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Serie vier - Tränenmeer

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11.05.2016
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vier - Tränenmeer

Die Zimmerdecken können dieser Tage schon sehr hoch geraten und so verlieren sich suchende Kinderaugen in der Unschärfe des Daseins. Es ist bisweilen angebracht die Dinge etwas weich zu zeichnen.
Weich fällt der Blick eines kleinen Jungen auf kahle, weiße Wände. Thomas ist neu hier. Der lichte Feuerball ist noch nicht untergegangen aber die Zeit zum Schlafen längst angebrochen. Die Schatten werden Minute für Minute länger und gleichzeitig auch schwächer. Die Fensterläden sind offen, weil das Dunkel der Nacht ohnehin genug Unbehagen mit sich bringen wird. Gott sei Dank ist eine benachbarte
Straßenlaterne gewillt, dem nächtlichen Schauspiel mit ihrem kühlen Licht auf die Bühne zu helfen.
Allerlei Mottenvieh wohnt diesem Laienspiel bei und bleibt im gleißenden Licht der Enthüllung hängen. Sie werden auf die besten Ränge gezwungen. Motten lassen sich leicht dazu bringen, einer Szene beizuwohnen. Hell muss es sein. Dieses Licht, im Dunkel des Daseins, schmerzt nicht nur die Motten.

In dieser Nacht wird es wieder regnen. Der Schlaf lässt auf sich warten und Unbehagen greift um sich. Regen fällt oft dieser Tage! Der Regen hat im Laufe vieler Wetterkapriolen gelernt wie er zu fallen hat. Auch Thomas fällt. Nacht für Nacht. Und auch er hat gelernt wie man fällt. Es ist still. Vor der Zimmertüre sind Schritte zu hören. Die Türe öffnet sich und warmes Licht fällt durch einen Türspalt ins Zimmer. Der Lichtkegel nimmt blitzschnell seinen Weg und hilft dem wachsamen Augenpaar zu erkennen was es zu kontrollieren sucht. Der Junge schließt die Augen noch bevor er der Schlaflosigkeit überführt werden kann. Nicht nur kleine Jungen beherrschen dieses Kunststück. Es scheint schon seit jeher angebracht zu sein, sich in eine Schlafstarre hineinzutäuschen. Es bleibt jedoch ein Trugschluss, zu glauben, Nachfolgendes ungeschehen zu machen, wenn man die eigenen Augen nur fest genug verschlossen hielte. Doch im Dunkel erträgt sich vieles leichter. Und dunkel wird es bereits. Wenige Augenblicke später schließt sich die Türe wieder. Jetzt bleibt dem Zimmer und dem kleinen Jungen nur das tapfere Licht der guten Straßenlaterne. Die Sonne hat sich inzwischen hinter den Bergen des Nordschwarzwaldes zurückgezogen und das nächtliche Schauspiel kündigt sich bereits erwartungsvoll an. Zum wiederholten Male weiß Thomas was folgen wird. Nacht für Nacht – seit er in dieses Zimmer einzog. Das muss ein schlechtes Zimmer sein! Der Kopf des Jungen liegt auf der Seite und seine Augen beobachten, wie sich die Ränge in diesem Lichtspielhaus füllen. Dieses Theaterstück ist erneut ausverkauft. Die Motten flattern auch an diesem Abend unruhig um die beste Aussicht. Zeugen werden sie jedoch nicht! Schon damals hat die Gemeindeverwaltung erwogen, in den Nächten den Strom abzuschalten. So kann auf der einen Seite gespart werden, was auf der anderen mit dunklem Entsetzen zu bezahlen ist. Irgendjemand bezahlt immer für das, was einem anderen von Nutzen scheint.
Es ist soweit: Einem eigenen Rhythmus folgend kommt die Dunkelheit näher. Der Junge kann erkennen, wie bereits einige Straßen weiter die Laternen abgeschaltet werden. Jetzt ist seine Laterne an der Reihe. Das Licht versiegt und lässt der Nacht ihren Raum. Thomas dreht sich zur Wand und schließt die Augen. Zu sehen ist ohnehin nichts und es ist auch besser, wenn er jetzt nichts zu erkennen versucht. Die verbleibenden Sinne arbeiten jedoch hervorragend. Die noch feinen Haare auf den Armen stellen sich in die Dunkelheit und herannahende Geräusche lassen dem Jungen einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen. Ein dumpfes Murmeln dringt in das Zimmer. Die Türklinke knarrt leise und öffnet die Türe einen Spalt weit. Anders als zuvor fällt kein warmes Licht in das Zimmer. Die Motten haben sich längst ein lichteres Schauspiel ausgesucht und sind bereits vor Minuten weitergeflogen. Der Junge ist ganz auf sich alleine gestellt. Keine Motte und keine Fee und auch kein Zauberer wird jemals von diesem Platzregen erfahren. Regnen wird es! Wie sonst ist zu erklären dass Thomas drei Augenblicke später unter nassen Decken den Schlaf suchen wird. Seine Tränen alleine, haben selbst in diesen Tagen kaum ausgereicht um die Laken mit dem Nass aller Verzweiflung und Hilflosigkeit zu tränken. Es geht ganz schnell. Verbrechen geraten immer in Eile, wenn im Anschluss nötiger Trost und Hoffnung zur Verantwortung ziehen. Doch Unrecht schreit seit Äonen eher leise. Sehr leise! Nach vollbrachtem Werk stiehlt sich dieses Verbrechen, wie die Nächte zuvor auch, still und heimlich davon.
Auch diese Nacht wird wieder erheblich länger werden als sie es unter normalen Umständen sein würde. Eiseskälte sucht den Jungen heim. Klamm und feucht hält diese Kälte Thomas davon ab, wenigstens vier Minuten Schlaf zu finden. Er hat seit vielen Nächten keinen Schlaf gefunden. Vier Minuten oder auch nur drei wären mehr als er sich träumen ließe. Seine Hoffnung hierauf blieb längst auf der Strecke. Wie lange muss er dem nächtlichen Unwetter noch standhalten?

Der Morgen dämmert noch nicht und die Straßenlaterne wird wieder angeschaltet. Ihr kühles Licht macht alles noch kälter. Selbst die Motten sind schlafen gegangen. So interessieren sich nicht einmal diese für das was geschah. Nicht mehr lange und Thomas wird geweckt werden. Auch Markus würde aus seinem Schlaf gerissen. Dieser Zimmerkammerad hat keinen besseren Schlaf als andere Jungen dieser Tage. Selbst gerademal knapp acht Jahre alt, hat er aber immerhin gelernt, gewisse Zeiten zu überstehen. Still, leise und in aller Heimlichkeit. Er hat nun Ruhe. Wenige Tage zuvor wurden ihm selbst immer wieder maßgeschneiderte Lektionen zuteil. Er würde einen Teufel tun, Hilfe zu leisten, wo doch aller Hass endlich an ihm vorbei zieht!

Die Zeit nimmt inzwischen ihren Lauf, was deutlich dem Stand der Sonne zu entnehmen ist. Frühstück, Schule und Mittagessen verdrängend, versinkt Thomas immer mehr in den Tiefen seiner Stille. Zeit hat für Ihn längst keine Bedeutung mehr. Er blättert in einem Versandkatalog und sucht die Quelle zukünftigen Trostes. Der Junge sitzt in einem erbärmlichen Zustand über den aufgeschlagenen Seiten und so kommt es, dass wider Erwarten eine Erzieherin Notiz von seiner Hilflosigkeit nimmt. Endlich!
Selbst recht hilflos, gibt sich diese Junge Frau mit der Antwort zufrieden, dass Thomas Heimweh hätte. Erneut befragt, warum er sich denn nach seinem Zuhause sehnen würde, schaut Thomas die Erzieherin mit großen Augen an. Er kann ihr unmöglich erzählen, dass er jede Nacht mit mehreren Eimern kaltem Wasser übergossen wird, dass er in diesen Tagen so unsagbar hilflos ist und dass genau diejenigen, die sich mittlerweile neugierig und drohend um sie versammelt haben, hierfür verantwortlich sind.
Thomas schiebt die aufgeschlagene Katalogseite hinüber zur Erzieherin. »Ich vermisse mein Fahrrad!« Genau das zu sagen, hatten ihm die Ältesten vorgegeben. Erstaunlicherweise ist die Frau schnell zufrieden und wohl froh, nicht zuviel erfahren zu müssen.

Von diesem Tag an, regnete es in den Nächten nur noch draußen. Thomas hatte immer viel Mitleid mit den nassen Motten und viel Mitleid mit Markus, während der Himmel an die Fensterscheiben weinte. Derselbe Himmel weint auch heute noch.

 

Hej Maerchentroll,

deine Geschichte ist hübsch formuliert und dadurch habe ich die Dramatik erst nicht so realisiert. War eingetaucht in Licht und Schatten und die Bilder der Nacht.

Dass der Junge derart unter Mitschülern leider kommt ja erst spät zum Tragen. Schon ok, aber ich dachte eine ganze Weile, da passiert nix mehr. Zum Glück war die Geschichte nicht so lang und ich blieb dran, habe ich das Maleur kapiert.

Den letzten Absatz habe ich nicht eindeutig verstanden. :shy: kommen die bösen Jungs nicht mehr zu ihm? Weil er sie nicht verpfiffen hat? Ist jetzt Markus wieder das Opfer? Und warum fällt niemandem auf, dass jede Nacht das Bettzeug durchnässt ist? Entschuldige bitte, dass ich begriffsstutzig bin heute Morgen.

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Guten Morgen Kenji,
danke für Dein schnelles Feedback. Ja, die Dramatik sollte durchaus etwas unscharf sein. Es ist die vierte Geschichte einer kleinen Serie von insgesamt sieben. Ich habe damit vor einigen Jahren meine eigene Zeit in einem Kinderheim aufgearbeitet.

Den letzten Absatz hast Du durchaus richtig verstanden. Thomas hat endlich seine Ruhe. Naja. Nicht ganz. Aber wenigstens ist sein Bett nicht mehr nass.

Aufgefallen ist das freilich niemandem. War das Bett glatt zurecht gemacht und die Tagesdecke darüber, schaute keiner nach. ;-) Irgendwie ist das wie mit der Sonne. Tagsüber, wenn sie scheint, ist alles ganz hübsch. Doch nachts lauern überall Monster und übelste Schattenwesen.


Nochmals danke.

Bunte Grüße
Märchentroll

 

Hej nochmal,

falls du vorhast, die anderen Teile noch einzustellen, sehe ich mit Vergnügen entgegen.
(Schlimm, was einem so passieren kann :hmm: - gut, dass du eine Möglichkeit der Verarbeitung gefunden hast :))

Gruß, Kanji

 

Hallo Maerchentroll!

Zuerst war mir deine kleine Geschichte ein bisschen zu langsam und hat sich an jeder noch so schön eingeflechteten Metapher ein bisschen aufgehangen. Später folgte ja dann die schlichte Handlung.
Aber ich muss gestehen, dass ich die Ausformulierungen deiner Bilder trotzdem genossen habe! Du verstehst es ausgezeichnet mit Wörtern und Bildern zu jonglieren, sie zu Türmen zu stapeln und diese umkippen zu lassen :) (Ich hoffe ich werde darin auch noch ein bisschen besser werden)

Ich bin auf jeden Fall gespannt auf mehr und hoffe, dass die noch folgenden Geschichten noch ein bisschen tiefer in die Materie hineingehen werden.

Du hast bereits erwähnt, dass du deine eigenen Eindrücke über ein Heim mit einfließen lassen hast. Mich würde interessieren, wie es tatsächlich in einem Heim zuginge, wie viel deiner Geschichte wirklich und wie wenig aus der Luft gegriffen ist ;)

Lg Chocier

 

Hey Chocier,
danke für Dein Feedback. Mir scheint, meine sieben alten Geschichten haben Schwierigkeiten den Leser bei der Stange zu halten. Wie gut, dass sie so kurz gerieten. Ich habe meinen Stil inzwischen etwas angepasst. Allerdings habe ich noch nicht ganz entschieden, ob ich mir "übertrieben schwülstig", "frech-unverschämt" oder einfach "trivial" gefalle. Vielleicht finde ich hier meinen Stil und kann ihn perfektionieren.

Einiges aus meinen Geschichten ist natürlich aus der Luft gegriffen. (z.B. Motten) Der Hauptteil jedoch, ist erschreckend wirklich. Was immer Wirklichkeit auch ist, die Wirkung hält bis heute an. ;-)

Die sieben Geschichten fließen derzeit in ein größeres Projekt ein.


bunte Grüße
Märchentroll

 

Hallo Maerchentroll,

ich habe diese Geschichte jetzt noch nicht gelesen, habe aber gesehen, dass sie mit deiner ersten Geschichte Purpurschnecken zusammengehört. Die erste hast du als Serie gekennzeichnet. Alle anderen Geschichten, die dazugehören, müssen ebenfalls als Serie gekennzeichnet sein. Du solltest versuchen, das noch nachzuholen. Wenn du nicht zurechtkommst, wende dich an einen Moderator.

Gruß
khnebel

 

ohhh... vielen Dank, khnebel...
ich habe gerade vergeblich versucht, diese Geschichte als Teil der Serie zu markieren. Danke für den Rat, es bei einem Moderator zu versuchen. Das werde ich dann wohl tun.

Mit der vierten Geschichte zu starten, war natürlich auch etwas unglücklich.


Bunte Grüße
Märchentroll

 

Hallo Märchentroll,

ich habe deine Geschichte als Serienteil gekennzeichnet. Die bisherigen Teile kannst du in deinem ersten Antwortpost verlinken, wenn du willst, um es den Lesern einfacher zu machen, sie zu finden. Wenn es noch andere Geschichten gibt, die zur Serie gehörne und noch nicht mit "Serie" gekennzeichnet sind, sag Bescheid.

 

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