- Beitritt
- 10.02.2000
- Beiträge
- 2.684
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Unter Hunden
Ich stehe auf Stelzen. Knochenstelzen. Die Haut dunkelblau, lila, das Fleisch runzlig und rot. Eiskristalle wachsen in die Wunden. Millimeter um Millimeter. Ich bin mir nicht sicher, den Ton halten zu können. “O Du Fröhliche, o Du Selige / Gnadenbringende Weihnachtszeit! / Welt ging verloren / Christ ist geboren / Freue, freue dich, o Christenheit!“, singen wir und starren durch das Schneetreiben auf die roten Klinker. Jede Flocke ein Stich in meinem Gesicht, jeder Windstoß kalter Stahl, der mich peitscht.
»O Du Fröhliche, O Du Selige / Gnadenbringende … ich weiß nicht mehr … Todeszeit«, was dem Herrn sei Dank niemand hört. Der Baum ist so hoch. Seine Spitze im Tanz der Flocken nur schemenhaft erkennbar.
Ich falle in den Schnee. Wie die Tanne im Wald. Meine Knochenstelzen sind gebrochen. Vielleicht? Ich weiß es nicht. Es ist mir egal. Ich möchte weinen und tue es. Die wunderbaren Tränen sind warm. Aber nur kurz. Dann frieren sie fest und stechen kleine Risse in meine Haut. Wohin fällt mein Blick? Auf diesen kleinen, hübschen Jungen mit den großen Augen. Voller Angst und so vielen Fragen. Seine Hand in der seines Vaters. Zärtlich. Sie singen beide. Mit uns. Mit den Männern und Frauen aus dem großen, dunklen Klinkerbau. „O Du Fröhliche, o Du Selige / Gnadenbringende Weihnachtszeit! / Welt ging verloren / Christ ist geboren / Freue, freue dich, o Christenheit!“, singen die anderen.
Ich schweige. Die Lippen im Schnee. Mein Atem formt eine Kuhle, ein weißes Bett, in das ich meine Zunge stecke und alles in meinen Mund lecke, was ich nur bekommen kann. Eine Köstlichkeit. Der Junge zieht an der Hand seines Vaters und deutet mit der anderen auf mich. Das Gesicht des Mannes sehe ich nicht. Die schwarze Schirmmütze sitzt tief. Der Schal ist weißer als der Schnee. Die perfekt gebügelten Reithosen in den perfekt geölten Stiefeln. Ich weiß, sie sind die Herren. Und ich weiß, wer er ist. Unser Kommandant. Zwischen diesen Mauern ist er unser Schicksal. Dann verwischt das Bild. Ich sehe grau-weiß. Ein anderes Gesicht. Wieder ist ein Mensch gefallen. Eine von uns. Aus dem Frauen-Block. Ihre Augen sind so leer. Aus ihrem Mund kommt kein Atem. Keine Kuhle entsteht.
„O Du Fröhliche, o Du Selige / Gnadenbringende Weihnachtszeit! / Welt ging verloren / Christ ist geboren / Freue, freue dich, o Christenheit!“, singen die anderen.
»Ein neues Lied!«, brüllt der Kommandant und sogleich beginnen die anderen mit einem neuen Lied. „O Tannenbaum, o Tannenbaum! / Wie grün sind deine Blätter / du grünst nicht nur zur Sommerzeit / nein auch im Winter, wenn es schneit / O Tannenbaum, o Tannenbaum / wie grün sind deine Blätter“, singen die Übriggebliebenen.
Der Schnee zittert hinter mir. Ein Weiterer ist gefallen. Ich höre die dunkle Stimme nicht mehr, die alle anderen getragen hat. Also ist Meier umgekippt. Der älteste von uns allen.
»Aufhören!«, brüllt der Kommandant. »Das hat ja keinen Zweck mehr!«
Die Stimmen versiegen nach und nach.
»Bringt sie rein«, höre ich ihn sagen. Dann stehen seine Stiefel vor meinem Gesicht.
»Meier lebt noch, aber sieht schlecht aus.« Es ist Röders Stimme. Der Lakai des Herren. Die Stiefelspitze des Kommandanten stößt gegen meine Brust. »Lemberger atmet. Er ist der beste Schuhmacher, den ich kenne. Bringt ihn rein.«
»Jawohl, Sturmbannführer.«
Dann klickt es über mir. Ich weiß, was es ist. Der Schuss fällt. Und gleich das dumpfe Geräusch, als die Kugel in Meiers Leib fährt. Hände greifen nach mir und ziehen mich weg. Weg vom Baum, weg von Meier, dessen Blut den Schnee taut. Weg von dem Jungen, der mir nachstarrt. Er reibt sich die Augen. Es müssen Tränen sein.
»Entschuldige, Sohnemann. Jetzt konnten wir gar nicht das Lied zu Ende hören.«
Der Kommandant kniet sich neben den Kleinen. Mit seinen weißen Handschuhen trocknet er die Tränen. »Wir holen das nach«, verspricht er ihm.
Die Hände zerren mich in den Lazarett-Bau. Die Tür geht zu und die pralle Wärme eines Kanonenofens umgibt mich.
»Hast du dich verletzt?«, frage ich ihn.
Keine Antwort. Nur der neugierige Blick.
»Ich habe mich wohl verletzt«, fahre ich fort, »sonst wäre ich ja nicht hier im Lazarett. Stimmts? So wie du.«
Seine Pupillen bewegen sich ein wenig. Sie suchen mein Gesicht ab. Vielleicht versucht er all das Schlechte zu entdecken, weswegen ich in dieser Lage bin.
»Muss dein Vater noch etwas erledigen? Und hat dich solange hier gelassen? Na, keine Angst, ihr werdet bestimmt bald nach Hause gehen und Weihnachten feiern.«
»Sind Sie ein böser Mann?«, kommt es unvermittelt.
»Du meinst, so was wie ein Verbrecher?«
Er nickt.
»Du kannst aber schwierige Fragen stellen, mein Junge. Wie heißt du denn?«
»Rudolf.«
»Rudolf«, wiederhole ich langsam, »das ist ein schöner Name. Ich heiße Karl. Karl Lemberger. Aber du darfst Karl zu mir sagen.«
Er nickt. »Warum sind Sie umgefallen?«
»Ich glaube, heute Morgen habe ich zu wenig gegessen. Und man muss immer viel essen, damit man stark bleibt. Nicht wahr, Rudolf?«
»Ja, Herr Lemberger.«
»Karl.«
Er nickt.
»Ich bin neugierig, Rudolf, hast du noch Geschwister?«
»Ja, eine Schwester und einen Bruder. Aber die sind noch klein.«
»Das ist schön, Rudolf. Du hast immer jemanden zum Spielen.«
»Haben Sie auch einen Bruder? Oder eine Schwester?«
Wie Messer tauchen seine Worte in mich ein. Ich ziehe die Decke ein Stück höher.
»Aua!«, rufe ich und hebe ein Bein.
»Was ist?«, will er wissen.
»Oh, mein Bein tut ziemlich weh«, erkläre ich ihm. »Kennst du das, wenn man weinen muss, weil es ziemlich weh tut?«
Der Kleine nickt. »Hm. Ich bin schon mal vom Apfelbaum gefallen. Das hat furchtbar weh getan. Da hab ich geweint.«
»Weinen ist nicht schlimm, Rudolf. Alle Menschen tun das, wenn sie starke Schmerzen haben.«
»Mein Vater nicht.«
Ich lächle ihn an. »Dann ist dein Vater sicher ein starker Mann.«
»Ja«, sagt er stolz und wächst ein bisschen auf dem Stuhl. Sein Finger taucht ins rechte Nasenloch.
»Oha«, sage ich, »darf man in der Nase bohren?«
Sofort wird Rudolf rot, zieht die Hand nach unten und setzt sich drauf. Der Vorhang wird zurückgezogen. Der Kommandant mustert uns beide für einen Moment.
»Ich habe mir erlaubt, ein wenig dem Gespräch zu lauschen.«
Die Kälte von draußen ist noch in seinen Augen, stürmt hin und her und weiß nicht wohin mit ihrer Gewalt. Rudolf steht auf und stramm.
»Entschuldigung, Vater.«
»Herr Lemberger hat recht, Rudolf. In der Nase bohren macht ein hässliches Loch daraus. Dafür möchte ich mich bei ihm bedanken«, er nickt ich meine Richtung. »Schau dir ruhig Herrn Lembergers Nase an. Ich denke, er hat als Kind sehr viel in der Nase gebohrt, so groß wie sie ist.«
»Ja«, bestätige ich. »Deswegen sind die Nasenlöcher jetzt so groß und wenn es kalt wird, zieht es immer wie durch ein offenes Fenster hinein.«
Rudolf kichert.
»Und jetzt sag ‚Auf Wiedersehen‘ zu Herrn Lemberger.«
»Auf Wiedersehen, Herr Lemberger.«
Plötzlich sehe ich Rudolfs Finger vor meinem Augen und die Kälte fällt von oben herab. Direkt aus dem Kopf des Kommandanten, aus seinem Blick, den Worten, die er nicht sagt, den Gedanken, die hinter seiner Stirn erstarren. Ich nehme die kleine Hand. Sie ist warm und zart wie alle Kinderhände. Ohne jede Schuld und noch voller Leben. Der Kommandant schiebt Rudolf mit Nachdruck durch den Vorhang.
»Geh bitte raus. Sturmführer Röder wartet dort auf dich. Er bringt dich zum Wagen.«
»Ja, Vater.«
Mit einem Ruck zieht der Kommandant den Vorhang zu. Die Kälte kommt wieder. Seine schwarze Uniform nimmt dem spärlichen Licht alle Kraft. Dann rückt er den Stuhl vor das Bett und setzt sich. Die Luft wird eisig, der Kanonenofen ist zu schwach. Seine Glut verliert gegen den Blick. So liege ich und mustere ihn. So starrt er mich an.