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Un-Mensch
Stellen Sie sich einen Menschen vor, der so abstoßend ist, dass allein sein Anblick Brechreiz bewirkt. Einen Menschen, dessen verwachsene Gestalt, so Sie seiner angesichtig werden, Ihnen Tränen in die Augen treibt und dessen kreischende Stimme Ihnen wahrhaftig körperlichen Schmerz bereitet.
Seinem Atem haftet der Pesthauch der Fäulnis an, gleich welche Mittel er dagegen einnehmen mag und ein schmieriger, strenger Schweiß verläuft sich in jede Falte seiner schlaffen Haut.
Sollten Sie je die Willenskraft aufbringen, ihm in das gequollene Gesicht zu sehen, fänden Sie eine hohe, gefurchte Stirn, büschelweise aschblondes Haupthaar, eine seitwärts gekrümmte, knapp über den wulstigen Lippen auslaufende Nase und ein spitzes Kinn.
Die Augen verschwänden fast unter überhängenden Lidern - ausdruckslosere Seelenfenster sind schwer vorstellbar. Der gruslige Anblick, der sich Ihnen böte, wird durch eine hässliche Akne kaum mehr gesteigert.
Sie mögen beim Lesen dieser Zeilen, wenn Ihnen eine gute Imaginationsgabe eigen ist, Mitleid mit diesem armen Geschöpf empfinden, ja gar anmerken, dass doch ein jeder, wie ungestallt er auch sei, eine innere Schönheit sein eigen nennt, die äußere Unansehnlichkeit zu kompensieren oder gar zu überstrahlen vermag.
Sie täuschen sich.
Die bittere Wahrheit ist: ich weiß es besser, denn dieser Mensch bin ich.
Studieren Sie meine Niederschrift sorgfältig und Sie werden erkennen, dass Ihr Irrtum auf einer Annahme beruht, die...
Aber ich greife vor.
Nur dieses auf den Weg: ich will versuchen, Ihnen zu zeigen, was das Schicksal mir als Los zugedachte und wie ich mich dagegen auflehnte. Zum Schaden der Menschheit? Mag sein. Aber gleich, ob Sie mich verurteilen oder meine Handlungen zumindest verstehen lernen, lesen Sie weiter!
Denn was ich getan habe, wird schon bald Konsequenzen zeitigen - Konsequenzen, von denen auch Sie nicht verschont bleiben werden.
Doch genug der Vorrede.
Den Namen, den mir meine Mutter gab, nahm Sie aus dem ´Faust´. Ob Sie ahnte, wie treffend er gewählt ist?
Heinrich. ´Heinrich mir graut vor Dir´, rief Gretchen in ihrer Not.
Freilich ahnte bei meiner Geburt keiner meiner Anverwandten, dass es für mich nie ein Gretchen geben sollte.
Ich wurde im herrschaftlichem Haus meiner Eltern geboren. Meine Mutter lag auf dem Bett presste schmerzvoll, während die Hebamme vor ihren gespreizten Beinen hockte.
Da ich ohne Ahnung über mein Schicksal war, strampelte ich mich in ungewöhnlicher Geschwindigkeit in die Welt. Die Amme fing mich mühelos und wollte gerade die Nabelschnur durchtrennen, als ein Schwächeanfall sie überraschte. Ich fiel zu Boden und mein Becken brach krachend entzwei. Als sich die Amme keuchend über meinem Babykörper erbrach, vermischte sich ihr Würgen mit meinem ersten Schrei.
Meine geschwächte Mutter sah mich erst am folgendem Tage und nahm mich, zum ersten und letztem Mal in den Arm. Sie war eine stattliche und feinfühlige Frau und das hätte mich beinahe frühzeitig das Leben gekostet.
Was sie spürte und schließlich bewog, schreiend auf meinen zarten Körper einzuschlagen - ich habe es nie von ihr erfahren. Das mich ihre Schläge letztlich nicht töteten verdanke ich dem Instinkte des Neugeborenen, denn als mein Mund suchend ihre geschwollene Brust fand, um Milch zu saugen, warf sie mich mit einem Schrei des Entsetzens von sich.
Ich prallte auf den Boden, wo der Gips um mein Becken mich vor weiteren Verletzungen rettete und meine Amme mich später fand.
Über einen hässlichen Menschen wird in boshaftem Scherz bemerkt, dass er ein Gesicht hat, das nur eine Mutter lieben kann. Nun, ich hatte nicht einmal das.
Oft frage ich mich, ob ich es bedauern sollte, dass meine Mutter damals meinem Leben kein Ende zu setzen vermochte, allein: so unsäglich einsam und traurig mein Dasein ist, ich hänge an diesem verfluchten Leben, wie die niederste, instinktgeleitete Kreatur.
Und als meine Mutter Jahre später das Zeitliche segnete habe ich auf ihr Grab uriniert.
Der Pfarrer unseres Dorfes weigerte sich, mich zu taufen. Ob er etwas Dämonisches in mir sah und auf diese Art seinen unbewussten Ekel sublimierte?
Meine Mutter musste viel Geld aufwenden, um mich von der Amme betreuen zu lassen. Meistens schloss man mich in mein Zimmer und so war ich genötigt mir das Sprechen selbst beizubringen.
Mit sieben Jahren wurde ich auf ein Internat für die Sprösslinge begüterter Familien geschickt, wo ich weiterhin allein blieb. Trotz aller Mühen meinerseits Kontakt mit den Jungen meiner Klasse aufzubauen, verwehrten sie mir dies. Es war, als läge ein unsichtbarer Schirm um mich, der meine Mitschüler zu ängstlich bemühtem Ausweichen zwang.
Verstehen Sie, was das bedeutet?
Ich hätte mich glücklich geschätzt, auch nur einen Freund, eine gute Seele mir ergeben zu wissen, ja tägliche Prügel durch den unvermeidlichen Klassenrüpel wäre mir Zeichen genug, doch irgendwie dazuzugehören.
Doch sobald ich in einer Schlafkammer, in einem Lesesaal oder der Mensa auftauchte, war ein jeder, gleich ob Lehrer oder Schüler ängstlich um einen sicheren Abstand zu mir bemüht.
So verbrachte ich die ersten Jahre meiner Schulzeit als leidlich guter Schüler und einsamer Geist und fand nur in Büchern stille Freunde.
Dies änderte sich schlagartig, als meine Klasse in die Gründe der Biologie eingeführt wurde.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch.
Vom Körperlichen her war ich durchaus normal entwickelt.
Feucht träumte ich - wie wohl jeder Heranwachsende und auch eine hübsche junge Lehrerin sah ich mit Lust.
Nein, die Geheimnisse der Vereinigung zweier Menschen im Geschlechtlichen war mir, wenn auch theoretisch, dank meiner Bücher nicht fremd.
Was mich an der Unterrichtung unseres Lehrers der Biologie so maßlos fesselte, war ein Teilbereich dieser Wissenschaft, der sich mit Genotyp, Phänotyp und anderem befasste, kurz: die Genetik.
´Konnte es sein´, so fragte ich mich, ´das einige winzige Moleküle mich zu dem gemacht hatten, was ich war?´
Als ich, nach quälenden, einsamen Jahren aus dem Internat entlassen wurde, stellte sich mir die Frage, was ich wohl mit meinem Leben anfangen wolle. Da meine Mutter mittlerweile gestorben war, verfügte ich über genug Geld, um ein von materiellen Sorgen freies Leben zu führen. Doch will nicht jeder Mensch seinen Beitrag, sei er auch noch so klein, zu dem leisten, was wir so leichtfertig die Kultur nennen?
Freilich, war ich Teil dieser Kultur?
Ich erwog die verschiedenen Möglichkeiten. Mein Abgangszeugnis berechtigte mich ein Studium in jeder mir erstrebenswerten Richtung aufzunehmen, doch ich verwarf das. Denn es hätte mir nur zu deutlich vor Augen geführt, dass ich nie ein Mensch unter Menschen sein würde.
Vielleicht sollte ich mich als Künstler versuchen?
Leider musste ich mir eingestehen, dass ich für die Musik und die Malerei keine Begabung gezeigt hatte. Literatur reizte mich zwar, aber da mir das Element des lebendigen Erlebens fehlte, mussten sich meine Bücher immer und immer wieder um die Einsamkeit bewegen.
Wie sah es mit Politik und Wirtschaft aus?
Zweifellos konnte ich mich mit meinen Mitteln leicht dahin einkaufen, aber an Erfolg brauchte ich nicht zu hoffen wagen - denn dort regierte das Triumvirat namens Manipulation, Koalition und Integration.
Selbst wenn es mir gegeben wäre, ein großartiger Spieler auf diesen Gebieten zu sein, trotzte mir mein antipodisches Dasein entgegen. Denn wo kam es mehr auf menschliches Miteinander an?
Endlich verfiel ich auf die mir angemessene, ja für mich wie geschaffene Lebensaufgabe.
Den Geheimnissen der Genetik wollte ich mein Leben weihen und ergründen, was mich so aus der Menschheit ausstieß.
Ich zählte jetzt zwanzig Jahre und begann mir ein Labor im elterlichen Haus einzurichten. Mit der mir eigenen Strenge durchmaß ich den ganzen Ozean von Literatur meines Themas. Tausende Aufsätze, zusammengeklaubt aus Bibliotheken und aus dem Internet gezogen, füllten bald das alte Bücherzimmer meines Hauses.
Da ich Zeit meines Lebens autodidaktisch gearbeitet hatte, fiel es mir nicht schwer, mir das Rüstzeug anzueignen, welches für meine Forschungen unabdingbar war.
Ich bewältigte ein tägliches Studienpensums von tagtäglichen siebzehn Stunden und nach drei Jahren des Lernens fühlte ich mich bereit, in meinem Labor erste Experimente anzustellen.
Sie werden an dieser Stelle möglicherweise gelindes Erstaunen verspüren, denn drei Jahre seines Lebens nur auf eine Aufgabe zu richten, mag zwanghaft wirken, aber bitte vergessen Sie nicht, dass ich keinerlei Möglichkeiten hatte, mich durch Freunde, Bekannte oder Familie abzulenken, denn all das hatte ich ja nicht.
Es ist ein bitterer Witz, aber eben das half mir, meine ganze Energie auf meine Studien wenden zu können.
Nur an einem Abend, an meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag, gönnte ich mir eine Verschnaufpause. Ich war nach dem Genuss mehrerer Gläser Bier voller Mut und Tatendrang und beschloss meine Unschuld zu verlieren.
Zu diesem Zwecke bestellte ich mir telefonisch eine Hure ein.
Als es an der Tür klopfte, stieg ich eben aus der Dusche und warf mir schnell einen Bademantel über. Voller Aufregung stürzte ich der Tür entgegen und riss sie auf. Was ich sah, ließ meinen Kiefer wie ein defektes Scharnier aufschnappen.
Ein großes Wort aus der Literatur manifestierte sich hier in fleischlicher Vollendung: Verrucht.
Ein stark gepudertes Gesicht mit großen, dunklen Augen unter spitzgezupften Brauen, Lippen voll und rot wie die Sünde selbst wurde von wallendem Blondhaar eingerahmt.
Das knappe Kleid hielt kaum die beiden prächtigen Brüste im Zaum und die schmale Taille war durch einen Gürtel betont. Der Saum des Kleides hob sich bei jeder Bewegung und scheinbar nur zu dem Zweck, halterlose schwarze Strümpfe ins Licht treten zu lassen.
Auf ihren hohen Stiefeln schwebte Sie, mit gespitzten Lippen mir entgegen und bereit sie zu empfangen öffnete ich die Arme. Ihre Pfennigabsätze stanzten tiefe Narben in den Teppich des Hausflures und der Duft ihres Parfüms schien ihr vorauszufliegen. Genussvoll schloss ich halb meine Augen und vollzog bereit in Gedanken den Akt.
Ich hatte gelesen, dass der Sex für einen Mann gewisse Ähnlichkeit mit einem neuen Job hat: am Anfang ist es neu und aufregend, um nach einiger Zeit in öder Langeweile auszulaufen. Frauen hingegen ist jeder Sex wie ein Festtag, den dem körperlichen Genuss ist das seelische Liebesempfinden beigegeben. Nun gut, ich wollte prüfen, ob es an dem sei.
Von diesem verruchten Wesen, das mich endlich in sich und damit in den Kreis der Menschheit aufnehmen sollte, trennten mich nur noch ein halbes Dutzend Stöckelschritte, als sie innehielt. Sie hatte ihre Augen weit aufgerissen und pendelte ihren Oberkörper vor und zurück.
Ich ahnte, dass sie eine plötzliche Abscheu überfallen hatte. Wie es schien kämpften in ihr die Berufspflicht und die Aussicht auf die hohe Vergütung ihrer Leistungen mit dem Ekel vor mir. Das traf mich wie ein Schlag, denn wenn selbst diese Frau, die doch gewiss schon einiges an Unansehnlichem und Ekelhaften ihrer Dienste hatte teilhaftig werden lassen, dann musste etwas an mir sein, dass...
Die Situation schien ihr peinlich und als sie es sagte und sich entschuldigte, dass sie mich um mein Vergnügen prellen müsse, antwortete ich, dass die Pein ganz meinerseits sei.
Sie lächelte verlegen, machte auf ihren Pfennigabsätzen eine elegante Kehrtwende und stöckelte zur Tür heraus.
Als die Tür hinter ihr in Schloss fiel, lehnte ich mich gegen eine Wand und weinte hemmungslos. Auch diese Hure hatte gespürt, dass an mir etwas Unmenschliches war, etwas Gattungsfremdes, etwas unbedingt zu Meidendes.
Für einen flüchtigen Moment spielte ich mit der einen Lösung aller meiner Qual, verwarf das aber augenblicklich.
Und ein halbherziger Selbstmordversuch musste als Hilferuf ungehört verhallen , da mich jeder, bar allen Mitleides, verrecken lassen würde.
Selbst Hunde knurren mich ja an und gelten die nicht als treueste Begleiter des Menschen?
Seit diesem Abend wuchs im Hässlichen der Hass und dieser trieb mich immer weiter voran, bis zum heutigem Tage, da ich im Begriff stehe, die Menschheit auszurotten.
Mit Details meiner jahrelangen Forschungsbemühungen, den Erfolgen und den Rückschritten, will ich Sie nicht langweilen; zum anderen wäre mir nur eine stark vereinfachte Darstellung möglich, da ich nicht davon ausgehen kann, dass Sie über das notwendige Fachwissen verfügen.
Nur soviel:
Wie Sie wissen, gibt es von jedem Menschen einen Screen seines individuellen Genoms. Es gelang mir in dem landläufig als überflüssig klassifiziertem Teil des Codes meine Andersartigkeit zu lokalisieren.
Diese Sequenz baute ich in einen Virus ein, der wie ein Schläfer im Körper schlummert und erst durch Stoffe die bei der Zeugung synthetisiert werden aktiviert wird.
Der Virus greift bei der ersten Zellteilung ein und schleust die Sequenz in das Genom der Zelle, zumindest dann, wenn er ein Y-Chromosom vorfindet.
Da der Virus nur schwer zu entdecken sein wird (schließlich wirkt er nur bei EINEM Anlass auf den Körper ein) und eine hohe Vermehrungsrate aufweist, wird binnen eines Jahres jeder Mensch das Virus in sich tragen.
Verstehen Sie was das bedeutet?
Jedes männliche Neugeborene gleicht mir!
Natürlich werden sich diese Kinder optisch voneinander unterscheiden. Haut-, Augen- oder Haarfarbe variieren in der bislang üblichen Bandbreite.
Aber ALLE Männer der nächsten Generationen leiden unter dem Symptom dieser Krankheit, die ich Abscheulichkeit nenne.
Was dann passiert?
Nun, es scheint nicht unmöglich, dass die Frauen die Fortpflanzung verweigern und die Menschheit ausstirbt, aber wie wahrscheinlich ist das?
Werden sich die Männer, und es ist möglich, dass sie sich auch untereinander abstoßend finden, sich die Frauen mit Zwang nehmen? Entstehen neue Formen der Gesellschaft und des menschlichen Zusammenlebens?
Ich vermute es stark.
Mag die Menschheit sehen, ob sie damit fertig wird - ich jedenfalls werde meine Rache genießen und ein wenig weniger nicht dazu gehören.