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Vom Träumen und Vergessen
Auf der Suche nach einer Geschichte stieß Herr Anders auf den Gnom.
Als er erschrocken aus seinen trüben Gedanken fuhr, stellte er fest, dass ihn seine Schritte in den Wald geführt hatten. Er war schon lange nicht mehr da gewesen. Frau Anders mochte es nicht, wenn er im Wald spazieren ging. „Das ist viel zu gefährlich“, hatte sie ihm seine Waldspaziergänge abgewöhnt. „Du könntest stolpern und dir ein Bein brechen, oder du wirst von einem Ast erschlagen, außerdem gibt es dort gefährliche Zecken und anderes Getier.“ Und sie vergaß nie hinzuzufügen, dass er stets nach seinem Spaziergang den halben Wald mit ins Haus schleppte und sie noch tagelang danach Tannennadeln aufkehren musste.
Eine geraume Weile starrte Herr Anders den Gnom nur an, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Das kleine Männlein ließ die Musterung geduldig über sich ergehen und starrte seinerseits zurück. Es mochte vielleicht zwei Handlängen messen. Es trug ein sackähnliches Gewand, aus dem Füße, Arme und Kopf herauslugten. Der Kopf schien etwas zu groß für den Rest des Körpers zu sein, was der ganzen Erscheinung einen drolligen Anstrich verlieh. Verstärkt wurde dieser niedliche Effekt durch riesige Augen und einen mächtigen Zinken von einer Nase. Dennoch hatte die Gestalt nichts Puppenartiges an sich, denn die Haut wirkte ledern und war von vielen kleinen Fältchen durchzogen. Auf dem Kopf wuchs dem Gnom grasgrünes Haar.
Herr Anders befreite sich aus seiner Starre und rieb sich ungläubig die Augen. Und tatsächlich schien die zwergenhafte Gestalt vor ihm unscharf zu werden. Ob er sich das alles nur einbildete?
„Was tust du?“
Herr Anders fuhr ertappt zusammen. „Ich … Entschuldigung …“ Er sah sich einmal rasch um. „Ich wusste nicht, dass es euch wirklich gibt.“
„Wir haben auch schon an dir gezweifelt. Wo bist du all die Jahre gewesen?“
„Ich verstehe nicht …“
„Früher warst du jeden Tag hier und hast mit uns gespielt.“
Die Worte des Gnoms ließen bei Herrn Anders eine längst verstaubte Erinnerung anklopfen. Das Klopfen klang hohl, und das Echo brachte verschwommene Bilder mit sich. Bilder einer bunten Kindheit voller Fantasie und Lebenslust. Die Bilder zeigten ihm, wie er als Knabe durch den Wald gezogen war und Kraft seiner Gedanken seine eigene fabelhafte Welt erschaffen hatte.
Er hatte den gesamten Wald in eine Märchenlandschaft verwandelt und ihn mit den absonderlichsten Wesen bevölkert.
Die Bilder wurden immer klarer, er sah sich mit den Wesen sprechen, mit ihnen spielen, Abenteuer durchstehen. Das war die Zeit, als er mit dem Schreiben angefangen hatte. Ja, jetzt sah er sich unter einem Baum sitzen und seine Erlebnisse in dieser fantastischen Welt aufschreiben, während die Gnome und Elfen um ihn herumtanzten.
Wie hatte er all das nur vergessen können, wunderte sich Herr Anders.
„Anscheinend ist das geschehen, was allen von deiner Sorte im Alter passiert“, sagte der Gnom. Seine großen Augen blickten traurig.
„Wir verlernen zu träumen“, sinnierte Herr Anders und der Gnom nickte.
Herr Anders dachte zurück, versuchte sich zu erinnern, wann er aufgehört hatte, sich von seiner Fantasie entführen zu lassen.
Wieder das hohle Klopfen, mehr Bilder, schärfer diesmal.
Er hatte immer viel geschrieben, er brauchte sich ja nicht extra etwas auszudenken, sondern nur das niederzuschreiben, was er erlebt hatte. Und die Erinnerungen flossen mühelos aufs Papier.
Irgendwann fiel eine seiner Geschichten jemanden in die Hände, der sich und Herrn Anders großen Profit davon versprach. Und dieser jemand behielt Recht.
Herrn Anders Geschichten wurden in Bücher gebunden und fanden in der Welt der Menschen, die selbst verlernt hatten zu träumen, großen Anklang. Indem die Menschen Herrn Anders Geschichten lasen, war ihnen, als träumten sie ihr eigenes Versäumtes nach.
Doch der Erfolg entpuppte sich als ein Wirbel, der ihn selbst aus seinem Traumreich riss und in die Welt der Nicht-Träumer warf. Herr Anders wurde auf einem Silbertablett herumgereicht, von einem Paar wichtiger Hände in das nächste.
Dabei durchreiste er viele Länder und sah viele Orte, aber je weiter er sich von seinem Wald entfernte, desto mehr ließ er auch seine Gabe des Träumens hinter sich. Doch davon merkte Herr Anders lange Zeit nichts, denn die wichtigen Hände hielten ihn in einem festen Griff umklammert, lenkten ihn von Vergnügen zu Vergnügen. Und er folgte ihnen willig, trunken vom Sog des Ruhmes.
Herrn Anders lief eine einsame Träne über die faltige Wange, als er die letzten Bilder seiner Vergangenheit an sich vorbeiziehen sah.
Denn so wonnig er sich auch im Licht des Erfolgs gesonnt hatte, so tief hatte es ihn letztlich ausgebrannt. Nach einem langen Rausch wachte er wieder bei sich zuhause auf. Er wachte auf mit Frau Anders an seiner Seite, die sich jeden Tag darüber beschwerte, dass es nicht mehr so sei, wie es früher mit ihm gewesen ist. Und tatsächlich war nichts mehr so wie früher.
Das Silbertablett war so stumpf geworden, dass er darin kaum mehr sein Spiegelbild erkannte. Die wichtigen Hände sah er, wenn überhaupt, nur noch aus der Ferne eilig winken. Aber was das Schlimmste, und gleichzeitig der Grund für sein Stranden in der Welt der Nichtträumer war: Die Worte flossen nicht länger aus Herrn Anders heraus, er musste sich beim Schreiben anstrengen und eine nie gekannte Mühe an den Tag legen, um überhaupt einen vernünftigen Satz zu Papier zu bringen. Er verbrachte lange verzweifelte Nächte vor seiner Schreibmaschine, bis er schließlich gar nicht mehr schrieb.
Der Gnom schaute Herrn Anders mitleidig an.
„Unsere Welt war einst auch deine Welt. Wie sollen wir leben in ihr, ohne dich?“
Dann klatschte der Gnom plötzlich in die Hände und rief:
„Du hast Verantwortung! Du kannst uns nicht einfach so erschaffen und uns dann dem Vergessen überlassen.“
Durch Herrn Anders ging ein heftiger Ruck. Plötzlich schien alles ganz klar. Er war fest entschlossen, der Welt des Gnoms zu neuer Pracht zu verhelfen. Fest entschlossen, seiner Welt neue Pracht zu verleihen. Mit einem Mal verstand er überhaupt nicht mehr, warum er dies noch nicht längst getan hatte. Wie hatte es nur soweit mit ihm kommen können?
Dann durchzuckte ihn plötzlich Angst. Er dachte an Frau Anders.
„Was, wenn mich die Wirklichkeit wieder einfängt und mich erneut vergessen macht?“, flüsterte er beinahe.
Der Gnom fuhr sich mit einer würdevollen Bewegung durchs Haar und hielt Herrn Anders ein Büschel seiner grasgrünen Haarpracht entgegen.
„Schreib eine Geschichte, bring uns und dir unser Leben zurück!“
Es war spät, als Herr Anders nach Hause kam. Frau Anders begrüßte ihn mit den Worten: „Und, warst du erfolgreich?“
Schuldbewusst zuckte Herr Anders zusammen. Eigentlich war er heute ausgezogen, um endlichen ihrem Drängen nachzugeben, sich eine „richtige Arbeit“ zu suchen.
„Ich habe eine Idee für eine neue Geschichte“, sagte er mit so fester Stimme, wie er konnte. Aber er merkte selbst, dass es sich mehr wie eine Entschuldigung anhörte.
Natürlich war Frau Anders nicht begeistert. Eingeschüchtert ließ er ihre Vorwürfe über sich ergehen. Und mit jedem Wort nagte der Zweifel ein wenig mehr an ihm. Denn Frau Anders hatte Recht. Wann hatte er zum letzten Mal geschrieben? Konnte er überhaupt noch schreiben? Würden seine Geschichten überhaupt noch Anklang finden? Wie sollten sie ihre Rechnungen bezahlen?
Einem gescholtenen Schuljungen gleich, stand er vor ihr, die Hände in den Hosentaschen vergraben, den Blick gesenkt. Doch dann fühlte er das Gnomenhaar in seiner Tasche und neue Zuversicht durchfuhr ihn. Er ließ die Litanei seiner Frau ungeduldig über sich ergehen und huschte rasch ins Arbeitszimmer, als sie eine Pause machte.
Mit zitternden Fingern nahm er die Haube von seiner altmodischen Schreibmaschine. Er rückte den Stuhl zurecht, legte feierlich das Haarbüschel neben sich, atmete einmal tief ein – und begann zu schreiben.
Das erste Wort tippte er noch zögerlich, doch dann konnte er kaum mehr an sich halten. Seine Finger flogen wie von selbst über die Tasten, einem Riss im Staudamm gleich schoss es aus ihm heraus, füllte Seite um Seite. Bis in die tiefste Nacht schrieb er, und die ganze Zeit schien ihm, als spräche das Gnomenhaar zu ihm.
Herr Anders erwachte von polternden Putzgeräuschen seiner Frau. Er richtete sich schlaftrunken auf und konnte sich gar nicht mehr erinnern, wie er den Weg auf das Sofa gefunden hatte. Aber das kümmerte ihn auch nicht. Er fühlte eine tiefe Glückseligkeit, spürte in sich noch immer den Nachklang eines belebenden Traumes. Mit einem Schlag war Herr Anders hellwach. Das gute Gefühl war schrecklicher Angst gewichen. Was, wenn er sich das Ganze nur eingebildet hatte?
Herr Anders stürzte zum Schreibtisch und suchte nach dem Gnomenhaar. Es lag nicht mehr dort.
„Hast du meinen Schreibtisch aufgeräumt?“, rief er mit Entsetzen in der Stimme.
„Das war überfällig.“
„Was hast du mit dem …“ Gnomenhaar gemacht, wäre ihm beinahe herausgerutscht.
„Hast du etwas vom Tisch genommen?“ Herrn Anders’ Stimme überschlug sich fast.
„Nein, ich habe nichts vom Tisch genommen“, rief Frau Anders pikiert zurück.
„Aber da war doch – denk noch mal nach!“
Frau Anders verzog das Gesicht. „Du regst dich doch nicht wegen des Büschels Gras auf?“
„Das war kein Gras!“ Herr Anders war den Tränen nahe. „Was hast du damit gemacht?“
Entrüstet präsentierte sie ihm die Kehrschaufel. „Wenn das kein Gras ist, was dann?“
Herr Anders nahm das Gnomenhaar von der Schaufel. Unter den ungläubigen Blicken Frau Anders’ befreite er es von Staubflusen und befühlte es. Er roch daran, zerrieb es zwischen den Fingern. Ein Schluchzen entrang sich seiner Seele. Es war nichts weiter als gewöhnliches Gras.
„Dann habe ich mir das alles nur eingebildet …“, murmelte er kraftlos.
Wenn er sich die ganze Geschichte nur eingebildet hatte, dann konnte er auch nichts geschrieben haben. Herr Anders zwang sich, erneut zum Schreibtisch zu gehen. Auf der Arbeitsfläche fand sich keine Seite beschriebenen Papiers. Aber das musste nichts bedeuten. Es war immer eine Angewohnheit von ihm gewesen abgeschlossene Arbeiten in die Schublade „Ruhend“ zu legen, wo er sie normalerweise einen guten Monat unter Verschluss hielt, um sie dann erst mit dem nötigen Abstand Korrektur zu lesen.
Aber diesmal konnte er keinen Monat warten. Seine Hand zitterte, als er die Schublade aufzog.
Geräuschvoll klappte Großvater das Buch zu.
„Aber Großvater, wie geht die Geschichte zu Ende?“, protestierte Lena.
„Das, mein Kind, musst du schon selbst entscheiden“, sagte Großvater mit einem verschmitzten Lächeln und strich ihr über den Kopf. „Schlaf gut, meine Liebe.“
Lena wollte erneut protestieren, doch anstatt des Protestes entrang sich ihrer Kehle ein herzhaftes Gähnen.
„Träume etwas Schönes.“
„Ich werde das Träumen nie verlernen“, murmelte Lena trotzig und war kurz darauf eingeschlafen.