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Ultima Ratio
Ultima Ratio
Der Regen trommelte rhythmisch auf das Dach der Kirche. Pfarrer Johannes Braun war durch das Geräusch so entspannt worden, dass er trotz der unbequemen Kirchenbank und den furchtbar schmerzenden Gelenken bei seinem allabendlichen Gebet eingeschlafen war.
Johannes träumte. Von herumspritzenden Blut, von prachtvollen weißen Flügeln, die durch schreckliche, unbeschreibliche Waffen zerfetzt wurden. Von seltsamen, furchtbaren Kreaturen die durch Nacht und Zwielicht schlichen und nicht von dieser Erde zu sein schienen. Er wanderte in seinem Traum auch durch bizarre, verstörende Landschaften. Viele der Wesen, denen er begegnete, sahen ihn voller Hohn an und lachten ihn aus, verspotteten ihn. Eines der Wesen kam auf seinen abartig krummen Beinen auf ihn zugehüpft. Johannes versuchte wegzulaufen, aber er konnte es nicht. Seine Glieder gehorchten ihm nicht mehr, er versuchte mit seinen Händen seine Beine vom Boden wegzubekommen. Es blieb bei einem Versuch. Johannes sah wieder auf. Gegen seinen Willen konnte er das furchtbare Wesen genauer betrachten. Es war feuerrot und hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einer riesigen Kröte. Vorne am Rumpf hatte es zwei verkümmerte Arme, mit langen gebogenen Klauen. Das schreckliche Ding riss den Rachen auf. Entblößte eine reihe nadelspitzer Zähne, von denen der Geifer tropfte. Es sprang. Johannes schrie auf.
Der Schrei des Pfarrers hallte durch die leeren Gänge der Kirchen und wurde zu ihm zurückgeworfen. Er war aufgefahren und sah sich erschreckt nach allen Seiten um. Johannes ließ sich wieder auf die Kirchenbank nieder. Er zog ein besticktes Taschentuch heraus und tupfte sich den Schweiß vom Gesicht. Ein heftiger Wind, der an ihm Vorbeistrich ließ ihn zittern. Mit runzelnder Stirn drehte er sich um. Das große Eingangstor stand offen. Wind und Regen wurden in das innere geweht. Johannes schüttelte fragend den Kopf und sah zu der Statute Jesus empor. Der Sohn Gottes hing am Kreuz und starrte ihn aus seinen leblosen Augen an.
„Wie ist denn das Tor aufgegangen?“, fragte er den Heiland und sich selbst. Mit einem Seufzer stand Johannes auf. Der Wind zerzauste sein graues Haar, während er sich durch den eindringenden Regen an das Portal herankämpfte. Mit einem stillen Gebet er Herr möge ihm Kraft geben schloss er die schweren, gusseisernen Torflügel. Für einen Moment musste er sich abstützen und sein Atem kam nur noch stoßweise, sein Herz hämmerte gegen seine Brust. Mit sechzig Jahren sollte man solche Dinge den jungen Menschen überlassen.
Nachdem er sich wieder erholt hatte, betrachtete Johannes verwundert die alten und ehrwürdigen Tore. Sie wurden nur an Sonntagen von einem Ministranten oder dem Organisten geöffnet. Ansonsten benutzen die Menschen, die den Pfarrer oder die Kirche besuchen wollten, die kleine Eingangstür, die in dem großen Portal eingelassen war. Es wäre auch viel zu umständlich und zu anstrengend jedes Mal das große Tor aufzustemmen, nur um in die Kirche zu kommen. Möglicherweise war sie gestern doch nicht richtig geschlossen worden und der Wind hatte sie nur wieder aufgedrückt. Er überlegte ob er das Portal und auch die kleine Eingangstür mit der Sperre verriegeln sollte. Johannes verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Seit er seinen Dienst vor zehn Jahre in der kleinen Gemeinde Kaltenwesten angetreten hatte, hatte er die Kirche immer offen gehabt. Falls jemand im Dorf Schutz, Trost oder Obdach brauchte. Das war aber selten der Fall. Die meisten Gemeindemitglieder sah er bei der Taufe, der Kommunion, manchmal auch bei Hochzeiten. Bestimmt immer bei Beerdigungen. Ansonsten sah er sie nach diesen Ereignissen nie wieder. Er reinigte seine Brille und setzte sie wieder auf. Durch die flackernden Kerzen an die Wand geworfen, sah Johannes einen tanzenden Schatten. Doch ein Besucher, einer von außerhalb der das große Portal geöffnet hatte. Ein Gemeindemietglied aus Kaltenwesten hätte niemals das Tor geöffnet. Ortsfremde übersahen aber oft die kleine Einganstür. An einen Verbrecher wollte Johannes nicht glauben. Nach seiner Meinung gab es in seiner Kirche nichts von Interesse. Übersah aber dabei den gut gefüllten Opferstock zu den Füßen Jesu Christi.
„Hallo“, rief er und schaute sich um. Aus den Augenwinkel nahm er eine Bewegung war. Weit oben auf der Empore. Er wandte sich um und prallte erschrocken zurück. Dort oben auf dem Geländer hockte ein Mann. Er betrachtete den Pfarrer wie ein Raubvogel seine Beute. Johannes beugte sich mit wackeligen Knien nach vorne. Zuerst bemerkte er links und rechts neben dem Fremden zwei helle Schemen, die sich zu bewegen schienen. Johannes kniff die Augen zusammen und er klappte seinen Mund auf. Die zwei hellen Schemen waren zwei gespreizte Flügel. Sie verfügten über eine enorme Spannweite und dienten im Moment wohl dazu, sein Gleichgewicht auf dem Geländer zu halten. Die Schwingen wirkten im schwachen Kerzenlicht beschmutzt und eigenartig zerzaust Das viele Rot verlieh den Flügeln ein seltsames Muster. Es war so wie in seinem Traum.
Das muss Blut sein, schoss es ihm durch den Kopf. Selbst in der kläglichen Beleuchtung schimmerten sein silberner Oberkörperpanzer und seine Beinschienen herrlich und doch schrecklich zu gleich. Johannes bemerkte seine Muskellösen Arme und Beine. Sie waren von Narben übersät. Über die Schulter des Fremden ragte ein kunstvoll, verzierter Schwertgriff hervor.
„Das ist nicht real- das kann nur ein Traum sein“, versuchte sich Johannes einzureden.
„Priester!“, donnerte eine unglaublich schöne und doch von einer schrecklichen Härte durchdrungene Stimme. „Du träumst nicht.“ Mit diesen Worten stieß es sich vom Geländer ab. Für einen kurzen Moment sah es so aus als würde er wie ein Stein zu Boden fallen, aber dann trugen ihn die Schwingen und er schwebte sanft nach unten. Johannes starrte das Wesen noch immer mit offnem Mund an. Er spürte wie unter ihm seine Knie weich wurden und schwärze umfing seine Augen.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Fußboden und dieses Etwas kniete neben ihm. Es starrte ihn aus seinen dunklen, seelenlosen Augen an. Johannes konnte sein Gesicht jetzt deutlich sehen. Es wirkte eher zart und feminin. Dazu noch die langen blonden Haare, die wie ein Heiligenschein zu leuchten schienen. Das Wesen sah aus wie eine junge, hübsche Frau. Im Gegensatz dazu standen aber seine imposante Größe und die muskulösen Arme und Beine. Der ganze Körperbau schien zu sagen, dass das hier ein Mann war. Wenn Johannes aber in sein Gesicht sah, meinte er es sei eine Frau.
„Großer Gott im Himmel“, entfuhr es dem Priester. Ein Lächeln umspielte die vollen, kirschroten Lippen des Engels
„Von da komme ich her“, sagte er, „und glaube mir so groß ist Er nicht.“ Hatten Engel wirklich Humor?
„Du….du bist ein Engel.“ Johannes hatte die Wirklichkeit endlich akzeptiert.
„Ja“, war die simple und doch erschütternde Antwort. „Gott schenkte mir den Namen Uriel.“ Ein Erzengel, er war das Licht Gottes. Uriel offenbarte den Menschen göttliche Geheimnise.
„Dann bist du der Uriel der mit Jakob rang“, sagte Johannes. „Und der selbe, der Noah vor der Sinnflut warnte.“
„Der bin ich“, erwiderte die Lichtgestalt. „Ich war auch an der Seite von Michael, als wir Luzifers unheiligen Thron vom Himmel fegten. Ich kämpfte gegen die rebellierenden Engel und half mit sie in die Finsternis der Hölle zu verbannen. Ich sah wie Gottes Liebe für diese großen Geschöpfe, ihr nennt sie Dinosaurier, schwand. Seine ganze Aufmerksamkeit galt nun den Säugetieren. Einen besonderen Narren hatte er später an euren Vorfahren den Affen gefunden. Es bereitete ihm großes Vergnügen euch Stück für Stück die Entwicklungsstufen erklimmen zu lassen und dabei zuzusehen wie ihr euch bekriegt. Er liebt euch, wie ihr es euch nicht vorstellen könnt. Wenn der Allmächtige seinen Spaß mit den Menschen gehabt hat, wird er euch vernichten. So wie er es mit den Dinosauriern getan hat. Zu jener Zeit war ich Regent der Sterne und Gott vertraute mir diese Aufgabe an. Ich ließ den zweiten Mond der Erde hinabstürzen und leitete damit die Vernichtung ein.“ Der Engel hatte mit seinem Monolog geendet.
Johannes ballte seine Hände zu Fäusten, so sehr das die Knöchel weiß hervortraten. Mit einem Aufschrei hieb er mit voller Wucht gegen den Brustpanzer der Lichtgestalt und ein erneuter Schrei hallte durch die Gänge der Kirche. Sein Vater hatte all die Jahre recht gehabt. Das konnte nicht sein, es durfte nicht sein. Denn dann hätte er sein Leben weggeworfen, vergeudet für einen furchtbaren und falschen Gott.
„Was willst du von mir?“, schrie er Uriel an. Der schaute gelassen auf den Priester. „Ist das ein Test? Will Gott meinen Glauben testen?“ Er rieb sich die schmerzenden Hände.
„Nein, ich bin gekommen um dir zu sagen, dass der Himmel nicht so ist wie ihr ihn euch vorstellt. Nun nicht mehr. Das Paradies ist nur noch eine weitere Hölle.“ Uriel zog sein mächtiges Breitschwert und hob es Johannes wie zu einem schrecklichen Beweis entgegen. Der Priester kroch zurück, stieß aber schnell mit dem Rücken gegen eine Kirchenbank.
„Im Himmel tobt die letzte, ultimative Schlacht. In deinem minderwertigen Wissen und Verständnis würde man sagen, dass Armageddon ausgebrochen ist. Götterdämmerung, wie immer du es nennen willst. Die Mächte des Lichts prallen auf die Kräfte der Finsternis. Luzifer glaubt, nun sei seine Zeit gekommen und er hätte genug Armeen für den Endkampf versammelt. Die Heerscharen Luzifers haben die Gewalten bezwungen, die unglaublich riesige Grenzarmee. Damit haben sie die Grenze überschritten, die den Himmel von der Hölle trennt. Verschiedene Bastionen und Bereiche sind schon überrannt worden.“ Uriel sah nach unten und sein schönes Gesicht verdüsterte sich.
„Wir halten immer noch stand und haben erfolgreiche Gegenangriffe geführt. Trotzdem ist der Gegner stark und zahlreich. Wir könnten verlieren. In diesem Fall würde Gott eine furchtbare Waffe einsetzen. Ein allerletztes Mittel, dass alles vernichten würde, eine Ultima Ratio. Vom Universum, dem Himmel, der Hölle und der Erde so wie ihr meint sie zu kennen würde nichts mehr übrig bleiben. Es würde alles von Anfang an beginnen.“ Uriel machte eine Pause.
„Kannst du dir überhaupt vorstellen Mensch“, fuhr der Engel fort, „wie schwer es ist, einen Dämon zu töten? Selbst wenn man ihnen den Kopf von den Schultern schlägt kämpfen sie weiter. Und uns Engel muss man geradezu verstümmeln, kurz und klein schlagen damit wir sterben. Wir alle erfahren in diesem Krieg nur unendliches Leid und mit jedem Tag der vergeht wird es schlimmer.“ Uriel hob den Kopf und lauschte.
„General Michael ruft mich auf das Schlachtfeld zurück. Du sollst aber hier auf Erden eine wichtige Aufgabe erfüllen, dir wurde eine besondere Ehre zu teil. Wie der Sohn Gottes musst du eine schwere Bürde schultern.“
„Was kann denn Gott von mir verlangen?“, erwiderte der Pfarrer. „Hat er mir mit diesem Wissen nicht schon genug angetan?“ Der Engel schüttelte den Kopf.
„Nein, dein Leidensweg wird weitergehen. Denn du sollst von der letzten Schlacht berichten, du sollst der Chronist unsere Leiden werden. Sage den Menschen, dass es keine Erlösung für sie gibt. Sobald eine Seele hinauf oder hinab steigt, wird sie zu einem Soldaten. Egal ob gut oder böse, sie werden früher oder später alle im Fegefeuer landen. Wisse dies und predige dieses Wissen.“
Johannes sah den Erzengel an. Uriel nickte ihm zu und ritzte die Wange des Priesters mit seinem Schwert. Blut rann hinab.
„Damit du niemals vergisst.“ Mit diesen Worten stand der Engel auf, sah zu der Statute von Jesus empor und sagte:
„Diesen da kannte ich wohl!“ Er verschwand in einem grellen Lichtblitz.
Johannes befand sich noch immer in einem Schockzustand. Er hatte etwas gesehen und mit jemanden gesprochen. War es wirklich ein Engel gewesen? Johannes zweifelte und fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht. Er sah sich die Hand an und entdeckte Blut daran, das Rot zeichnete ein wirres Muster auf die Innenfläche seiner Hand. Von da an wusste er, dass es real gewesen war.
An jenem Abend wurde Johannes Glauben schwer erschüttert und etwas ihn ihm war zerbrochen. Seine Albträume wurden immer schlimmer, der Traum auf der Kirchenbank war nur der Anfang gewesen. Er musste sich das Gemetzel im Himmel mit ansehen und sichtbar für jeden verfiel er körperlich und geistig.
Epilog
Fünf Jahre später
Doktor Maximilian Schläger strich sich über die Halbglatze. Er hatte die Kantine in der Weinsberger Psychiatrie nie gemocht. Gerade kam er von seinem Patienten Johannes Brenner, einem ehemaligen Pfarrer aus Kaltenwesten. Die Sitzungen mit ihm waren immer problematisch gewesen und verstörten Maximilian immer wieder. Die Wahnvorstellungen und sein Trauma saßen extrem tief. Was immer er auch erlitten hatte, es war kaum heilbar. Er winkte seiner Kollegin Susanne Bäumer zu und setzte sich an ihren Tisch.
„Wie geht es deinem Liebling denn heute so“, fragte sie und stach in ihren Salat.
„Frag besser nicht. Er bekritzelt wieder seine Wände nachdem wir ihm weniger Papier gegeben haben und in den in letzten 2 Monaten hat er ganze zwanzig Notizbücher voll geschrieben. Mittlerweile könnte man mit seinen Texten eine halbe Bibliothek füllen. Ich komm einfach nicht dahinter was für ein Ereignis ihn so traumatisiert hat. Er hat einen normalen Lebenslauf und hat sich, bis zu dieser versuchten Opferung von zwei Kindern, nie als auffällig erwiesen.“
„Was schreibt er denn so?“, fragte Susanne. Doktor Schläger schob ihr eines der vielen Notizbücher zu, die er sich eingesteckt hatte.
Auf dem Deckel stand, die Offenbarung des Johannes.