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Ungemeinsamkeit

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10.11.2008
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Ungemeinsamkeit

Ignaz Wirbelsturm war ein aussergewöhnlich dämliches Kind. Es gelang ihm stets all jenes nicht, was allen anderen so leicht von der Hand ging, wie beispielsweise einen Regenwurm mit einem Haken aufzuspießen, oder eine Ameise mit einem Vergrößerungsglas zu verbrennen. Er war jener Junge, der stets seine Aufgabe darin fand, dem Gespött der anderen eine Ursache zu geben.
Seinetwegen wurde so viel gelacht, dass die Welt um ihn herum vermutlich ohne ihn sehr sehr traurig gewesen wäre – weder die anderen noch Ignaz selbst hatten das natürlich bedacht.
Hätten sie es, so wären sie vielleicht etwas netter zu ihm gewesen und er selbst vielleicht etwas glücklicher. Da sie aber nicht so weit dachten und er dazu, wie schon gesagt, zu dämlich war, lachten sie eben über ihn und er fügte sich in sein Schicksal als Clown und fand bald gefallen am Gelächter der anderen.
„Ignaz, trink doch mal Tuschwasser!!“, riefen sie in erwartungsvoller Schadenfreude, und Ignaz trank als wäre er ein verdurstender in der Wüste. Das Gelächter war groß, denn jeder von ihnen hatte in den Tuschebecher gespuckt... Ignaz wusste das nicht aber schlimmer hätte er's auch nicht gefunden. Alle Augen waren auf ihn gerichtet und jeder redete darüber, wenn er sich wieder mal zum Gespött machte, das konnte er genießen.
Wenn er es nicht tat, sah ihn auch niemand. Dann stand er still im Schulhof, die Hände in den Hosentaschen vergraben und sah den anderen zu, die miteinander spielten, später in Gruppen standen und sich unterhielten, noch später miteinander in die Discotheken gingen
All die Jahre von der Kindheit bis zum Ende stand Ignaz mit den Händen in der Tasche und sah ihnen zu – und sie sahen ihn nur, wenn sie über ihn lachten, er selbst lachte nie – aber das fiel niemandem auf, er war trotzdem der Clown, er weinte nicht wenn man ihn Schlug oder bespuckte, wurde nicht wütend wenn man ihn beschimpfte und jeder tat es manchmal ganz gern. Sogar die Lehrer spöttelten um Sympathien bei den Schülern zu gewinnen wenn sie mit ihrer Stellung als natürliches Feindbild nicht zurechtkamen. Sie taten es besonders dann, wenn sie fett, häßlich oder allgemein unbeliebt waren – und Ignaz schien das auch nichts auszumachen.
In Wahrheit weinte er viel, wenn er allein war und schrieb Gedichte voller Zorn und Traurigkeit – über den Tod, das Leben, Sinnlosigkeit und Wertlosigkeit. Er versteckte sie unter seiner Matratze, damit niemand sie finden würde und schämte sich dafür, weil sie ihn noch anders machten als die anderen.
„Niemand denkt und fühlt wie ich“, glaubte er, „ich gehöre nicht hierher!“
Dann las er phantastische Bücher, oft nachts mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, bis seine Augen rot und geschwollen und seine Haut ganz bleich wurde. Bücher waren seine Freunde geworden und er verschwand in den phantastischen Welten und wurde eins mit den Helden.
Als Kind folgte er Bastian bei der Rettung Phantasiens und verliebte sich über beide Ohren in die Kindliche Kaiserin. Er weinte als die „unendliche Geschichte“ doch zuende ging. Er begleitete die Gefährten nach Mordor und zurück, litt mit Frankenstein's Monster, jagte Dracula, reiste zum Mittelpunkt der Erde und landete in den Erzählungen von Poe und Lovecraft.
Als er mit Zarathustra vom Berg stieg war Ignaz noch immer ein Fremder, vielleicht mehr denn je – aber das Gelächter der Mitschüler und Lehrer war verstummt, ja man nahm ihn sogar ernst und manchmal musste Ignaz selbst lachen – selbstverständlich nur über Dinge, die eigentlich gar nicht witzig sind.
Seine Gedichte schrieb er weiterhin sie blieben unter der Matratze und er selbst fühlte sich weiterhin unverstanden, aber nicht mehr den anderen unterlegen, sondern weit über ihnen und er haßte die Menschen beinah, obwohl er nie unfreundlich oder gemein zu sein versuchte sah er sie an wie Tiere die ihn nicht verstehen können - ihm fehlte bald ihr Gelächter über ihn.
„Ich konnte zu ihnen aufblicken und klein sein, ich kann auf sie herabblicken und groß sein – nur mit ihnen kann und kann ich nicht!“, dachte Ignaz und erkannte darin sein altes Dilemma, stets getrennt zu sein von allem und stets das „wahre Leben“ nur von außen betrachten zu dürfen.

Die Schule ging vorbei und Ignaz blieb einsam. Er verließ seine Eltern, die ihn nicht mehr verstanden als der Rest der Welt und versuchte sein Glück andernorts, wo niemand ihn kannte und wo er sein konnte wie es ihm gefiel. Meistens trug er Kleider und schminkte sich das Gesicht, um sein eigenes zu verbergen, um so schön zu sein wie die Frauen die er gern hatte. Er liebte die Art, wie sie sich bewegten und kleideten, wie sie ihre Haare trugen und lächelten oder weinten.
Endlich lachten auch die Menschen wieder über ihn, vor allem Männer und die Menschen, die man auf den ersten Blick zu den dümmsten zählen kann. Er traf sie oft, wenn er an der Bushaltestelle saß, wo sie Bier tranken und sich über die „Schwuchtel“ oder „Tunte“ lustig machten, die da saß und sich Geschichten über sie ausdachte - die wohl gar nicht so unwahr, aber eben nicht schön waren.
Mit Bauernzopf und Blümchenkleid hatte man es nicht sonderlich leicht meinten einige Leute und bewunderten den Mut, den er aufbrachte. Dass ihm der Mut fehlte, sich selbst noch zu zeigen, hatte wieder niemand im Sinn. Dass der Mensch sich verkleiden muss, wenn er sich hässlich fühlt und schön sein möchte.
Ignaz konnte weiterhin nicht wirklich viel, also tat er was er konnte und belustigte und beobachtete die Menschen und schrieb, ohne es jemals zu zeigen – denn wer hätte es lesen sollen, wo es doch nur ihn und die anderen gab.
Er dachte immernoch sehr viel an den Tod – er hatte keine Angst vor ihm. Aber er wollte nicht gehen, ohne etwas dazulassen. Die schlimmste seiner Vorstellungen war, das all das umsonst gewesen sein sollte. Also verliebte er sich in das erste Mädchen, das nett zu ihm war und sie war fortan der Mittelpunkt in seinem Leben, da sie der erste Mensch in seiner Nähe war.

Die Welt fühlte sich an wie ein Trampulin und das Leben wie ein Flug, er fühlte sich glücklich.
Einmal lagen sie nebeneinander im Bett und küßten sich sehr lange,es war als kämpften ihre Zungen miteinander. Aus den Lautsprechern ertönten die Doors - unterlegt mit dem Geknister der alten Schallplatte. Es brannten zwei schwarze Kerzen auf dem Fensterbrett seiner winzigen Ein-Zimmer-Wohnung. Sie hatten gemeinsam Gras geraucht, waren davon und auch vom Wein berauscht und es war ein sehr, sehr langer Kuß und beide mussten mit geschlossenen Augen an kämpfende Drachen denken, bevor sie miteinander schliefen.

Die Schallplatte lief die ganze Nacht und auch die Kerzen brannten, lockten alle Motten der Nachbarschaft als Zuschauer an die Fensterscheibe der Kleinstadtwohnung. Sie gaben sich einander völlig hin und es gab endlich keine Fremdheit, keine Peinlichkeit und kein Unwohlgefühl in ihm – als er in ihr kam uns sie sich noch ineinander sich umarmend vor Erschöpfung einschliefen, hätte man vor Glückseligkeit sterben können und alles wäre gut gewesen.

Weil die Geschichte sonst vorbei wäre - zudem mit einem ekelhaft romantischen Happy End, das niemand lesen will - kam es natürlich ganz anders.

Sie war nicht aus einem Hochglanzmagazin entflohen, aus Angst vor der Öffentlichkeit, sie hatte ziemlich strähniges, schwarz gefärbtes Haar, das immer einen blonden Ansatz sehen ließ, obwohl sie sehr jung war hatte sie dunkle Augenringe und Falten wenn sie lachte. Ich könnte noch erzählen, dass ihre Brüste sehr unterschiedlich groß waren und ihre Haut von Neurodermitis gezeichnet, aber er fand sie schön. Ihr Gesicht erinnerte ihn an das einer Puppe, sie hatte eine leicht gewölbte Stirn, die an Delphine oder kleine Kaninchen zu denken inspirierte. Ihr Mund wurde immer wahnsinnig breit, wenn sie grinste und sie lachte oft über ihn und nahm ihn in seiner inneren Traurigkeit nicht ernst. Es tat ihm sehr gut, nicht ernst genommen zu werden. Der freundschaftliche Spott lehrte ihn, wieder über sich selbst zu lachen und er blühte auf und sog sie in sich ein.

Doch eines Tages kam sie nicht mehr, sie ging auch nicht ans Telefon und irgendwann sah er sie mit einem anderen – der bunte teil der Landschaft, die ein romantischer Künstler gerade mit Acryl auf Leinwand hinterließ, wurde von einer tolpatschigen Pranke jäh zu Farbmatsch verschmiert.

Ignaz blieb lange wie betäubt in seiner Wohnung – erst weinte er und schrie, dann verstummte er. Er aß und trank kaum, rauchte und starrte an die Decke über seinem Bett, lag zwischen den Erinnerungen und Briefchen von ihr. Er stand lange nicht auf, lag nur da und starrte, starrte und lag. Sie hatte ihm einmal aufgemalt, wie groß ihre Liebe zu ihm im Verhältnis zur größe der Sonne war, weil ihre ausgestreckten Arme nicht in der Lage waren, einen Eindruck davon zu vermitteln – das karierte aus einem Kollegeblock gerissene Papier hing mit Tesa an seinem Kühlschrank.
Jetzt litt er wenn er es sah. War es auch nur ein romantischer Spaß gewesen – in seinem Leid wurde er zum Inbegriff romantischer Verlogenheit.

Er litt, aber das Patentrezept des Glücks zumindest kannte er jetzt – und das Menschen austauschbar sind wusste er schon vorher. Und als die Welt zu grau war suchte er nach Licht, egal wie klein es sein mochte. Und war die Welt zu kalt, so tat es auch der schwächste Zug warmer Luft – alles war recht, um nur ja nicht wieder allein zu sein.

Ohne Liebe liebte er bald Frauen, die ihm nicht geben konnten was er suchte und die an ihm sehr leicht zerbrachen. „Um mich glücklich zu machen braucht es zehn mal deine Wärme und hundertmal dein Licht!“,dachte Ignaz – aber das zu sagen traute er sich nie – denn das wäre gemein.
Also heuchelte er weiter Liebe und sie spürten die Kälte darin, er empfing aufrichtige Liebe, die ihm nicht genug war. Von einem ungeliebten Menschen geliebt zu werden bedeutet nicht mehr, als von einem Feind gehasst zu werden den man nicht kennt, oder achtet.
In den nächsten Jahren hatte Ingnaz viele Frauen, eigentlich alle, die sich ihm anboten – und er wurde von Männern beneidet – die einen Sonnten sich in seiner Gegenwart, andere waren offen feindselig. Die Tunte im Frauenkleid gab eine große Angriffsfläche, war aber unangreifbar.
So wurde aus der einzigartigen Tabulosigkeit seiner Erscheinung, die aus Einsamkeit und Unverstandenheit entstand eine Waffe gegen jene, die ihn dazu gemacht hatten.
Aber die Menschen die ihm zu Nahe kamen waren stets Menschen, die zu ihm aufblickten – und gerade deshalb konnte er sie nur missachten, ohne es zu wollen. Fehlende Leidenschaft kompensierte er gern durch eine Fixierung auf grenzwertigen und exzessiven Sex – und je grenzenloser sie darauf eingingen - die behütet aufgewachsenen Töchter liebevoller und reicher Väter, desto weniger Leidenschaft und Achtung empfand er.

Da war Lisa, in seinem Leid und seiner Trauer um den Verlust seiner Liebe kam sie ihm nahe und spendete ihm Trost und ihre Jungfräulichkeit, die er begierig annahm. Er dachte dabei nicht an sie. Es war ein Triumph der erste zu sein der etwas unbeflecktes berührte. Sie wollte auf den richtigen warten... hatte es zwanzig Jahre geschafft und verfiel seiner Täuschung. Er tröstete sich mit ihr, sie blieb nicht lange glücklich, zerschnitt sich beiweilen ihre unberührte Haut an ihren weißen Armen mit seinen Rasierklingen, schloss sich dazu im Bad ein und zeigte ihm im Anschluss ihr Werk.
Er achtete sie noch weniger und warf sie hinaus - nachdem er alles an, in und mit ihr ausprobiert hatte.
Sie brach vor ihm zusammen, bettelte noch eine Nacht bleiben zu dürfen.
Sie lag neben ihm, er auf dem Rücken weit genug entfernt von ihr, kalt und etwas genervt. Er fühlte dass es unrecht war. Eine völlig neue und unschöne Erfahrung, mal die Rolle des Arschlochs zu spielen. Sie hielt es nicht aus, griff zaghaft unter seine Decke und begann ihn zu streicheln – er ließ es geschehen und ihre Hand glitt zwischen seine Beine. Sie tat es, um noch einmal seine Nähe zu haben und vielleicht, um ihn umzustimmen. Sie hatte Angst, zurückgewiesen zu werden. „Ich will dich noch ein letztes mal!“ raunte sie ihm ins Ohr. Als Lisa unter seiner Decke verschwand und ihn in den Mund nahm, sagte er nichts und bewegte sich nicht. Sie rieb sich an seinem Bein und gab sich mühe, ihr Gesicht so weit wie möglich an ihn zu Pressen. Es gefiel ihr, dass er einfach dalag – sie genoss es sich selbst zu erniedrigen und alles zu tun, was er gern hatte – setzte sich auf ihn und zeigte ihm den Rücken, damit er sehen konnte wie er in sie eintaucht. Sie bewegte sich langsam und bedacht, stöhnte leise wenn er in ihr anstieß, hielt in der Bewegung inne und spürte ihn in sich pulsieren. „Ich liebe deinen Schwanz“, raunte sie und rieb dabei jene Öffnung, in die einzudringen er nur selten die Gelegenheit hatte mit ihren speicheltriefenden Fingern. Beide schlossen die Augen, als sie ihn langsam und unter Schmerzen in sich einführte. Sie fühlte sich lebendig, sie litt und erniedrigte sich selbst, gab ihren Körper Preis – wissend, dass es das Ende ist empfand sie Lust an ihrem Schmerz und daran, ihn zu befriedigen. Sie presste sich fest an ihn und spürte den Schmerz tief in sich, als er kam. Sie genoss seinen Orgasmus, das zucken seines Gliedes in ihrem inneren.
Er schlief ein, während sie neben ihm lag und sich selbst, ihn weiter mit dem Mund liebkosend, weiter streichelte.
Am nächsten Morgen ging sie nach einem wortlosen Frühstück und einer Umarmung zum Abschied. Er sah sie nicht wieder, fühlte sich frei und vermisste sie nie. Sie hatten einmal darüber gesprochen, wie es wäre sich im Alter wiederzusehen und dann über das zu reden, was ihnen im Leben widerfahren war. Er hatte kein Interesse, sie im Alter zu treffen - überhaupt kein Interesse je alt zu sein oder zu werden, während sie von hohem Alter und Enkelkindern träumte. Sie wollte gern irgendwann weise sein, er schiss auf Weisheit, wie er ihr sagte, hatte längst eine andere und fühlte jene Verliebtheit, die er bei Lisa nie empfand.

Sie war klein und weiblich, hatte gewelltes rotes Haar und sehr weiße Haut - trug stets sehr kurze Röcke und schlief am ersten Abend mit ihm. Sie hatte keine Erfahrungen und ebensowenig Hemmungen und gab ihm das Gefühl der tollste Mann zu sein, den sie jemals traf. Er nannte sie nie bei ihrem Namen, da er ihn nicht mochte. Sie las jeden Wunsch nicht von seinen Lippen sondern irgendwo anders ab und erfüllte ihn. Sie hatten fast nur Sex – egal wo sie waren, die Welt um sie war egal. Sie liebten sich in der Menschenmenge auf einem Konzert, auf Party's, in der Bahn. Es war keine tiefe Liebesbeziehung, aber exzessiv waren sie auf einer Ebene. Er liebte sie für ihre lebendige und tabulose Art und sie liebte seine Erscheinung, seine verschrobene Künstlerseele und den Sex. Sie war das Gegenteil der in sich gekehrten verträumten Lisa, die niemals den Weg aus ihrer Haut fand.
Ignaz war zufrieden, das Leben bestand aus Sex, Drogen und Musik – der Traum war so real wie banal. Er schrieb weiter seine Gedichte und Geschichten, sie waren obszön, spielte in einer aufstrebenden Heavy Rock Band und machte eine Ausbildung. Die Wohnung war größer und passte zu ihm. Wohin er kam war er eine Ausnahmeerscheinung. Die einen beäugten ihn skeptisch, die anderen bewunderten ihn. Diesmal hielt das Gefühl, über den Dingen zu stehen, länger an und er hatte seinen Selbsthass schon zum großen Teil vergessen. Auch jener Ignaz, der sich zum Gespött machte, um im Mittelpunkt zu stehen war vergessen. Er stand einfach in vielen Mittelpunkten.
Die abwegigen Gestalten seiner Stadt tummelten sich gern um ihn, besonders die Jugendlichen, die gern manchmal rebellieren wollten.
Sie waren ein Traumpaar in den Augen der anderen, auch wenn sie stets sein liebenswertes und niedliches Anhängsel blieb.
Wie es manchmal so kommt, wenn das Leben augenscheinlich in der Bahn läuft und es keine Tiefen gibt, schafft man sie sich.

Er traf sie unvermittelt in der Berufschule, sie war eine schillernde, nicht sonderlich schöne Erscheinung, war spargeldürr und hatte ein sehr schmales Gesicht das ebenfalls keine weiblichen Reize aufwies und von einer eckigen Brille geziert wurde. Ihr dünnes, fransig-glattes Haar war stets mit einer willkürlich aufgetragenen vielzahl herausgewaschener Haarfarben verunstaltet. Ihre Kleiderauswahl wies denselben willkürlichen Geschmack auf, wie ihre vulgär-maskuline Fäkalsprache. Sie gab ihm ein Buch, das sie für ihn begonnen hatte – es war zum großen Teil leer und ließ Fragen an ihn offen. Aufgeregt las er im Unterricht von ihr und antwortete ehrlich auf ihre intimen Fragen. Sie fuhren zu ihr nach Hause und hatten am ersten Abend Sex ohne Tabus, wie er ihn liebte. Sie sprach von ihren Titten und ihrer Fotze, setzte sich auf die Toilette während er im Bad war und lief nackt vor ihm durch ihre Wohnung, hörte schlechten Teenie-Punk-Rock.
Er blieb sehr lang, fühlte sich teils abgestoßen, teils verliebt.
Sie zog für ihn ihren halben Kleiderschrank an Reizwäsche an und kein Wort das sie sagte, war nicht darauf angesetzt, ihn anzumachen. Dann sagte sie, sie wolle nicht wieder verletzt werden.
Ihm wurde schlecht, aber er sagte ihr, er habe nichts dergleichen im Sinn. Sie fuhren auf eine winzige Insel, auf der ihre Eltern lebten und blieben eine Woche. Sie schlief mit ihm auf dem alten Sofa in Ihrem Zimmer und quietschte in den allerhöchsten Tönen, während die Eltern im Raum nebenan Kaffee tranken. Als sie herauskamen grinsten sie, anscheinend waren sie's gewohnt.
Die Inselatmosphäre gab das Gefühl, dem Leben und diesem Land mit seinen tausenden einflüssen ohne Grenzen entflohen zu sein. Ohne ein Boot war man gebunden – die Fähre die einzige Anbindung. Jeder kannte jeden, aber das war kein Problem. Es gab manchmal Selbstmorde – man sagte die Menschen gingen ins Wasser. Es wurde viel getrunken. Aber die Festlandsorgen der grenzenlosen Welt waren weggewischt – hier war das Wasser die Grenze. Sie gingen spazieren, schliefen nackt im Wattschlamm miteinander, während die Flut kam. Ignaz verliebte sich in das Gefühl der begrenzten Freiheit und fürchtete die „Realität“, die ihn einholen musste...


Zurück zu Hause beichtete er schweren Herzens seiner Freundin, die sich seine Abwesenheit hatte gefallen lassen alles, was geschehen war und sagte, er glaube sich verliebt zu haben. Sie weinte und fragte warum sie ihm nicht reiche.
Sie saßen in der Abendkälte auf einer Bahnhofsbank und niemand fand Worte – Züge fuhren vorbei, in denen Menschen im Neonlicht saßen und Unfug in der Bildzeitung lasen. Sie rauchten bedrückt-schweigend Zigaretten, sie trank ein Bier.
Er wollte bei ihr bleiben, besser gesagt sie behalten – er wollte sie beide behalten. Die Vorstellung jemand anders könnte die eine besitzen, oder die andere würde sich von ihm abwenden, schien unerträglich. Wenn mir eine nicht reicht, warum soll ich nicht beide haben, fragte er sich. Er sprach mit beiden darüber – sie sollten sich kennenlernen und möglichst ineinander verlieben.
Er sprach von der perfekten erfüllten Beziehung, der der verfluchte Alltag fernbleiben sollte – in seinen Augen hätte es gut funktioniert – er hätte auf diese Weise beide lieben können und sie hätten sich geliebt.
Sie trafen sich – ohne ihn und sein Wissen, sie sprachen über seine Lügen, seine Vorzüge – sie mochten und küssten sich und holten ihn gemeinsam von der Arbeit ab und wollten es versuchen.
Er fiel aus allen Wolken, wusste nicht was passieren würde – schon als er sie einträchtig auf der Bank sitzen sah, fühlte er sich wie ein Hund in Erwartung des auf ihn zu rauschenden Schlages.
Sie gingen Banalitäten labernd den Weg durch die Stadt zu seiner Behausung – sie war neu und kaum eingerichtet. Die Wände waren noch eierschalen und der Teppich beige-braun gesprenkelt.
Sie zogen ihn auf mit dem, was er zu der einen und der anderen gesagt hatte über Liebe, Sex und dergleichen. Sie küssten sich und ihn abwechselnd - keiner fühlte sich wohl.
Sie lagen zu dritt im Bett – wann immer er die eine küsste war es der anderen ein Problem. Es war eine beschissen-steife und ratlose Stimmung. Da lagen sie nackt in seinem Bett an ihn geschmiegt. Mal wollte die eine gehen, mal die andere. Aber er wollte keine gehen lassen, keine Entscheidung treffen – er ging und entschied sich gegen beide und blieb lange Zeit allein, um darüber nachzudenken warum er niemals wirklich zufrieden sein konnte, warum es ihn immer forttreiben musste von dem, was er hatte.
Er blieb natürlich nicht wirklich allein, sondern benutzte weiterhin was ihm über den weg lief, verdarb weiterhin die ohnehin schon verkorkste Jugend der Stadt mit Illusionen vom wilden und verdorbenen Leben. Solange niemand ihn ganz wollte war es auch kein Problem – bis auf das Gefühl der Leere und der Rastlosigkeit in ihm, die nur echte Liebe zu lindern in der Lage war.

Echte Liebe – aber was macht man in dem Moment, da man sie nicht hat? Und woran erkennt man sie. Man wird sie schon erkennen und sie wird sich ergeben wenn sie's ist, aber das wusste er nicht – also probierte er aus und nahm wieder, was sein Kopf ihm diktierte.
Er hatte vermutlich mehr Frauen als mancher moderne Casanova, wurde weiterhin von denen, die ihn nicht kannten, als Schwuchtel und Tunte denunziert. Aber es hat wenig Gewicht, der gestaltgewordenen heterosexuellen Libido zu sagen, sie sei schwul – er hätte mit Männern schlafen können und es hätte doch nicht getroffen.

Liebe, sollte er noch lernen, zeigt sich auf den ersten Blick - man muss nur aufmerksam sein, wenn sie sich zeigt. Doch er war's nicht und brauchte dazu den passenden Schlag ins Gesicht, plötzliches Wetterleuchten oder Erdbeben. Er sollte es bekommen.

 

Hallo, B. Beck,
wow, da ist alles ein bisschen zu viel des Guten. Der Anfang macht Lust, ist noch ziemlich klar und sprachlich interessant. Ein Außenseiter wird beschrieben, ich ahne, dass es um ein Art Psychogramm gehen wird, Identitätssuche und vielleicht eine spannende Geschichte.
Doch spätestens nach seinem Auszug verliert die story ihre Konturen und gleitet ab in ein allgemeines Psycho-Sex-Sammelsurium, das zwar üppig angelegt, aber wenig substantiell ist. Dazu passt dann die Eingangsbemerkung, dass I. dämlich sei, auch nicht mehr. Er ist ja offensichtlich ein gestörter Mensch. Sollte der Nachname zunächst ein Hinweis auf einen launigen Verlauf sein?? Die Stelle, wo I. nachts weint und sich in fantastische Geschichten flüchtet, hätte der Geschichte einen inhaltlichen Schwerpunkt geben können.
Wie so oft, wäre danach weniger mehr gewesen. Anstatt des Beschreibens von I. Gefühlen, hätte ich lieber selbst erkundet, wie es ihm ergeht und was er erlebt, mit ein paar lebendigen Szenen. Die Frauen bleiben so leider Staffage, dabei könnten sie für die Geschichte viel mehr sein: Wegweiser, Korrektive, Spannungsträgerinnen.
Warum steigst du plötzlich in der Mitte der Geschichte als Ich-Erzähler ein? Das leuchtet mir gar nicht ein und passt auch nicht zum vorhergehenden Stil. Oder hast du dich irgendwie unwohl gefühlt und gemeint, alles drehen u müssen? Der gesamte letzte Abschnitt ist mir dann viel zu interpretatorisch und gefühlsduselig zugleich, so, als wolltest du dem Leser die Struktur deines P. jetzt noch einmal mit aller Gewalt einhämmern. Insgesamt birgt die Thematik viele Möglichkeiten, doch mir kommt es vor, als habest du beim Schreiben (vielleicht sogar ohne Absicht) die Richtung geändert. So, wie sie da steht, ist mir die Geschichte zu ausufernd und hält mich nicht bei der Stange. Bin gespannt, was die Anderen sagen.
LG,
Jutta

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo B.Beck,

was Jutta geschrieben hat, könnte ich auch voranstellen, ich finde es richtig. Ich möchte noch auf einen Aspekt hinweisen, der mir zu unscharf herausgearbeitet ist:

„Um mich glücklich zu machen braucht es zehn mal deine Wärme und hundertmal dein Licht!“

"Solange niemand ihn ganz wollte war es auch kein Problem – bis auf das Gefühl der Leere und der Rastlosigkeit in ihm, die nur echte Liebe zu lindern in der Lage war."

Kann jemand, der mit sich selbst sowenig klar ist, Liebe finden? Oder nimmt er dann Reißaus?
Kann er eigentlich lieben?

Ich denke, nein. Dein Prot. muß noch durch vieles durch, bis er sich Menschen nähern kann. Bisher beutet er sie nur aus. Auch die Form der Sexualität ist dazu angetan, ihn von dem Elend in seinem Inneren abzulenken.
Solche Menschen können sehr wohl glauben, daß sie lieben: sie finden einen Menschen toll, geraten in Erregung unjd Rausch, fokussieren sich ganz auf ihn oder das, was sie für diesen Menschen halten, und wenn die Beziehung in Gang kommt, ist sie sofort durch Abhängigkeit und Reduktion geprägt: der andere soll bitte nur so sein, wie er gebraucht wird, um die eigenen Defizite zu kompensieren, und nichts Neues in das Leben bringen, und angesichts der verbesserten seelischen Versorgungslage entsteht natürlich Angst, das Alles wieder zu verlieren.

Vorzugsweise kommen beide aus ähnlichen Verhältnissen, sind in einem ähnlichen System ohne Liebe aufgewachsen und haben ein Selbstwertgefühl ungefähr beim Nullpunkt, hatten aber komplementäre Rollen: der eine macht den Macker, der andere ordnet sich unter.

In der psychlogischen Literatur nennt man solche Beziehungsmuster "Kollusion". Solche Beziehungen können sehr fest sein, bleiben aber immer statisch. Wenn einer sich weiter entwickeln will, kommt es zu sehr heftigen Ausbruchsmanövern.

Du beschreibst Deinen Prot. sehr nah an diesem Bild, aber verwischst die Begriffe: in der Ich-Erzähler-Rolle kannst Du ihn den Unsinn mit der wahren Liebe, die seine innere Leere aufheben würde, denken lassen, in der Rolle des Erzählers geht das nicht. Der Liebestraum, daß jemand kommt und all das nachholt, was die Mutter dem Prot. nicht gegeben hat, ist irreal. Liebe lebt zuerst vom Geben, dann vom Geben und Annehmen können; aber dein Prot. streunt durch die Frauenlandschaft wie ein Wolf.

Die letzten beiden Sätze weisen in die richtige Richtung.

Gruß

Set

 

Daqrum geht es... das Ende ist sein Wegweiser... ich wollte kein Happy End und keine Wendung

 

Hi,
ich finde deinen Text stark. Stark, anrührend und traurig zugleich; beschreibt er doch das Abgespaltensein vom Selbst.

Habe einige deiner Texte gelesen, die du in rasanter Folge hier gepostet hast. Die meisten beschreiben inhaltlich ein Hadern; geben der Wut und dem Zorn großen Raum, wirken stellenweise pubertär rebellisch, lassen innerhalb der derben Wortwahl erahnen, wie um selbige gerungen wird. Und sind mir deshalb insgesamt zu kopfgesteuert. Keiner berührte mich wirklich - nur dieser.

Großartige Analyse:
„Ich konnte zu ihnen aufblicken und klein sein, ich kann auf sie herabblicken und groß sein – nur mit ihnen kann und kann ich nicht!“, dachte Ignaz und erkannte darin sein altes Dilemma, stets getrennt zu sein von allem und stets das „wahre Leben“ nur von außen betrachten zu dürfen.

Bin gespannt, was noch so alles von dir kommt.

Gruß
Sua Sponte

 

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