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vier - Tränenmeer
Die Zimmerdecken können dieser Tage schon sehr hoch geraten und so verlieren sich suchende Kinderaugen in der Unschärfe des Daseins. Es ist bisweilen angebracht die Dinge etwas weich zu zeichnen.
Weich fällt der Blick eines kleinen Jungen auf kahle, weiße Wände. Thomas ist neu hier. Der lichte Feuerball ist noch nicht untergegangen aber die Zeit zum Schlafen längst angebrochen. Die Schatten werden Minute für Minute länger und gleichzeitig auch schwächer. Die Fensterläden sind offen, weil das Dunkel der Nacht ohnehin genug Unbehagen mit sich bringen wird. Gott sei Dank ist eine benachbarte
Straßenlaterne gewillt, dem nächtlichen Schauspiel mit ihrem kühlen Licht auf die Bühne zu helfen.
Allerlei Mottenvieh wohnt diesem Laienspiel bei und bleibt im gleißenden Licht der Enthüllung hängen. Sie werden auf die besten Ränge gezwungen. Motten lassen sich leicht dazu bringen, einer Szene beizuwohnen. Hell muss es sein. Dieses Licht, im Dunkel des Daseins, schmerzt nicht nur die Motten.
In dieser Nacht wird es wieder regnen. Der Schlaf lässt auf sich warten und Unbehagen greift um sich. Regen fällt oft dieser Tage! Der Regen hat im Laufe vieler Wetterkapriolen gelernt wie er zu fallen hat. Auch Thomas fällt. Nacht für Nacht. Und auch er hat gelernt wie man fällt. Es ist still. Vor der Zimmertüre sind Schritte zu hören. Die Türe öffnet sich und warmes Licht fällt durch einen Türspalt ins Zimmer. Der Lichtkegel nimmt blitzschnell seinen Weg und hilft dem wachsamen Augenpaar zu erkennen was es zu kontrollieren sucht. Der Junge schließt die Augen noch bevor er der Schlaflosigkeit überführt werden kann. Nicht nur kleine Jungen beherrschen dieses Kunststück. Es scheint schon seit jeher angebracht zu sein, sich in eine Schlafstarre hineinzutäuschen. Es bleibt jedoch ein Trugschluss, zu glauben, Nachfolgendes ungeschehen zu machen, wenn man die eigenen Augen nur fest genug verschlossen hielte. Doch im Dunkel erträgt sich vieles leichter. Und dunkel wird es bereits. Wenige Augenblicke später schließt sich die Türe wieder. Jetzt bleibt dem Zimmer und dem kleinen Jungen nur das tapfere Licht der guten Straßenlaterne. Die Sonne hat sich inzwischen hinter den Bergen des Nordschwarzwaldes zurückgezogen und das nächtliche Schauspiel kündigt sich bereits erwartungsvoll an. Zum wiederholten Male weiß Thomas was folgen wird. Nacht für Nacht – seit er in dieses Zimmer einzog. Das muss ein schlechtes Zimmer sein! Der Kopf des Jungen liegt auf der Seite und seine Augen beobachten, wie sich die Ränge in diesem Lichtspielhaus füllen. Dieses Theaterstück ist erneut ausverkauft. Die Motten flattern auch an diesem Abend unruhig um die beste Aussicht. Zeugen werden sie jedoch nicht! Schon damals hat die Gemeindeverwaltung erwogen, in den Nächten den Strom abzuschalten. So kann auf der einen Seite gespart werden, was auf der anderen mit dunklem Entsetzen zu bezahlen ist. Irgendjemand bezahlt immer für das, was einem anderen von Nutzen scheint.
Es ist soweit: Einem eigenen Rhythmus folgend kommt die Dunkelheit näher. Der Junge kann erkennen, wie bereits einige Straßen weiter die Laternen abgeschaltet werden. Jetzt ist seine Laterne an der Reihe. Das Licht versiegt und lässt der Nacht ihren Raum. Thomas dreht sich zur Wand und schließt die Augen. Zu sehen ist ohnehin nichts und es ist auch besser, wenn er jetzt nichts zu erkennen versucht. Die verbleibenden Sinne arbeiten jedoch hervorragend. Die noch feinen Haare auf den Armen stellen sich in die Dunkelheit und herannahende Geräusche lassen dem Jungen einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen. Ein dumpfes Murmeln dringt in das Zimmer. Die Türklinke knarrt leise und öffnet die Türe einen Spalt weit. Anders als zuvor fällt kein warmes Licht in das Zimmer. Die Motten haben sich längst ein lichteres Schauspiel ausgesucht und sind bereits vor Minuten weitergeflogen. Der Junge ist ganz auf sich alleine gestellt. Keine Motte und keine Fee und auch kein Zauberer wird jemals von diesem Platzregen erfahren. Regnen wird es! Wie sonst ist zu erklären dass Thomas drei Augenblicke später unter nassen Decken den Schlaf suchen wird. Seine Tränen alleine, haben selbst in diesen Tagen kaum ausgereicht um die Laken mit dem Nass aller Verzweiflung und Hilflosigkeit zu tränken. Es geht ganz schnell. Verbrechen geraten immer in Eile, wenn im Anschluss nötiger Trost und Hoffnung zur Verantwortung ziehen. Doch Unrecht schreit seit Äonen eher leise. Sehr leise! Nach vollbrachtem Werk stiehlt sich dieses Verbrechen, wie die Nächte zuvor auch, still und heimlich davon.
Auch diese Nacht wird wieder erheblich länger werden als sie es unter normalen Umständen sein würde. Eiseskälte sucht den Jungen heim. Klamm und feucht hält diese Kälte Thomas davon ab, wenigstens vier Minuten Schlaf zu finden. Er hat seit vielen Nächten keinen Schlaf gefunden. Vier Minuten oder auch nur drei wären mehr als er sich träumen ließe. Seine Hoffnung hierauf blieb längst auf der Strecke. Wie lange muss er dem nächtlichen Unwetter noch standhalten?
Der Morgen dämmert noch nicht und die Straßenlaterne wird wieder angeschaltet. Ihr kühles Licht macht alles noch kälter. Selbst die Motten sind schlafen gegangen. So interessieren sich nicht einmal diese für das was geschah. Nicht mehr lange und Thomas wird geweckt werden. Auch Markus würde aus seinem Schlaf gerissen. Dieser Zimmerkammerad hat keinen besseren Schlaf als andere Jungen dieser Tage. Selbst gerademal knapp acht Jahre alt, hat er aber immerhin gelernt, gewisse Zeiten zu überstehen. Still, leise und in aller Heimlichkeit. Er hat nun Ruhe. Wenige Tage zuvor wurden ihm selbst immer wieder maßgeschneiderte Lektionen zuteil. Er würde einen Teufel tun, Hilfe zu leisten, wo doch aller Hass endlich an ihm vorbei zieht!
Die Zeit nimmt inzwischen ihren Lauf, was deutlich dem Stand der Sonne zu entnehmen ist. Frühstück, Schule und Mittagessen verdrängend, versinkt Thomas immer mehr in den Tiefen seiner Stille. Zeit hat für Ihn längst keine Bedeutung mehr. Er blättert in einem Versandkatalog und sucht die Quelle zukünftigen Trostes. Der Junge sitzt in einem erbärmlichen Zustand über den aufgeschlagenen Seiten und so kommt es, dass wider Erwarten eine Erzieherin Notiz von seiner Hilflosigkeit nimmt. Endlich!
Selbst recht hilflos, gibt sich diese Junge Frau mit der Antwort zufrieden, dass Thomas Heimweh hätte. Erneut befragt, warum er sich denn nach seinem Zuhause sehnen würde, schaut Thomas die Erzieherin mit großen Augen an. Er kann ihr unmöglich erzählen, dass er jede Nacht mit mehreren Eimern kaltem Wasser übergossen wird, dass er in diesen Tagen so unsagbar hilflos ist und dass genau diejenigen, die sich mittlerweile neugierig und drohend um sie versammelt haben, hierfür verantwortlich sind.
Thomas schiebt die aufgeschlagene Katalogseite hinüber zur Erzieherin. »Ich vermisse mein Fahrrad!« Genau das zu sagen, hatten ihm die Ältesten vorgegeben. Erstaunlicherweise ist die Frau schnell zufrieden und wohl froh, nicht zuviel erfahren zu müssen.
Von diesem Tag an, regnete es in den Nächten nur noch draußen. Thomas hatte immer viel Mitleid mit den nassen Motten und viel Mitleid mit Markus, während der Himmel an die Fensterscheiben weinte. Derselbe Himmel weint auch heute noch.