Was ist neu

Untitled

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05.10.2001
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Was gestern war, weiß ich nicht. Erst an das Jetzt erinnere ich mich. Ich kann sehen und beobachten, doch meine Augen bewegen sich nicht. Der Doktor bemitleidet mich, angeblich hätte ich einen schweren Unfall gehabt. Ich erinnere mich nicht. Er redet mit einer brünetten Schwester, beide in Weiß und beide in Erregung. Ich kann das fühlen. Wahrscheinlich wird er sie später nach der Penisvergrößerung im OP packen. Lachen wäre gut, doch meine Nerven überbringen keine Botschaft mehr. Ich kann denken, denke ich und denke gleichzeitig, dass irgendetwas in mir nicht mehr funktionieren muss. Die Synapsen vielleicht oder die Axone oder die Stromata oder alles miteinander. Ich will etwas, doch ich kann es nicht tun. Mein Körper regt sich nicht mehr. Der Doktor hat meine Akte bei sich. Er schüttelt immer wieder den Kopf. So jung, sagt er, so jung. Er macht auf weichlich, um die Schwester von seiner Emotionsfähigkeit zu überzeugen. Hey, da kommt ja meine Süße. Ich sehe sie durch die Glasscheibe. Ich sehe viel durch die Glasscheibe, die links von mir aus angebracht ist. Zum Beispiel alte Herren und Damen, die auf Stöcken laufen oder im Rollstuhl gefahren werden, neben ihnen immer eine Sauerstoffflasche, damit sie weiterleben können. Zum Beispiel Menschen, deren Körper vom Krebs zerfressen sind. Ich sehe, wenn jemand Krebs hat. Mein Bruder starb vor zwei Jahren an einem Gehirntumor. Damals war er nicht ganz dreißig Jahre alt. Oder kleine Kinder, Asthmatiker, die versuchen, ihre kleinen, leblosen, bleichen Körper lebendig zu halten, indem sie ihm mit Chemie ein zweites Leben vorgaukeln. Es ist eine ständige Verarsche, was in Krankenhäusern abgezogen wird. Der Tod wird auf ein anderes Datum verlegt, das Leben künstlich verlängert. Der Mensch wird zu einer Maschine, wird eins mit der Chemie, ist eigentlich bereits tot. Kein wenn, kein aber. Krankenhäuser sind Stätten des Bescheißens. Der Tod wird um seine Arbeit gebracht, das Leben muss Überstunden schieben, der eigenen Körper wird immer wieder aufgepumpt wie ein platter Ball, um sich erneut im Spiel des Lebens zu behaupten. Ich möchte so nicht enden. Ich will an keiner Maschine angeschlossen sterben. Wenn dann sterbe ich lieber anständig. Keine lebensverlängernden Maßnahmen. Pro Euthanasie ist in. Vor vier Jahren habe ich eine Bescheinigung abgegeben, dass ich nicht künstlich am Leben erhalten bleiben möchte. Zudem Organspender. Wenn schon nicht meines, dann andere Leben retten. Und nun kommt meine Süße. Sie trägt schwarz. Schwarz steht ihr unglaublich. Ich liege in einem Einbettzimmer. Alles weiß, alles kahl, alles triste und irgendwie auch schon tot. Ich will nicht wissen, wie viele Menschen bereits schon vor mir hier gestorben sind. Sie klopft an und der Doktor bittet sie herein. Was für ein Kontrastprogramm für mich. Endlich Farbe in dieser Einöde. Schwarz und weiß. Klasse. Das ist wie Fernsehen und LSD schlucken. Laufende Bilder, ständig wechselnde Farben. Krankenhäuser sind spitze ... Warum trägt sie schwarz, warum weint sie? Was’n los? Was geht ab? Autounfall. Aha. Rückenmark beschädigt. Aha. Beifahrer alle tot. Vier an der Zahl. Aha. Ich betrunken. Aha. 2 Komma 4 Promille. Aha. Sie weint. Schluchzt. Schluchzen in Schwarz. Ich ein Mörder? Was? Sie sagt zu mir, ich wäre ein Mörder. He, schlag nicht auf meine Beine. Ok, schlag weiter, ich spüre eh nichts. Jetzt kommt sie um’s Bett. Hi, Schatz. Warum schaust du so? Hasst du mich etwa? Hasst sie mich, weil sie mich für einen Mörder hält? Bin ich ein Mörder, wenn ich nicht weiß, dass ich getötet habe? Wenn alles weg ist? Sie hält meine Hand, sie zittert. Ich sehe das, ich spüre es nicht. Er liegt nur da, sagt sie, mit offenen Augen. Der Doc redet über das Euthanasiezeug, das ich unterschrieben habe. Er bittet sie mit nach draußen. Wieso steht das zur Debatte? Mir geht es doch gut. Ich kann denken. Ok, ich kann mich nicht bewegen und liege nur dumm da, aber mir geht es den Umständen entsprechend gut.
Eine Schwester kommt herein. Eine alte, schwarze Schwester. Sie hat eine Spritze in der Hand. Ich habe Riesenangst vor Spritzen. Tu sie weg! Tu sie weg! Nein, hör auf, ich weiß was besseres. Au! Aua? Ich spüre nichts. Sie hat sie mir mit voller Wucht in den Oberarm geschlagen. Das ist gut, in Zukunft werde ich dann bei den Ärzten nicht mehr schreien müssen. Die Blamage war lange genug groß. SuperSpritzenMann ist zurück! Habt keine Furcht, Kinder, es tut nicht weh. Ich könnte ja mal bei der Werbung nachfragen. So ein Maskottchen für Anti-Spritzen Bewegungen. Das wäre ein Deal. Ich sehe meine Süße, wie sie draußen mit dem Doktor redet. Sie weint unerbittlich. Warum weint sie denn? Ich erhole mich schon wieder. Sie weint bestimmt, weil ich jemanden umgebracht habe. Ich habe doch aber keinen umgebracht. Ich kenne keinen von diesen Leuten. Ich weiß doch von nichts. Und was sind eigentlich Promille? Keiner wird mich einsperren. Ich denke nach, denke, dass ich viel vergessen haben muss, einiges muss mir entfallen sein, dann der Geistesblitz: ich liege im Wachkoma. Wachkoma ist ein so schönes Wort. Nicht da, aber wach. Geistig abwesend, aber im Geist anwesend. Wachkoma. Das kommt mir jetzt erst. Natürlich. Die werden mich bestimmt bald wieder aufwecken. Das ist bestimmt nur wegen der Schmerzen. Damit ich keine Schmerzen habe. Habe ich auch nicht. Und ich kann mich nicht bewegen. Das ist beabsichtigt. Von wegen Rückenmark beschädigt.
Meine Süße kommt zurück. Sie weint noch immer. Sie ist völlig aufgebracht, als sie sich neben mich setzt und wieder meine Hand nimmt. Sie flüstert mir Dinge ins Ohr. Es ist doch eh keiner da, Süße. Du musst nicht flüstern. Ich liebe dich auch. Wieso tschüß? Willst du schon gehen? Sie gibt mir einen Kuss auf den Mund. Verdammtes Koma, ich spüre nichts. Ihre Hand streichelt mein Gesicht. Jetzt hör schon auf zu weinen. Mach’s gut? Du willst mich verlassen, oder? Du hast einen anderen, nicht wahr? Während ich im Koma liege, machst du mit einem anderen rum, hab ich recht? Warte nur, du Schlampe, bis ich wieder laufen kann. Ich trete dir so in den Arsch, dass ... Jetzt rennt sie weg! Sie rennt einfach weg. Wie wäre es mit gehen, Schatz? Rennen ist nicht gut für dich, dann schwitzt du nur und dein neuer Freund hat es sicherlich nicht gerne, wenn du schwitzt! Jetzt sehe ich sie nicht mehr. Sie ist um eine Ecke gebogen. Naja, verbringe ich eben die Zeit ohne Menschen. Lalalala. Mir ist langweilig. Lalalala. Wenn man sich nicht bewegen kann, dann ist man ganz schön angeschmiert. Die Langweile steigt, je weniger man tut. Also denke ich, denn dann bin ich. Ich bin ich und ich bin ich. Du bist du, ich bin ich. Lalalala. Der Doktor kommt wieder. Mit der Schwester. Meine Eltern sind auch dabei. Wird auch Zeit, dass sie auftauchen. Wenn sogar meine Ex-Freundin eher da ist als die, dann will das was heißen. Doofe Nutte. Meine Eltern weinen auch. Mutters Augen sind rot, tief, tiefer noch als Vaters. Was soll das? Was geht hier ab? He? Müsst ihr alle heulen. Es tut mir ja leid, dass ich in euren Augen ein Mörder bin. Der Doc redet mit meinen Eltern. Ich lausche. Klingt nicht gut. Wieso Organentnahme? Wieso Maschinen abstellen? Spinnst du, Doc? Ah, ich weiß, ihr wollt mich alle veralbern, weil ich Mist gebaut habe. Weil ich betrunken Auto gefahren bin. Klasse, Doc, du spielst deine Sache echt gut. Der Komiker-Doc solltest du genannt werden. Riesig, riesig, ein Riesenwitz. Mutter und Vater stehen vor meinem Bett. Kommt her, umarmt mich, weint nicht. Der Doc geht wieder. Mutter redet mit mir. Sie verabschiedet sich. Mein Sohn, es tut uns so leid. Wir ... wir ... wir können nicht anders. Vater fährt dazwischen. Es gibt keine Alternative. Ein Junge bräuchte dein Herz. Er liegt gleich um die Ecke. Sein Name ist Pablo. Deines ist noch kräftig. Sein Körper wird es annehmen, hat der Doc gesagt. Mutter nähert sich mir. Sie kniet sich neben mich. Hallo, Mutter. Sie umfasst meinen Kopf mit ihren Händen, schreit Nein Nein Nein und Vater will sie wegziehen. Da beugt sie sich herunter und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Ich fasse es nicht. Was ist das hier für eine beschissene Show? Es ist mir egal, ob der kleine Pablo ein Herz braucht. Ohne Herz kann ich nicht leben. Hallo, ich möchte auch leben. Wo geht ihr hin? Bleibt doch! Verlasst mich nicht! Mutter! Vater! ... Sie drehen sich um, sie haben mich gehört. Nein, doch nicht. Sie kommen nur, um mich noch einmal durch die Scheibe zu betrachten. Ja, wir sind im Zoo. Homo Mörder. Eine besonders seltene Spezies. Seid ihr bescheuert? Wenn ihr mein Herz verpflanzen wollt, dann ohne mich. Los, Körper, wach auf! Wach auf, damit wir hier rausmarschieren können. Steh auf, steh auf, verdammt noch mal. Steh doch auf. Ich möchte weinen, ich möchte so gerne weinen. Was ist nur los? Ich bin ein Mörder und jetzt entnehmen sie mir mein Herz? Verdammter Organspenderausweis. Ich hätte nie ein Grüner werden dürfen. Verdammt, verdammt, ich will weinen, ich will sprechen, ich will schreien. Ahhhh! Ahhhh! Holt mich hier raus! Ich will hier weg! Ich will weg! Ich weg! Ich ...
Die Zeit vergeht ganz langsam. Keiner kommt und kümmert sich um mich. Eben war zwar noch eine Schwester hier, die mir mal wieder eine Spritze gab, aber seitdem besuchte mich keiner. Nur die vier Gestalten, die ich nicht wirklich erkennen kann, weil sie so seitlich sitzen. Vor einiger Zeit – ich weiß nicht, wie lange es her ist, ich habe keine Uhr im Blickfeld – waren sie auf einmal hier. Du bist an allem Schuld. Was? Was? Eben hat einer was gesagt. Ich kenne diese Stimme. Bald wirst du endgültig mit uns sein. Mein Gott, wer sagt das. Komm her, zeig dich, sitz nicht dort neben mir. Ich möchte dich endlich sehen. Die Stimme klingt wie die eines Freundes von mir. Ja, ich kann sie zuordnen. Er saß mit mir Auto! Er müsste tot sein! Sehe ich Geister? Sehe ich tote Menschen? Bin ich verrückt? Bin ich jetzt tot? Nein, ich bin nicht tot. Mein Herz, ich kann es schlagen hören. Ich bin nicht tot. Und wo sind die vier Gestalten nun hin? Eben waren sie noch da. Jetzt sind sie alle vier weg. Ich sehe keine Umrisse mehr. Sie sind verschwunden. Kommt zurück! Kommt wieder her! ... Sie kommen nicht mehr.
Ich habe keine Zeit, nachzudenken. Meine Eltern kehren zurück. Mutter und Vater weinen beide. Sie kommen mit dem Doc und einem Pfarrer. Einem alten Mann mit weißem Bart und schwarzer Kutte. Ich erkenne seinen Berufsstatus erstens an seiner Bibel, die in seinen zusammengefalteten Händen ruht, als auch an seinem weißen Quadrat – keine Ahnung, wie das Ding heißt –, welches als einzige Sache an seinem Umhang eine andere Farbe als schwarz einnimmt, unterhalb seines Halses am Kragen. Kommt der Pfarrer, um mir etwa die letzte Salbung zu geben? Nein, nein, nein, mein Herz bleibt bei mir. Vergesst es, zuerst komme ich, dann kommt einiges anderes und erst dann kommt dieser Pablo. Soll der doch verrecken, mein Herz bleibt hier. Meine Mutter holt sich einen Stuhl und setzt sich an meine linke Bettkante. Vater steht dahinter, dann der Pfarrer. Der Doc steht am Bettende und sieht mich an. Glotz nicht so, du Doc-Ross-Verschnitt! Vater hält Mutters Hand. Sie hält meine. Ich sehe es. Ich spüre es nur nicht.
Sohn, ich weiß, du kannst mich hören.
Er kann sie nicht hören, tut mir leid. Nicht in diesem Zustand.
Halt die Klappe, Doc! Was bist du, Gott? Du hast wohl das falsche Fach gelernt! Ich höre meine Mami sehr gut. Warte nur, wenn ich wieder wach bin, dann, dann, dann ... Sohn, du hattest einen schweren Unfall. Die Ärzte sagen, du ... Mutter weint wieder. Hör auf zu heulen, Mutter, und erzähl, was passiert ist. Und schick den Pfarrer weg, der nervt mich mit seinem wehleidigen Blick. Hau ab, Priester, geh den Teufel austreiben! Verschwinde von meinem Bett ... Mutter hat sich wieder gefangen, sie fährt fort. Die Ärzte sagen, du wärst hirntot ... dazu noch vom Kopf ab gelähmt. Mein Schatz, mein alles geliebter Engel, wir werden die Maschinen abstellen. Nach zwei Jahren sehen wir keine Chance mehr. Ja, Schatz, zwei Jahre, zwei Jahre sind es schon. Wir glauben, dir damit einen Gefallen tun zu können. Dein Hirn ist doch tot, nur dein Herz schlägt unentwegt weiter. Mutter pausiert. Ich entschließe mich, noch nicht zu denken, ich will abwarten. Meine Stimmung ist wahrlich gereizt. Dort hinten, gleich um die Ecke, dort liegt ein kleiner Junge, der benötigt dringend ein Spenderherz. Ihr habt beide die selbe Blutgruppe. Du kannst ihn retten, mein Schatz. Daher werden wir jetzt die Maschinen abstellen. Das wolltest du ja eh. Dafür hast du dich ja eingesetzt. Pro Euthanasie, nicht wahr, mein Schatz? Wir wollen dich nicht noch länger leiden lassen. Nun bricht sie zusammen. Vater muss sie fangen, schleppt sie nach draußen, der Doc und der Pfarrer hinterher. Was für ein Theater! Was für ein Sarkasmus! Durch meine eigene Schuld töte ich mich selbst. Zweimal gleich. Das passiert nicht vielen. Ich kann es kaum glauben ... Tragödie.
Nun denke ich. Coito ergo sum. Ich denke, also bin ich noch nicht tot, ihr Idioten. Ahhh! Ahhh! Ich will nicht sterben. Ich lebe! Ich lebe! Ich kann denken! Lasst die scheiß Maschine laufen. Lasst die Maschine laufen. Hört ihr mich nicht? Macht die Maschinen an, alle zusammen und holt mich hier raus! Ich gebe dem Sack mein Herz nicht! Fuck Pablo! Fuck! Fuck! Fuck! Ich! Ich! Ich! Nur ich, nur ich, nur ich darf entscheiden, was mit meinem Herz geschieht. Ihr seid Mörder. Ihr seid die Mörder! Ihr werdet mich umbringen! Warum lässt mich nur keiner schreien? Schrei! Schrei! Schrei! Schrei! Ahhh! Weckt mich auf, holt mich raus. Nicht abschalten, nicht abschalten. Wein’ ... wein’ ... wein’ ... wein’ doch. Wein, Körper, wein, gib ihnen ein Zeichen, dass ich lebe, dass ich denken kann, dass ich nicht sterben will. Hirntot! Hirntot! Ich denke doch noch, wie kann ich hirntot sein? ... Der Doc kommt zurück. Wo sind Vater und Mutter? Da, sie stehen an der Glasscheibe und blicken herein. Mutter weint. Sie wird meinen Tot nur dadurch kompensieren können, dass sie sich immer wieder einreden kann, einen anderen damit gerettet zu haben. Du bist ein Verräter am Leben deines Sohnes. Ich hasse euch, Eltern, ich hasse euch. Seht mich nicht so an, ich würde euch am liebst mit in den Tod nehmen. Der Pfarrer ist ebenfalls mit dem Doc in den Raum gekommen. Er hat ganz komisches Zeugs in der Hand. Irgendetwas macht er mit meiner Stirn. Er betet. Ich verstehe nicht, was er sagt, denn meine Gedanken schwirren beim Doc. Wo ist der hin? Was macht er mit den Geräten? Er schaltet einige aus! Er schaltet sie aus! He! He! AUFHÖREN! AUFHÖREN! DU BASTARD! ... bastardo.
Sail on silvergirl, sail on by, your time has come to shine, all your dreams are on the way, see how they shine, if you need a friend, I’m sailing right behind like a bridge over troubled water
Ich denke noch. Ich existiere noch. Ungläubig sehe ich, wie der Pfarrer immer noch betet. Der Doc ist nun wieder da. Du Bastard! Ich werde dich töten ! Ich bin nicht tot! Ich denke noch, ich bin noch. Die Maschinen waren unnütz. Hahaha! Ich habe der Medizin einen Streich gespielt. Ich bin ein Wunder. Was hat Mutter gesagt? Hirntot? Ich? Mutter, wenn du wüsstest, wie klar ich denken kann. Ja, steh du nur da und weine. Lass dich von Vater halten, damit du nicht umfällst, du Verräterin. Und du, Vater, weine nicht um mich, ich habe nicht mit Absicht ausgequatscht, dass du deine Sekretärin flach gelegt hast. Ich konnte nichts dafür. Ich war doch high, Vater. Sei lieber froh, dass Mutter dir verziehen hat. Und jetzt guck mich nicht so an. Ich mag tot sein für dich, doch ich lebe noch für mich. Es gibt keinen Hirntot! Triumph! Nobelpreis! Der Sieg ist mein!
Wen interessiert es noch? Bin ich schon völlig der Idiotie verfallen? Keiner wird meinen Erfolg erfahren. Es existiert kein Erfolg, wenn nicht mindestens zwei Personen von diesem wissen. Wer freut sich alleine über Erfolg? Alle halten mich für tot! Ich bin gestorben! Für tot erklärt! Mutter und Vater stehen noch immer da. Mörder! Mörder! Der Doc und der Pfarrer gehen nun. Ihr habt einen klasse Job gemacht, ihr Ärzte, wirklich. Ihr habt es voll drauf! Ah, da kommt die heiße Schwester wieder. Sie trägt ein Tuch mit sich. Grün. Ich hasse dieses Krankenhaus-Grün. Es ist wie Gift. Und Gift bringt den Tod. Die Schwester breitet das Tuch aus, sie schüttelt es, als würde sie das Grün hinwegschütteln wollen. Dunkel. Klasse. Ganz große Tat, Schwester, ganz große Tat! Sie hat das Tuch über mich gelegt. Nun liege ich lebend, mich nur nicht bewegend, unter einem Totentuch. Siehe auch Judenstern. Beides den Tod bringend, morituri kennzeichnend. Das Grün erlaubt keine Durchblicke. Nicht einmal die hell leuchtende Neon-Lampe über ist mehr zu sehen. Gar nichts. Es ist nur noch schwarz. Nun werden sie mich sicherlich einfrieren, ausbeuten, eingraben. Oh, Hoffnung, wo ist dein Schimmer? Oh, Hoffnung, warum bist du gegangen? Silbermädchen, willst du mein Freund sein? Wie eine Brücke über tosendem Gewässer? Dass ich mit dir Hoffnung wiederfinde? Oh, Schrecken, lass ab dein blutend Band. Oh, Tot, komm und erlöse mich aus diesen meinem eigenen Gedankenwirrwarr.
Irgendetwas ist geschehen. Ich bin nicht mehr, wo ich war. Die Schwester muss mich irgendwo hingebracht haben. Ich schätze, dass sie mich direkt in die Eiskammer gebracht haben muss. Gespannt warte ich darauf, was passieren mag. Meine Augen liegen noch immer offen. Ich könnte noch immer sehen, was geschieht. Bitte, bitte, schließt meine Augen nicht.
Ich frage mich, ob ich nicht schon längst tot bin. Doch vielleicht ist das der Tod? Vielleicht bleibt am Ende nur das Bewusstsein? Vielleicht bleiben am Ende nur die Sinne? Nein, das will ich nicht wahrhaben. Das soll so nicht sein. Die Hoffnung ist nun wieder da, dass es doch etwas anderes geben muss, als das hier. Es muss einen Tod geben. Ich bin noch nicht tot, ich bin noch am Leben. Plötzlich freue ich mich auf die Organentnahme. Der Tod soll endlich kommen, ich ertrage diesen Zustand nicht länger. Völlige Apathie macht sich in mir breit. Könnt ich doch nur weinen, dann würden meine Tränen dieses Gefühl aus mir spülen; doch es geht nicht. Ich kann hören, ich kann sehen, warum kann ich nicht sterben. Mein Bewusstsein ist völlig intakt, nur mein Körper spielt nicht mehr mit. Nein, ich bin nicht tot, das hier ist nicht das Leben nach dem Tod. Ich muss einfach noch am Leben sein. So einfach kann das nicht sein. Wenn alle Gestorbenen in ihren Gräbern empfinden, was ich empfinde ... es müsste ein unglaublich lautes inneres Geschreie sein unterhalb der Erde. Am besten wäre es, man würde mich verbrennen. Wie soll ich noch denken können, wenn ich verbrannt bin. Wie soll ich noch denken können, wenn keine Materie mehr existiert, die mein Denken definiert? Ich stelle mir vor, wie ich in meinem Sarg darauf warten muss, dass Würmer meine Gehirnmasse zerfressen. Lieber Gott, lass mich sterben bei der Organentnahme. So will ich nicht weiterleben. Lass mich ohne mein Herz endlich sterben. Auf dass nichts mehr mein Bewusstsein am Leben erhält.
Nun tut sich etwas. Jemand hat das Tuch abgenommen. Ich kann wieder etwas erkennen. Ja, ich liege im OP, über mir rangen diese vier runden Leuchten, eingenistet in einer runden Fassung, und strahlen mich an. Ich kann Schwestern und Doktoren hören, wie sie sich miteinander unterhalten. Sie bereiten alles vor. Es ist mir egal, was sie sagen. Es ist mir egal, dass sie mich beschimpfen, als Mörder hinstellen und mir den Tod nicht übel nehmen. Was interessiert mich, was diese Menschen von mir denken. Für sie bin ich tot, ich kann mich nicht mehr wehren. Es zeugt von Schwäche, dass sie über einen Toten lästern. Drei Schwestern ziehen mich aus. Ich trug einen von diesen ebenfalls giftgrünen Krankenhausanzügen. Für einen Augenblick kann ich ihn sehen. Ich muss nun nackt ... NEIN! NEIN! Geh weg, verpiss dich! O mein Gott! Nicht, nicht, sieh mich nicht an. Soll ich dich nicht ansehen? Hast du Angst, weil mein Gesicht so bleich ist? Weil ich aussehe wie ein Zombie und meine Hautfetzen an meinem Gesicht herabhängen? Daran bist du schuld. Du hast uns getötet. Nun treten die anderen an ihn heran. Es sind die Gestalten von vorhin. Es sind meine Mitinsassen im Auto, die nun neben mir stehen. Ich erkenne sie wieder. Ich erinnere mich an sie. Möchtest du, dass es noch schlimmer kommt für dich? Du hast es ganz schwer erwischt. Man meint es nicht gut mit dir. Dann blickt er auf, die anderen ebenso, ein Doktor kommt und beugt sich über mich ... Was tust du da? Doc, was soll das? Nein, nimm die Hand weg! Schluchz, heul, weg! Nimm deine verfluchte HAND DA WEG! Bastard! Nein, nein, nein! Lasst mich endlich sterben! Lasst mich endlich sterben! Ich verfluche das Leben! Ich verfluche Gott! Ich bin blind! Warum? Waru-u-u-u-m? Nein, nein, ne-e-e-e-in! Weine, schreie, kommuniziere! Tu etwas, Körper! Tu etwas! Waaaaah! Waaaaah! Ich stelle es mir tragisch vor, in seinem eigenen Bewusstsein gefangen zu sein und keiner kann es verstehen. Warte nur, es wird noch schlimmer. Wenn du die Würmer an deinem Sarg kratzen hörst, dann kannst du dich glücklich schätzen. Dann wird es nur noch wenige Jahre dauern, bist du auch endlich nicht mehr denkst. Ich weiß nicht, wer von den vieren gesprochen hat, doch nun ist es still. Es ist ganz still. Mein Name ist nicht Stiller? Ich denke Müll, denke ich, denke ich, denke ich. Warum ist keiner da? Bin ich tot? Hat mein Herz versagt? Geben sie mir das Skalpell, Schwester. Ernüchterung, es ist noch nicht vorbei. Aber bald, sage ich mir, bald ist es vorbei. Das eben, das muss ich mir eingebildet haben. Es gibt keine Geister. Ich bin halbtot, da kann das schon einmal vorkommen, dass man durchdreht. Nein, ich werde nicht auf die Würmer warten müssen. Skalpell, dieses Wort klingt so schön in meinen Ohren. Sie sind die einzigen, durch denen ich noch Wahrnehmung habe. Ein Doc hat meine Augen geschlossen. Ich muss es hinnehmen. Ok, ich nehme es hin. Da muss ich jetzt durch. Mein Herz wird gleich herausgenommen worden sein, dann komm ich in den Himmel, dann ist alles vorbei. Gleich, gleich. Ich versuche, nichts zu denken. Ich spüre nichts, das ist die perfekte Narkose. Ich warte auf etwas Besonderes, einen hellen Schein vielleicht, der kommt und mich führt, einen Engel, einen Gott. Irgendetwas, ein Tunnel wäre auch gut. Bloß tot sein. Endlich tot sein. Zwar unwissend, was kommen mag, doch bloß tot sein. Freude auf den Tod. Freude steigt. Sie fummeln schon lange in mir herum. Ich kann die Doktoren hören, wie sie sich verständigen. Trenne das durch, gib mir das, gleich haben wir es. Holt den Bottich, es muss sofort rüber, hier ist es, wunderschön und vollkommen funktionierend. Schnell jetzt, macht ihr ihn zu und dann weg mit dem Mörder. Es ist vorbei, oder? Ich bin tot. Das Herz ist raus, die machen mich jetzt zu. Ich habe den Doc gehört, das war sein Wortlaut. Ich muss tot sein. Mein Herz ist weg! Da gibt es nun nichts mehr, was mich noch irgendwie am Leben halten könnte. Nur ich, ich denke noch. Wo ist der Tunnel? ENGEL! ENGEL! Ich brauche einen Engel! Toter Mensch, viel zu jung, ohne Herz, sucht Engel, nehme jeden, hauptsache er bringt mich hoch. Schein? Goldener Schein? Tunnel? Engel? Gott? Keiner da? Keiner da. Keiner da. Ernüchterung pur. Dies ist mit nichts vergleichbar. Ich müsste kotzen, wenn mir das einer erzählen würde. Diese Erzählung ist zu tragisch, dieses Ende muss doch ein Ende haben. Wieso hat es keines? Wieso geht es nur immer noch weiter?
Was hat der eine vorhin gesagt? Dann wird es nur noch wenige Jahre dauern, bis du auch nicht mehr denkst? Ja, das war sein Wortlaut, das hat er gesagt. Ich bin tot. Das ist der Tod. So muss es ihnen auch ergangen sein. Mein Gott, nein, ich halte es nicht mehr aus.
Hat man denn keine Gehirnaktivität bei mir festgestellt? Ich denke die gesamte Zeit, das muss doch Energie absondern. Ich beschließe, am Leben zu sein. Ich beschließe, keine Geister gesehen zu haben. Ich beschließe, mir alles nur eingebildet zu haben. Mein Bewusstsein hat mir einen Streich gespielt. Ich muss es schonen. Vorerst nicht mehr denken. Vorerst Schluss. Fertig werden mit dem Leben als größtmöglicher Krüppel.
...
Es muss eine lange Zeit gewesen sein, in der ich nichts gedacht habe. Ich habe nur den Stimmen gelauscht. Man hat mich jetzt in die Kühlkammer gebracht. Ein Mann, tiefe Stimme, wahrscheinlich Raucher, redet mit einem anderen Mann. Sie lachen und scherzen. Sehr lustig, finde ich das nicht, was sie sagen, doch ich rege mich nicht mehr auf. Die haben festgestellt, dass die Maschine, an der er angeschlossen war, keine Gehirnströmungen mehr gemessen hat, die war kaputt. Jetzt hat man ihn für tot erklärt und ihm sein Herz rausgenommen und einem kleinen Spanier eingepflanzt. Die Männer lachen sich kaputt. Früher war ich mal Choleriker, ich musste einen Kurs besuchen, um davon abzukommen. Ich beschließe, mich auf die schönen Dinge im Leben zu konzentrieren, denke an einen Baum, Frühling, Vögel singen ... schön. Warum aufregen? Es hat für mich keinen Sinn mehr. Man hat mich aus Versehen getötet, warum aufregen? Das Leben ist zu schön, um sich aufzuregen. Als ich mal verurteilt wurde, weil ich einen Rechtsradikalen, der mich geschlagen hatte, anzeigte, der es aber schaffte, das Gericht davon zu überzeugen, dass ich zuerst ihn geschlagen und dann seine Freundin vergewaltigt hätte (natürlich konnte sie alles bezeugen), und ich dann für zwei Monate ins Gefängnis musste, da verlor ich den Glauben an Gerechtigkeit. Gerechtigkeit existiert nur, wenn das Gerechte durch das Ungerechte abgesondert wird, das Ungerechte bleibt und man absehen kann, was nun gerecht ist. Der ein oder andere würde sagen, ich hätte Glück gehabt. Alles ist besser als der Tod. Wer weiß, was kommt, wenn mein Bewusstsein versagt? Vielleicht nichts. Alles ist besser als nichts – wie makaber das klingt. Jemand hat eine Tür zugehauen. Ich glaube, ich liege in einer dieser Kühltruhen. Wen interessiert es? Umsonst gestorben. Denkpause. Ich kann nicht pausieren. Umsonst gestorben? Wirklich? Ich frage mich, ob die Unterschrift auf meinem Euthanasieschein nicht gereicht hätte, um die Maschinen abzustellen. Ich erinnere mich nicht mehr an die Regeln. Zwei Jahre Koma, hat Mutter gesagt. Das hätte doch gereicht. Zwei Unterschriften auf dem Schein, für jedes vergangene Jahr eine – hätte das gereicht? Ich zweifle, denke nach, komme zu dem Entschluss, dass es das nicht hätte. Nein, zwei Unterschriften hätten nicht gereicht, um mich bei funktionierender Hirnaktivität abzustellen. Schon gar nicht, nur weil ich im Wachkoma liege und gelähmt bin. Also doch umsonst gestorben, oder? Könnte ich mich nur besser besinnen. Dann die Frage, ob ich leben möchte. Als Behinderter, im Rollstuhl, gelähmt. Keinen Moment muss ich überlegen: Ja, ja, ja, alles ist besser als dies hier. Dies hier ist ja noch nicht der Tod, das habe ich beschlossen. Das kann es nicht sein! Der Tod muss anders sein. Und wenn dies der Tod wäre, dann würde ich mich erst recht nicht umentscheiden. Somit komme ich zu dem Ergebnis, dass ich ein Leben als Krüppel vorgezogen hätte, egal wie. Es war Schwachsinn, den Euthanasieschein zu unterschreiben. Ich habe mich selbst mit reingeritten. Ich habe nicht wirklich nachgedacht. Dieses Szenario hätte einem wie mir einfallen müssen- Ich würde sicherlich noch an den Maschinen hängen, wäre da nicht mein Gekritzel drauf. Lieber an der Maschine, den kahlen Raum anstarren, als tot oder hier (ich sage ganz bewusst nicht „und oder hier“, denn ich lebe noch).
Man muss das Beste aus seinem Leben machen, gehen wir es an. Denkpause.
...
Man hat mich angezogen und mich in einen Sarg in eine kleine Kapelle gelegt. Der Tag meiner Beerdigung ist gekommen. Seit zweieinhalb Tagen habe ich nicht mehr gedacht, nur gelauscht. Nach der Kühlkammer wurde ich in ein Institut für Sonstwas gebracht, dort tauchten auch meine Eltern mal wieder auf – es ist nicht der Rede wert, wie meine Mutter über meinem Gesicht lag und mir ins Ohr flennte, wie sehr es ihr leid tat, dass sie mich getötet hätten. Dass sie meinen Tot rechen würden, hatte sie gesagt, und dass das Krankenhaus verklagt wurde. Klasse, Geld mit meinem Tod verdienen. Ich verfluche euch alle. Man hat mich dann für die Beerdigung fertig gemacht, mich angezogen, und so weiter. Eine Frauenstimme erwähnte einmal, ich hätte ein schönes Glied. Gerne hätte ich ihr gezeigt, wie funktionstüchtig es war. Und nun, denke ich, liege ich in der kleinen Kapelle auf meinem Heimatfriedhof, der Deckel wird wohl offen sein, denn ich kann Stimmen ganz deutlich vernehmen. Ansonsten wird nicht viel gesagt. Hier und da ein Schluchzer. Herzliches Beileid, herzliches Beileid, heul, heul herzliches Beileid, herzliches Beileid, heul, heul. Ich verstehe. Der Tag der Umgarnung, Beileid-Sag-Tag. Das ganze Viertel wird gekommen sein, um von mir Abschied zu nehmen. Toll, großartig, macht’s gut, verpisst euch, ich will euch nicht sehen – kann ich ja auch gar nicht mehr. Es dauert ziemlich lange, bis alles verstummt ist. Es schmatzt, meine Mutter sagt Adieu. Das war’s dann wohl, jetzt wird der Sarg geschlossen, die Kapelle abgesperrt. Ich habe meinen letzten Anzug meines Lebens, meine letzte Ruhestätte wartet bereits. Hoffnung habe ich eh nie gehabt, dass ich irgendwie angemessen aus dieser Situation herauskomme. Denkschluss, ich warte ab. Es knarrt und quietscht, der Sargdeckel wird wohl geschlossen. Jemand klirrt mit Schlüsseln, ich höre Schritte sich entfernen. Adieu, ihr Lieben, adieu. Meine Zeit ist gekommen. Denkpause. Abwarten bis morgen. Tag der Beerdigung. Tag des Einbuddelns. Lebendig begraben. Halbtot unter der Erde.
...
Es knarrt, es quietscht, etwas öffnet sich, ich höre Schritte, jemand schraubt am Sarg herum. Jetzt werden mich wohl sechs Menschen packen und ans Grab führen. Ja, es ist so, sie flüstern miteinander. Langsam, langsam, passt auf die Stufen auf, stellt ihn sachte ab. Ich kann betroffenes Schweigen vernehmen. Weinen durchdringt den Sarg nur sehr leise. Jetzt wird gesungen. Scheinheiliges Getue! Warum werft ihr den Mörder nicht einfach in sein verdientes Grab. Ich habe keine Panik, ich habe keine Angst. Ich habe abgeschlossen. Dass ich nur noch daliege und denken kann, das macht mir nichts. Zeit ist nicht mehr wichtig. Man würde sagen, ich wäre eiskalt. Oberflächlich betrachtet bin ich das. Wer braucht schon Leben, wenn es doch viel besser ist, von Würmern zerfressen zu werden. Ich frage mich, ob ich etwas spüren werde, wenn sie mir ins Bewusstsein beißen und es aufsaugen. Die Spannung steigt. Ah, sie lassen mich hinab. Aus Erde bist du ... jaja, blabla, Pfarrer, blabla. Ich kann die Seile am Sarg reiben hören. Jemand schreit Nein, meine Mutter. Verräterin! Verräterin! Du hast deinen Sohn getötet. Du und Vater. Ich versinke im Selbstmitleid. Der Pfarrer redet etwas, doch ich kann es nicht mehr verstehen. Ich muss bereits unten sein, ja, die Seile werden unter dem Sarg durchgezogen. Hoffentlich sind nicht viele Leute auf meiner Beerdigung, sonst dauert das mit dem Blümlein ins Grab werfen so lange. Da, das muss die erste gewesen sein. Ja, klasse, und der Dreck hinterher. Auf einer Beerdigung darf man das. Auf einen Toten Dreck werfen. Wirft man Dreck auf einen Lebenden, wird man bestraft; wirft man Dreck auf einen Toten, passiert nichts, es wird nur getrauert. Blümlein und Dreck fallen im Gleichschritt, es hallt ganz schön. Ich versuche ein Lied daraus zu machen. Dam Dam Dam ... Dam Dam Dam ... Dam Dam Dam ... es gibt immer wieder Menschen ohne Taktgefühl. Jetzt scheint es vorbei zu sein. Niemand wirft mehr etwas. Dam Dam Dam Dam Dam Dam ... sie schütten mich zu. Große Brocken fallen herab, ich höre es, solange sie auf den Sarg fallen. Der Dreck selber, der bereits auf dem Sarg liegt, dämpft dann das Geräusch. Er dämpft es so weit herunter, bis ich irgendwann gar nichts mehr höre. Das hat nicht lange gedauert. Ich bin unter der Erde. Und ich denke noch. Das ist so abgefuckt, denke ich, dass muss ein Traum sein. Gott sei Dank ist es keiner. Ich möchte diese Erfahrung eigentlich nicht missen.
...
Zeit ist etwas, was man als Gefühl sehr schnell verliert. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon hier unten bin. Kann eine Stunde sein, ein Tag, eine Woche, ein Monat oder vielleicht auch schon ein Jahr. Wenn man lebendig in einem Sarg begraben liegt, müsste man meinen, dass dies das einzigste wäre, an was man denken kann. Zeit spielt für mich keine Rolle. Ich muss nicht raus hier, um zu atmen. Ich kann nicht mehr atmen, ich habe kein Organ mehr, der Sauerstoff durch meinen Körper pumpt. Ich liege hier, denke und warte darauf, dass die Würmer kommen. Jede Sekunde, die vergeht, warte ich darauf, dass die Würmer kommen, sich endlich durch den Sarg fressen, mich auffressen, mein Gehirn zerstören. Warte darauf, von ihnen endgültig getötet zu werden. Und ich freue mich darauf, endlich zu sterben. Egal, was kommen mag, ob Himmel, Hölle, Nichts; alles ist besser, als hier zu liegen. Ich danke dem Choleriker-Kurs, dass ich mich in dieser Lage beherrschen kann. Ich warte geduldig auf die Würmer
...
Jetzt scharrt etwas. Ich kann etwas scharren hören. Etwas versucht sich durch meinen Sarg zu fressen. Hoffentlich sind es Würmer. Hoffentlich sind es Würmer. Was tust du, wenn wir alle Würmer von deinem Grab fernhalten? Ich kenne diese Stimme. Einer, den ich durch meine Schuld getötet. Wir haben alle Würmer beseitigt, mein lieber Freund. Sieht so aus, als müsstest du noch weitere drei Jahre darauf warten. Danke, Choleriker-Kurs, dass ich mich jetzt beherrschen kann.
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Vielleicht sind die drei Jahre bereits herum. Dass jemand nicht will, dass Würmer mich auffressen, daran gewöhnt man sich schnell. Hier unten gewöhnt man sich an alles, man hat ja keine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Dafür denke ich viel. Nun bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass ich doch bereits tot bin. Dies ist der Tod, meine Mitinsassen sind meine Todesengel. Ich müsste nach drei Jahren bereits verwest sein, ich dürfte gar nicht mehr denken dürfen. Vielleicht lügen sie mich auch an und es sind erst drei Stunden, doch ich habe aufgegeben, alles zu hinterfragen. Welchen Sinn macht das noch, frage ich. Das alles ist ein makaberes Spiel mit der Seele (gibt es so etwas denn überhaupt?). Meine Theorie: ich werde gefoltert, in meinem Grabe festgehalten, ich darf nicht raus und zu Gott, weil ich leichtsinnig vier seiner Geschöpfe getötet. Ja, so muss es sein. Man will mich strafen. Dies ist der Tod. Das einzigste, was mich stört, ist, dass ich dann auch bereits schon im Krankenhaus hätte tot sein müssen. Vielleicht war die Maschine ja doch nicht kaputt. All diese Fragen lasse ich unbeantwortet. Ich möchte nicht mehr denken. Ich habe es satt, alles zu hinterfragen und dann am Ende doch wieder am Anfang zu stehen. Entweder ich bin tot oder ich lebe noch. Wenn ich bereits tot bin, müsste ich bereits seit dem Krankenhaus tot sein, denn seitdem hat sich nichts verändert (oder vielleicht ist der Tod nichts anderes als dies hier? Vielleicht bin ich gestorben, ohne es bemerkt zu haben, weil ich bereits vorher schon in einem ähnlichen Zustand war?), sollte ich noch leben, dann haben mich diese Geister entweder angelogen oder ich bilde sie mir nur ein (aus Angst vor dem Tod vielleicht?). Nein, das ist alles zu komplex für mein Hirn. Aufhören. Ich komme zu keiner Erklärung. Doch: es ist nicht erklärbar.
...
Ich bin tot.

 

Hmmm,

interessanter Gedanke, sich den Tod so vorzustellen. Und ganz schön grauenvoll.
Was mich an deiner Geschichte gestört hat ist, sie ist viel zu lang. Klar, der Tote hat viel Zeit, ständig im Kreis zu denken, den lebenden Leser ödet das jedoch sehr schnell an. Mein Tip: kürz die Geschichte auf mindestens die Hälfte, damit die Handlung schneller fortschreitet und so die Spannung erhalten bleibt. Denn grundsätzlich hat mir die Idee und die Ausführung gefallen.


Gruß.....Ingrid

 

also erstmal ein großes lob für die geschichte!!!

ok, sie ist lang, aber ich finde nicht daß sie zu lang ist, außer daß ich sie fast nicht angefangen hätte wegen ihrer länge aber ich empfinde die kreisenden gedanken als ein gelungenes stilmittel. als ich deine geschichte las mußte ich an eine Frage von Pablo Neruda denken:


Wenn ich gestorben bin, unbewußt, wen frage ich dann nach der Uhrzeit?
(Pablo Neruda)

 

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