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Trostlichter

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01.10.2002
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Trostlichter

Leuchtgloben verteilen sich um sein Bett. Ich liebe das warme Licht, die Atmosphäre in seinem Zimmer. Er ist mein Lieblingsgast, obwohl ich ihn nicht kenne. Es gibt kaum etwas zu tun. Das einzig Wichtige: Ich soll mir die Hände desinfizieren. Warum? Ist er krank?
Ich lasse den Staubsauger einfach laufen. Hier gibt es nie etwas zu saugen. Ich sehe noch die Saugspuren vom Vortag und im Schutz des Brummens schaue ich mich um.
Seine Globen. Hat er sie geerbt oder in Antiquitätenläden entdeckt? Sie sehen aus wie eine Familie, kleine, größere, ältere, jüngere Exemplare. Weltkugeln mit anderen Grenzziehungen, ein Reliefglobus für Blinde. Ob er eine Frau hat? Vielleicht sogar Kinder? Würde man sonst eine Ersatzfamilie um sich herumscharen?
Er wäre Journalist, sagte die muffige Zimmerfrau.
Vielleicht braucht er tröstliches Licht, wenn er nachts schreibt. Eine Trostlampe, wie das grüne Steckdosenlicht im Kinderzimmer meiner Schwester.

Ich habe nur ein kleines Zeitfenster zum Putzen, darf seine Dinge nicht anrühren. Außer einer randlosen Brille liegt kaum etwas auf dem Schreibtisch. Ein aufgeschlagenes Reisemagazin, Wüstenfotos, ein Porträt: Wind in den Haaren, scharfkantiges Profil. Ist er das? Wozu braucht er eine Suite? Wenn er außer Leuchten nichts besitzt? Ich darf die Lichter nicht ausmachen. Er braucht sie, wenn er wiederkommt, seine Familienlichter.

Ich halte es nicht aus, möchte wissen, was mit ihm los ist.
Ist dies seine letzte Station, sein letztes Hotel? Braucht er das Gefühl fort zu sein, auch wenn er nicht verreist? Vielleicht will er nicht ins Krankenhaus, Hotel statt Hospiz.
Ich hocke mich neben sein Bett und drehe die Globen. Manchmal leuchtet das Meer zartblau, manchmal nachtblau. Manchmal auch türkis oder wie heller Tee. Am liebsten möchte ich Fotos machen und sie bei Instagram einstellen. Aber dann würde ich ihn verraten.
Sas habe ich ein Foto von der Leuchtglobenfamilie gezeigt. Das war etwas anderes. Sas kennt alle meine Geheimnisse. Sie ist nicht wie die anderen in der Uni. Keine Beautybloggerin. Keine Einrichtungsfetischistin. Sollen die anderen bei Scandinavian Rainbow bleiben. Alles in Grautönen mit Kaktus im Regal, bis auch der aus Lichtlosigkeit grau wird.
„Fallen seine Wangen ein?“, hatte Sas gefragt. „Wird seine Haut grau?“
Sie will immer alles wissen. Wie ein Kind, direkt und ohne Rücksicht. So war sie schon immer.

Sie ruft mich an, wie jeden Abend: „Hey, was macht dein Journalist?“
Und dann stürzen weitere Sas-Fragen auf mich ein, jeden Tag die gleichen. Von denen ich mir die meisten selbst stelle.
Was macht er, wenn er nicht auf seinem Zimmer ist?
Über was schreibt er jetzt? Wann hörte er auf, Reisejournalist zu sein? Warum hat er sich nicht eine Wohnung genommen? Wer zahlt die Rechnungen?
Sas ist immer so geschäftssinnig. Und gierig.

Obwohl mich ihre Fragen zunehmend nerven, oft sogar ärgern, bin ich froh, mit ihr über ihn zu sprechen. Auf der Uni darf sonst niemand etwas erfahren. Weder über meinen Putzjob, noch meine Obsession. Beides würde dort ohnehin niemand verstehen.

Ich träume von Reisen mit ihm, an „seine“ Orte.
„Was meinst du, Sas? Würde er sich in mich verlieben? Ja oder nein?“
„Vor seiner Krankheit eher nein. Da wärst du nur ein Zimmermädchen gewesen.“
Sie sagt Zimmermädchen, nicht sein Zimmermädchen. Warum muss sie mich immer kränken?
„Du weisst genau, dass das hier nur eine Etappe ist“, sage ich. In zwei Wochen tausche ich wieder Bücher gegen Putzeimer.
„Frauen waren für ihn bestimmt auch nur Etappen“, meint Sas lapidar. „Und seine letzte Freundin hätte ebenfalls darauf bestanden, den Unterschied klar zu betonen.“ Sas geht auf unser Spiel mehr ein, als mir lieb ist. Sie tut ja fast, als ob sie ihn kennen würde.
Hey, das ist nur ein Spiel, möchte ich sie am liebsten anschreien.
„Du bist selbst überheblich.“ Jetzt möchte ich Sas bewusst verletzen. Meine immer dünner werdende Sas auf ihrer Dauerdiät.
„Was wird aus den Globen, wenn er nicht mehr da ist? Wer wird sie erben?“
„Vielleicht du?“ Sas kichert, bis sie hustet. „Er hat niemanden, sonst würde er nicht im Hotel wohnen.“
„Man kann trotzdem im Hotel wohnen, oder?“, entgegne ich schärfer als beabsichtigt. „Wenn man niemanden belasten will.“
„Ich würde nichts sagen. Ich wäre einfach weg.“
„Weißt du, was meine größte Angst ist? Wenn ich ihn finden würde. Morgens beim Putzen.“
„Das wäre traurig.“ Sas hört sich an, als ob sie gleich weinte.

Sas wird in letzter Zeit unmöglicher. Sie hat immer Zeit. Was macht sie bloß? Studieren auf keinen Fall. Auch wenn Semesterferien sind. Meine Süße interessiert sich für nichts mehr, auch nicht für unsere gemeinsamen Treffen. Auf Insta sehe ich, dass sie langsam knochig wird. Sie ist eine Kerze, die schon in der Schule von beiden Seiten brannte und in letzter Zeit lichterloh. Und bald wird sie alles in Brand setzen.

Plötzlich steht Sas vor mir. Ich zucke zusammen.
„Hey spinnst du?“, zische ich zur Begrüßung und hoffe, dass die strenge Zimmerfrau nichts mitbekommen hat.
Was soll das? Warum muss Sas mich ausgerechnet auf der Arbeit besuchen? Und wie konnte sie sich an der Rezeption vorbeimogeln?
Vorher wollte sie mich Wochen lang nicht sehen, nur abends telefonieren.
Und jetzt steht sie vor mir. Im schwarzen Minikleid mit Augenringen und durchsichtiger Handtasche. So ein Monsterteil, das sie wie ein kleines Mädchen wirken lässt. Der Inhalt ist das einzig Bunte an ihr, nicht wirklich bunt, was vor allem an der Familienpackung Tempos liegt.
„Komm, hab dich nicht. Du hast mir von ihm vorgeschwärmt.“
Sas stolziert im Zimmer herum, als wäre sie schon oft hier gewesen.
Sie streicht über den Blindenglobus. Erst vorsichtig, dann grob.
„Da sind sie ja, deine berühmten Einschlaflampen.“ Sie dreht an den Leuchtgloben. Knipst die Lichter an und aus. An und aus. Ein Licht geht kaputt.
„Was soll ich machen?“ Ich werde sauer.
„Was soll ich machen?“, äfft sie mich nach. „Freu dich doch, hast du endlich einen Grund, ihn kennenzulernen.“
Ja, ich würde ihn tatsächlich gern kennenlernen.
„Er ist wirklich attraktiv.“
„Sas, das ist kein Spiel mehr.“
Rasch verschwindet sie im Bad, füllt ihre doofe Aquarium-Tasche mit Miniseifen und Shampoos. Ich hoffe, dass die Zimmerfrau nichts bemerkt.
„Sie wird denken, dass ich alles eingesteckt habe.“
Aber Sas kichert nur. „Das ist doch fast das Gleiche. Ob ich oder du.“
„Ich lass dich rausschmeißen.“
„Dann schmeißen sie dich mit raus ...“
Sie spielt mit dem kleinsten Globus Fußball. „Da, jetzt lohnt es sich wenigstens zu beichten.“

Sas ist wie das Logo auf dem Janus-Wechselbildglobus. Doppelgesichtig, wechselhaft.
Wie ein Kind. Oder ein ungezogener Hund.
Ich lasse mir Strategien durch den Kopf gehen.
Einmal musste ich einen unangeleinten Hund ins Fell packen, um Schlimmeres zu verhindern.
Ich versuche, Sas den Globus zu entwenden.
Sie lässt sich kichernd aufs Bett fallen, und wirft ihn auf das gegenüberliegende.
„Was ist nur los mit dir?“
So überdreht kenne ich sie gar nicht.
Ich fasse in ihre Haare. Ein Quieken wie bei einem Hund. Am liebsten würde ich sie vor die Tür zerren.
Haare in meiner Hand. Auch das noch.
„Sas, hör endlich auf mit deiner Dauerdiät, du hast bald keine Haare mehr auf dem Kopf!“
Dabei ist er doch der Kranke.
„Pass auf, Sas“, zische ich leise, bemüht nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. „Vielleicht hat er Glatze und bemerkt deine Haare!“
„Was für ein Quatsch!“, entgegnet sie immerhin flüsternd. „Fremde Haare fallen immer auf, anders als die Eigenen. Vielleicht nimmt er eine Freundin mit.“
Der Gedanke war mir noch nie gekommen.
„Vielleicht hat er auch hier eine Freundin. Und die achtet auf fremde Haare.“
Sas und ich haben die gleichen, dichten Korkenzieherlocken, ihre dünner als meine, in letzter Zeit noch dünner.
Ich beneidete sie deswegen, meine Haare lassen sich nie bändigen.
Aber jetzt übertreibt sie alles. Nicht nur ihre Haare sehen beschissen aus.
„Sas, es geht nicht immer um dich.“ Ich nehme ihr Gesicht in die Hände, ihre Wangen sind schmaler als sonst. „Schau mich an. Alle werden denken, dass ich es war. Dass ich Pause gemacht habe im Hotelbett.“
Sie schaut mich fragend an.
„Ich könnte nie beweisen, dass ich damit nichts zu tun habe.“

Sas steht geschwind auf, klaut meine Schlüsselkarte und rennt raus.
Ich höre, wie sie gegen etwas stößt. Der Putzwagen. Garantie für neue blaue Flecken. Ich hechte hinter ihr her, stolpere über den Staubsauger.
Die kleine Verzögerung nutzt Sas und verschwindet.
Im offenen Nebenzimmer. Ihre Handtasche füllt sich verräterisch mit weiteren Seifen und Proben.
Wo bleibt nur die Zimmerfrau? Sonst entgeht ihr nie etwas. Aber vielleicht raucht sie heimlich auf der alle Zimmer umlaufenden Außenterrasse. Ganz hinten, wo man nur noch den Aufzug hört.
Sas ist meine Freundin gewesen.
Diese kleine Egoistin.
Ihre Haare liegen überall im Bett. Am besten hole ich neues Bettzeug und lasse das alte unauffällig verschwinden.

Und was mache ich mit dem Globus?
Vielleicht denkt er, ein Wind hätte ihn heruntergefegt.
Sas im Nachbarzimmer. Wie ich ihr Kichern hasse!
Und dann Schritte.
Kommt sie zurück?
Oder die Zimmerfrau?
Oder er?

Die Begegnung habe ich mir anders vorgestellt.
Er ist nicht grau im Gesicht. Stattdessen Gletscheraugen, Winterbräune.
Haare, ja. Aber vielleicht sind es nicht seine.
Er schaut mich an.
Ein Erschrecken, als würde er mich kennen.

Ich habe ihn nie gesehen.
Aber er mich. Oder jemanden, der mir ähnlich sieht.
Ich fühle, Eifersucht in mir hochkommen. Sehe ihn mit einer anderen. Sehe, wie er das Bett zerwühlt.
Das Bett ist schon zerwühlt.
Seine Augen weiten sich. Er entdeckt das Chaos. Hoffentlich bin ich meinen Job nicht los.
„Ich dachte ...“, sagt er leise, mehr zu sich selbst. „Ich habe Sie mit jemandem verwechselt.“
Erst jetzt fällt mir der Beutel auf, den er um den Hals trägt. Ein Chemotherapiebeutel.
Er macht hier seine Therapie. Vielleicht eine moderne Variante, bei der nicht die Haare ausgehen.
„Ich werde alles in Ordnung bringen.“
„Das alles brauche ich ohnehin nicht mehr.“
Ich werde traurig. Möchte nicht, dass er auszieht.
„Nein, nicht so, wie Sie denken“, beeilt er sich zu sagen, als wolle er mich beruhigen.
Woher will er wissen, was ich denke?
„Was wäre für Sie das Schlimmste?“ So eine klassische Was-wäre-wenn-Frage, wie in der Uni. Will er Spielchen spielen? Das ist fast noch schlimmer, als dass er mich ertappt hat.
„Vorhin fragte ich mich, wie ich alles wieder aufräume.“ Ich entscheide mich für die Wahrheit.
Er schaut mich offen an. Durchdringendes Blau, etwas zu forsch, Lachfältchen, die ich normalerweise sexy fände. Sas hat Recht. Er ist attraktiver als gedacht. Hoffentlich entgeht ihm, wie sehr ich über ihn nachdachte. Dass er mir vertrauter ist als ein Liebhaber.
„Das war ich nicht.“
„Das habe ich mir schon gedacht.“

„Mir geht es gut“, sagt er nach einer Pause, um mich – vielleicht – zu trösten. Aber ich lasse mich nicht verarschen. Das Blut auf dem Klo. Oberflächlich entfernt. Aus Sicht eines Zimmermädchens. Aber ich sah sie, die kaum sichtbaren Spritzer.
„Das war harmlos“, meint er, als hätte er meine Gedanken erraten. „Das war nur eine Fissur. Verstopfung von der Chemo.“ Er redet so vertraut wie mit einer Leidensgenossin, die er wöchentlich mehrmals sieht. „Nett, dass Sie sich Sorgen um mich machen. Aber es ist die Kleine, die Ihnen so ähnlich sieht ...“
Was sagt er da? Die Kleine?
Meint er die Kleine mit den Taschen voller kleiner Seifen und Mini-Shampoos? Die vielleicht im Nebenzimmer Schubladen aufzieht? Und ihre Tasche mit Uhren und Schmuck füllt?
Oder noch erschreckender: Vielleicht wollte Sas gar nicht mich besuchen. Sondern ihn.
Weil sie ihn schon kannte. Länger, als sie je zugeben würde.
Bevor ich sie suche, brauche ich selbst den Trostglobus, das Trostlicht.
Wie Gute-Nachtlampen in Steckdosen, bevor das Licht ausgeht. Bevor das Licht ausgeht.

 

Liebe @petdays

In diesem Moment, in ihrer Wut, meint sie das tatsächlich. Da ist eine wirklich große Wut, vielleicht auch Hilflosigkeit. Das bedeutet nicht, dass sie die Freundschaft für beendet erklärt. Momente später ändert sie ja ihre Meinung wieder.

Okay. Und das kann ich nachvollziehen.

Vielen Dank auch für Deine weiteren Überlegungen. Das Bild, dass Sas womöglich mehr als nur Seifen in ihre Tasche steckt, würde ich - vorerst - behalten, weil es ihre Verzweiflung, dieses Gefühl "es kommt auf nichts mehr an" ausdrückt, vielleicht möchte sie gern "erwischt" werden, sucht absichtlich nach dem Konflikt, um letztendlich getröstet zu werden.

Gern geschehen.
Das kann ich verstehen.

Ganz liebe Grüße und weiterhin viel Spaß beim Schreiben und Kommentieren,
Silvita

 

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