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Treppenspiel
Holterdiepolter die Treppe hinauf
Unsere Füße sie fliegen im Lauf
Oben nicht rasten, wir drehen uns munter
Und holtern und poltern die Treppe hinunter
Lieses Füße trippelten eilig die hölzernen Stufen hinauf. Jeder ihrer Schritte ließ die alte, schon leicht morsche Treppe erzittern, die von der Diele des Hauses ins Obergeschoss führte. Unter Liese knarzte und ächzte es, so als würde jeden Moment etwas unter ihr nachgeben und das Mädchen in die Tiefe reißen. Liese ließ sich davon jedoch nicht beirren. Das Seufzen der knorrigen Stufen, der Lärm der Schritte, das Poltern - dies war der Sinn des Spiels.
Liese und Paul hatten das Treppenspiel früher oft gespielt. Stundenlang waren sie lachend und schreiend die Stufen hinauf und hinunter gerannt und gesprungen, hatten das alte Haus mit Lärm erfüllt. Und mit Leben. Jetzt war es meist still, bis auf das Heulen des Windes, der durch die hölzernen Ritzen pfiff und an den Fensterläden klapperte. Paul war vor fünf Jahren gestorben und Liese schon fast eine Frau, eigentlich viel zu alt für kindische Späße. Aber heute spielte sie – auch wenn ihr bewusst geworden war, dass es sich beim Treppenspiel nie wirklich um ein Spiel im eigentlichen Sinn gehandelt hatte. Das Poltern auf den Holzstufen war ein einfacher, lustiger Zeitvertreib gewesen - ein Spiel höchstens in dem Sinne, in dem es ein Spiel war, die Enten im Weiher mit Steinen zu bewerfen oder auf einen der Bäume im nahegelegenen Forst zu klettern. Aber es hatte ihr und Paul genügt. „In der Not frisst der Teufel Fliegen“, hatte Lieses Vater oft gesagt. Das hatte sich über die Jahre immer wieder bewahrheitet. Man gab sich mit dem zufrieden, was man hatte. In Liese und Pauls Fall hatte man eine alte Treppe aus morschem Walnussholz.
Liese war nun auf der obersten Stufe angelangt, schwang herum und setzte zum Abstieg an. Oben nicht rasten! Ihr Kleid wirbelte, ihre blonden Zöpfe wehten und kurzzeitig fühlte sie sich wieder wie ein Kind. Holterdiepolter. Sie war nun deutlich größer als früher, ihre Beine länger, sie nahm zwei Stufen auf einmal und mit jedem Schritt krachte das Holz. Wäre ihr Vater jetzt hier, hätte er sie vermutlich (so wie er es immer getan hatte) kurz gescholten und gesagt, sie solle endlich aufhören, so einen Krach zu veranstalten und sich ihrem Alter entsprechend benehmen – nur um dann zwei Minuten später selber lachend und johlend die Stufen hinunter zu stampfen, mit Liese an der Hand. So war es schon oft gewesen. Lieses Vater hatte gewusst, welchen sentimentalen Wert dieses kindische Ritual für seine Tochter hatte, und vergaß schnell seine eigenen Ermahnungen, dass sie sich bei einem Sturz noch den Hals brechen würde. Und auch für ihn war es nach Pauls Tod zu einer Möglichkeit geworden, sich an den kleinen Jungen mit den strohblonden Haaren zu erinnern. Mit dem Lärm gegen die Stille. Mit Lachen gegen die Trauer. Doch auch Vater war nun seit fast einem Jahr fort, also spielte Liese allein. Holterdiepolter.
Mit einem Sprung nahm das Mädchen die letzten zwei Stufen. Der Dielenboden schrie krachend auf, eine Wolke aus Staub wirbelte im fahlen Licht umher und kurzzeitig war es still.
„Du kleines unverschämtes Gör …“ Liese drehte sich um. Oben, am Ende der Treppe, stand sie. Die alte verbitterte Frau. Mutter. „Habe ich dir nicht tausendmal gesagt, dass du mit diesem gottverdammten Krach aufhören sollst?!“ Liese antwortete nicht. Sie blickte auf den Boden, in den Staub, wagte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. „Aber wer nicht hören will, muss fühlen. Komm her.“ Die Stimme klang ruhig, aber Liese konnte hören, wie sie vor Wut leicht zitterte. Sie hob ihren Blick. Ihre Mutter stand dort, breitbeinig, barfuß, schwer atmend, in einem vergilbten Leinenkleid, das wohl einmal weiß gewesen war. Das dünne, ungewaschene Haar war fiel ihr in zerzausten Strähnen vom Kopf. Liese hatte sie vermutlich geweckt. In der Hand hielt sie den Rohrstock. „Wirst du wohl herkommen, du vermaledeites Balg?!“ Der Ton der Frau wurde schärfer. Liese ging mit langsamen Schritten auf die Treppe zu. Sie wollte die Prügel nicht, aber sie würde sie früher oder später bekommen – und wenn sie sich nun weigerte und ihre Mutter zwang, mit dem kranken Bein die Treppe hinunterzusteigen, würden sie nur umso schlimmer ausfallen. Einmal hatte Liese statt des Rohrstocks den Schürhaken aus dem Stubenofen ertragen müssen. Zehn Schläge. Das würde ihr nicht noch einmal passieren.
Holterdiepolter die Treppe hinauf
Liese nahm die Stufen nun langsam und bedächtig. Trotzdem knarzte das Holz mit jedem Schritt, wirkte nun noch lauter als zuvor. Um sie herum war es still geworden. Sogar der Wind schien kurzzeitig den heulenden Atem anzuhalten. Lieses Mutter stand oben, bis auf das wütende Zittern fast regungslos, den Stock fest in die rechte Hand eingeschlossen.
Unsere Füße sie fliegen im Lauf
Die Treppe hatte zwanzig Stufen. Liese hatte sie oft genug genommen, um das zu wissen. Nun waren es noch vierzehn. Vierzehn Schritte, bis sie die Prügel der Mutter erwarteten. Liese senkte erneut den Blick. „Du verdammte Hundsfott, wenn du nicht auf der Stelle hier oben bist, dann …“ Die Stimme der Mutter überschlug sich, sie hob den Rohrstock bedrohlich über ihren Kopf. Liese nickte stumm und beschleunigte ihre Schritte. Um sie herum ächzte das Holz. Zehn Stufen. Fünf. Sie sah ihrer Mutter in die Augen. Dort war keine Liebe mehr, nichts von dem, was sie einst im Blick der Frau hatte sehen können, als Paul und ihr Vater noch mit ihnen im Haus wohnten. Keine Liebe. Kein Lachen. Zorn. Wahnsinn. „Schneller, habe ich gesagt, schneller du kleine Hure!“ Sie schrie jetzt, den rechten Arm immer noch zitternd über den Kopf erhoben.
Liese hatte die letzte Stufe erreicht. Die Mutter trat einen Schritt zurück, wie um Liese Platz zu machen, und schlug dann unvermittelt zu. Normalerweise legte sie Liese übers Knie, selbst jetzt noch, obwohl ihre Tochter schon fast eine erwachsene Frau war. Diesmal konnte sich Liese nicht auf den Schmerz vorbereiten. Der Stock traf sie auf die linke Wange, schleuderte ihren Kopf zur Seite und sie zu Boden, gegen die massive Holzbalustrade. Ihr Kopf dröhnte. Oder war das der Wind, der wieder zu heulen begonnen hatte? Sie schmeckte Blut.
Oben nicht rasten, wir drehen uns munter
Die Mutter schnaufte zornig. „Da siehst du, was davon kommt, wenn du mir nicht gehorchst. Steh auf!“ Liese folgte und erhob sich langsam. Die Mutter winkelte den Arm erneut an, holte zu einem zweiten Schlag aus. Der Rohrstock schnellte erneut nach vorne, doch diesmal duckte sich Liese und tauchte unter dem Arm der irren Frau hindurch. Der hölzerne Stab schlug mit einem Krachen auf das Treppengeländer. Nun stand Liese mit dem Rücken zur Wand. Vor ihr die Treppe, dazwischen die Mutter, die herumschnellte so flink es ihr das erkrankte Bein zuließ. „Muss ich wieder das Eisen aus dem Ofen holen, du ungehorsames Balg? Mein ja nicht, dass du mir davonkommst!“ Die Schreie schmerzten in Lieses Ohren, besonders in dem, das der erste Schlag getroffen hatte. Sie stand auf. Das Gesicht der Mutter war rot vor Wut, Tränen standen ihr in den Augen. Tränen … Ein weiterer Schlag traf Liese, diesmal auf der anderen Seite, warf sie gegen die Wand. Sie stand wieder auf. „Lauf ruhig weg, du …“ Liese macht einen Schritt nach vorne. Die Mutter hielt kurz ein, verunsichert, verwirrt. Ihr Mundwinkel zuckte. Liese starrte sie an, dann an ihr vorbei. Die Mutter holte erneut aus. Zwanzig Stufen.
Und holtern und poltern
Sie gab ihrer Mutter einen Stoß.