schließlich schreit er freudig auf und fördert ein kleines Stück Pappe zu Tage.
„Hier", sagt er stolz und zeigt mir ein weißes Tier aus gelber Pappe. Ich erkenne es erst nicht, aber als Justus sich die Nase zuhält und trompetet, weiß ich, dass es ein Elefant sein soll.
„Hast du echt gut gemacht."
Ich stecke mir das Tier in die Hosentasche und klopfe meinem Bruder auf den Rücken. Unsere Eltern werden in einer halben Stunde wiederkommen, dann wird es auch Mittagessen geben und er kann ihnen die anderen ausgeschnittenen Figuren zeigen. Ich gehe gerne diesen Weg mit Justus, spiele dabei häufig mit ihm auf dem Bürgersteig kurze Fangspiele oder einfache Rätsel.
„Was meinst du gibt es heut zu essen?", sagt er und sieht zu mir herauf.
„Ich glaub es gibt Katzenfutter. Thunfisch oder Hühnchen", antworte ich.
„Glaub ich dir nicht, du hast wohl einen Clown gegessen?", sagt Justus und lacht. „Jedenfalls kannst du das dann alleine essen und meine Portion gebe ich Lasse."
„Naja, Lasse kriegt aber ausnahmsweise mal Salat, Pommes und Schnitzel."
„Du lügst. Katzen mögen das gar nicht."
Ich lache und denke an Lasse, unseren Hauskater, der sicher faucht, wenn man sich über sein Katzenfutter hermacht.
„Joa, richtig erkannt. Pommes und Schnitzel sind für dich. Hast du was dagegen, wenn wir einen kleinen Umweg durch den Park gehen?"
Justus schüttelt den Kopf und wir biegen links von der Straße ab, in einen kleinen Parkweg hinein. Der Boden ist frostig und knirscht unter unseren Schuhen. Ich trete auf einen Haufen zerfallender Blätter, spüre sie nachgeben und mich ein paar Zentimeter einsacken. Mein Bruder macht es mir nach, taucht aber fast komplett mit seinen Gummistiefeln ein. Als er sich befreit hat, sehe ich auf den kleinen Abdruck, den seine Stiefel hinterlassen haben.
„Kannst du Lasse nicht mal mit zum Kindergarten bringen? Meine Freunde würden ihn gerne streicheln."
„Puh, ich weiß nicht, ob Mama und Papa das erlauben. Und ich bezweifle, dass Lasse Lust hat, von jeder Menge Kinder mit ihren dreckigen Fingern angefasst zu werden."
„Ich würde allen sagen, sie sollen ihr Finger waschen."
„Mal schauen."
Ich ertappe mich, wie ich überlege, Lasse mit Süßigkeiten in den Katzenkäfig zu locken und ihn mit in den Kindergarten zu bringen. Das arme Tier würde einen Kollaps kriegen, bei den vielen fremden Menschen auf einmal.
„Ich mag Lasse", meint Justus und läuft ein wenig schneller. Er hat Probleme mit meinen großen Schritten mitzuhalten.
„Ich auch. Warte, wir gehen jetzt rechts. Dann kommen wir gleich an der anderen Parkseite wieder raus."
Justus folgt mir ohne Widerworte, spielt nur an seiner Jacke herum und summt ein leises Lied. Ich denke darüber nach, welches Lied es sein könnte, aber komme nicht auf den Titel. Ein unangenehmes Gefühl; etwas zu kennen, aber trotzdem nicht benennen zu können und gleichzeitig noch mehr darüber nachzudenken, wie es heißt. Es wird eines der Lieder sein, die sie im Kindergarten singen. Er kommt häufig nach Hause und summt sie uns vor, während ich am Wohnzimmertisch meine Schulaufgaben mache und unsere Mutter die Wäsche bügelt. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich noch mehr auf sein Gesumme. In Gedanken mache ich es nach, versuche die Melodie mit Worten auszutauschen, Lücken mit Alternativen zu füllen, verschiedene Instrumente einzubauen und die Struktur zu verstärken. Plötzlich klingt es ganz anders in meinen Ohren. Viel langsamer und intensiver, als hätte ich die Kopfhörer meines MP3-Players an und die Lautstärke weit aufgedreht. Aber sein Summen ist nicht verschwunden; im Hintergrund erklingt es wie eine Basslinie.
„Justus. Was singst du da?"
Ich schlage meine Augen auf und sehe neben mich. Er steht nicht mehr dort.
„Kleiner?"
Ich drehe mich im Kreis und suche zwischen den Bäumen des Parks. Vielleicht hat er sich in den Büschen versteckt oder ist gestolpert, während ich weiter gegangen bin? Wieder rufe ich seinen Namen und hetze den Weg zurück. Meine Hände fangen an zu zittern und ich registriere, dass die Melodie in meinem Kopf weiterhin erklingt, und auch sein Summen nicht aufgehört hat, sie zu begleiten.
Ich werde schneller und biege in einen Seitenweg ein. Auf beiden Seiten sind Steinplatten. Wie die Bäume einer Allee rahmen sie den Weg ein; es sind Grabsteine. Ich gehe weiter, die Melodie droht derweil in meinen Gedanken verloren zu gehen. Ich greife nach ihren losen Enden und will sie wieder zusammenfügen, will, dass sie ein Ganzes bleiben und nicht in den knochigen Kronen der Bäume verschwinden.
Dann bleibe ich stehen und merke, dass meine Augen immer noch geschlossen sind. Aber wie konnte ich den Weg gehen, wie konnte ich die Grabsteine sehen? Es ist egal. Ich öffne sie und erblicke eine kleine Steintafel auf dem Boden. Die Melodie ist verschwunden und ich wünsche sie mir wieder herbei. Das vorher noch unbestimmte Gefühl, sie nicht benennen zu können, hat sich verschlimmert, ist mutiert zu einem solchen, bei dem man genau weiß, etwas zu kennen, aber nicht einmal in Gedanken fassen zu können. Flüchtig schwebt es vor meinen Augen, nicht unsichtbar, aber ebenso wenig fassbar.
„Justus", lese ich den ersten Namen des Grabsteins ab. Darunter ist in das Granit eingemeizelt: Geboren 1999 Gestorben 2004
Den Nachnamen teilen wir uns. Ich gehe jeden Dienstagmittag hierhin, während meine Mutter in der Schulbibliothek aushilft und bilde mir ein, ich würde mit Justus nach Hause gehen. Meine Eltern wissen nicht davon, wie sehr ich ihn vermisse und wie sehnlichst ich ihn mir zurückwünsche. Sie sollen auch nicht wissen, dass ich von einem Leben mit dem Bruder, den ich so kurz hatte, aber nie wieder bekommen werde, träume. Dienstage kommen und gehen wieder, Woche auf Woche, monatelang. Ich glaube nicht, dass sie es verstehen würden.
Plötzlich höre ich wieder das Summen meines Bruders und es ist genauso wie vor zwei Jahren, wenn ich ihn Dienstagmittags vom Kindergarten abholte. Ich greife in die Hosentasche und fühle nach dem Stück Pappe, das er mir damals gegeben hat. An den Kanten ist es abgegriffen und es lässt sich biegen wie normales Papier. Der Dienstag gehört Justus und dem Elefanten und so soll es bleiben. Wenn ich ihn schon nicht mehr abholen darf, will ich doch wenigstens meine Augen schließen und bei seinem Grab warten. Selbst, wenn mein Warten nicht belohnt werden wird.
Schließlich drehe ich mich weg und gehe in Richtung Friedhofsausgang. Meine Schritte verhallen auf den zerfallenden Blättern, führen mich von meinem toten Bruder weg. Ich weiß genau, dass ich nächste Woche wiederkommen werde, stets davon träumend, ihn mit nach Hause zu nehmen.

Marburg, 19.12.2006

 

Hallo Sternensegler,

erstmal kurz: Mit den Tempi bist du ab und zu gehörig durcheinander gekommen.
Was genau passiert ist, überlässt du der Fantasie. Der Tod des kleinen Justus muss sich aber wohl auch an einem Dienstag abgespielt haben.
Wenn dem so ist, fehlt mir neben dem Vermissen des kleinen Bruders, ein anderes Gefühl, nämlich, das, welches sich, ob berechtigt oder nicht, Vorwürfe macht. Die traumatische Begleitung, wenn man die Augen schließt und der Bruder ist nicht mehr da.
Manche Formulierungen wie „Justus", lese ich den ersten Namen des Grabsteins ab. empfinde ich noch nicht als rund (in diesem Fall bleibt der Name ja auf dem Grabstein).
Allgemein habe ich das Gefühl, du hast dich als Autor beim Schreiben emotional geschont und dadurch fehlt es eventuell auch der Geschichte ein bisschen an Intensivität.
Über die Fehler muss ich mich später mal hermachen.

Lieben Gruß und frohe Weihnachten, sim

 

Hey sim,
das hört sich an, als wär die Geschichte noch voller Fehler... trotz mehrmaligen Drüberlesen und vier Tagen liegenlassen, bevor ich es gepostet hab. Und auch eventuelle Tempusfehler würden mich nerven... mist.
Bin dir jedenfalls dankbar und werde dir die Geschichte widmen... ich hoffe, dass es okay ist.

Eike

 

Hi!

Alter Schwede xD... von allem was ich bis jetzt von dir gelesen hab find ich diese Geschichte mit Abstand am besten. Ich finde, dass du die Gefühle und Gedanken echt genial beschrieben hast. Die Sache mit der Melodie und dieses unangenehme Gefühl, das er hat weil er sie keinem Lied zuordnen kann ist klasse. Das man nicht genau erfährt was mit Justus passiert ist stört mich etwas, aber andererseits würde es vielleicht etwas von der Atmosphäre nehmen, die du aufgebaut hast. So taucht man nur in die Gefühlswelt deines Prot ein, eine Erklärung würde möglicherweise stören, bzw irgendwie...nicht passen xD
Und als dein Prot den Pappelefanten rausgeholt hat, also...das ging mir ja echt ma nahe:D aber kann auch weibliche Hysterie zur Weihnachtszeit sein *g*
Von Tempus und Rechtschreibfehlern hab ich nich so wahnsinnig viel Ahnung, das überlass ich anderen, nur über einen Satz bin ich so gestolpert das es mir aufgefallen is xD

etwas zu kennen, aber es nicht einmal in Gedanken fassen kann, was es genau ist.

Das erste "es" würd ich weglassen^^

Naja ansonsten fand ich die Geschichte ganz große klasse xD

Glg

Smilla

 

Wow Smilla,
danke für die positive Kritik. Mensch, was freue ich mich darüber, dass du die story so gut findest.

Das man nicht genau erfährt was mit Justus passiert ist stört mich etwas, aber andererseits würde es vielleicht etwas von der Atmosphäre nehmen, die du aufgebaut hast.
Das zweite sehe ich genauso und irgendwie finde ich es auch nicht notwendig. Da kann sich jeder eigene Gedanken drüber machen. Es nimmt etwas von dem Geheimnisvollen. Sicher wäre es leicht einen Satz wie: "Immer wieder denke ich an den Autounfall" einzubauen... aber nee...

Eike

 

Hi Sternensegler

Dienstagsmittags gehe ich Justus immer vom Kindergarten
Dienstagmittags
gehenden Familien vorbei schlängel.
schlängle/schlängele
Naja, Lasse kriegt aber ausnahmsweise
Na ja ...
„Fertig, Kleiner? Hast du alles?"
„Jojo."
Jo, my Digga! Voll der coole, der Kleine. :cool:

Am Anfang etwas langatmig. Aber vermutlich brauchst du das, um die Atmosphäre aufzubauen. Hast du wirklich gut gemacht, aber vllt doch etwas kürzen.
Das Ende, wow, ich hätte fast eine Träne vergossen, wenn ich doch nur weinen könnte.(bin zu cool, dafür;) )
Ehrlich, es war wirklich schön, und das ist die Beste Geschichte, die ich von dir gelesen habe, okay, es ist ja auch die erste. :D

Jetzt wieder ernsthaft, es hat mich berührt und ich kann jetzt eigentlich keine Worte finden, weil es eine wirklich traurige Sache ist. Zumal ich selber meine NIchten manchmal vom Kindergarten abhole und der Weg nach Hause ist wirklich schön und anstrengend und wenn ich daran denke, eins von den KLeinen zu verlieren. :sconf:


Cu J:baddevil:

 

Hey JoBlack87,

Hast du wirklich gut gemacht, aber vllt doch etwas kürzen.
Eigentlich find ich die story ja noch zu kurz... mal schauen, am anfang vielleicht ein weeeeeenig.

Und find ich gut, dass es dich bewegen konnte... und immer locker durch die Hose atmen... ne ;)

Eike

 

Hi Sternensegler,

ich noch mal. Ich weiß nicht, ob du an den Tempi schon etwas geändert hattest, jedenfalls habe ich bei der Korrektur keine gefunden.
Da du gestern editiert hast, muss ich aber sagen, mein Worddokument ist eventuell etwas veraltet.
Auf alle Fälle vielen Dank für die Widmung. Hat mich sehr gefreut. :)

Lieben Gruß, sim

 

Heyho sim,
so, hab deine Anmerkungen reingearbeitet. Danke wiedermal. Schon alleine für die viele Textarbeit (das wird ja langsam sicher in die 100 seiten gehen), hast du die Widmung mehr als verdient!

Eike

 

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