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Vom Verdrängen

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30.06.2014
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Vom Verdrängen

Das widerwärtige Geräusch kratzte sich an den Rand ihrer Wahrnehmung. Sie stellte fest, bald wieder in die Nacht hinaus zu müssen. Als Soforthilfe stellte sie den Fernseher laut und versuchte sich in der Ärzteserie zu verlieren. Aber es war da. Bevor das rhythmische Klopfen und Schaben die Grenze des Bewusstseins überschreiten konnte, um sich in ein unsäglich schlechtes Gewissen zu verwandeln, schnappte sie sich ihre Tasche und Jacke um aus der stinkenden Wohnung zu fliehen.
Die Eile ließ sie die nötige Vorsicht vergessen, Moni verfing sich im Gang in einer der Mülltüten und stürzte der Länge nach hin. Sie landete weich im bestialisch stinkenden Unrat vieler Monate, den sie in ihrer Wohnung hortete und dessen Dasein sie beflissen verdrängte. Eilig rappelte sie sich hoch und flüchtete zum Fahrstuhl, drückte den Knopf und war zum Ausharren gezwungen. Die Untätigkeit brachte das Gehirn wieder zum Laufen, dies war aber verboten. Vor sich selbst flüchtend stürzte sie lieber die acht Stockwerke durch das Treppenhaus nach unten. Die frische Kühle der Nacht empfing sie gnädig. Als sie am Mahnmal, dem überfüllten Briefkasten vorbei war, fühlte sie sich ein bisschen freier. Ihre Nase lief wässrig, ein sicheres Anzeichen, dass bald die Kälte kam und dann das Ziehen in den Waden, das Gurgeln des Gedärms, der Würgreiz und schlussendlich die Depression.

Am Charlottenplatz stieg sie aus. Der Geruch dieser Unterführung ließ die Gier aufflammen und ihren Bauch brennen. Aber erst hatte sie noch etwas zu erledigen.
„Suchst du?“, empfingen sie gleich ein paar Gerippe in dreckigen Klamotten.
„Nein, ich muss erst …“
„Ach so.“ Enttäuscht huschten die Zombies in ihren Schatten zurück.

Sie stellte sich gegenüber dem Parkhaus auf und zog das dreckige T-Shirt ein bisschen hinunter, um den Ansatz der kargen Weiblichkeit zu zeigen. Schnell überprüfte sie im Handspiegel das picklige Gesicht und strich einen roten Lippenstift über den Mund. Es war ja dunkel, das würde schon gehen.
„Wieviel?“, fragte es aus dem Innenraum des ersten Autos.
„Wichsen ohne Anfassen zwanzig Mark, mit Anfassen oder Lutschen dreißig, Ficken mit allem drum und dran sechzig“, leierte sie ihren Spruch runter.
„Ich will das große Programm und zahl vierzig.“
„Nichts da, sechzig oder du machst es dir selber.“
„Okay, einigen wir uns auf fünfzig, steig ein.“ Sie hatte jetzt keine Wahl, es musste schnell gehen.

Sie fuhren zum üblichen Parkplatz, der schon übersät war von zerknüllten Taschentüchern und Kondomen. Er drückte ihr den Schein in die Hand und griff in ihren Ausschnitt. Beugte sich zur Beifahrerseite und näherte sich aufdringlich ihrem Gesicht. Sie drehte den Kopf weg, fokussierte draußen einen Punkt am Stamm eines Baumes und träumte sich weg.
Wie immer in den Momenten, wenn sie ihren benutzten Körper verließ, dachte sie an ihre schönste Kindheitserinnerung. Diese hatte sie mit einem der vielen Männer, die sie Papa nennen musste. Er unterschied sich komplett von den anderen in Kneipen aufgelesenen Säufern. Er war ein Hippie mit Helfersyndrom, der eine Zeitlang glaubte, die schöne, aber kaputte Mutter retten zu können. Er war voller Liebe und Lebensfreude. Auch für sie blieb einiges übrig. Er war immer zärtlich zu ihr, ohne sie zu begrabschen. Ließ sich den langen Bart und die Haare von ihr flechten. Immer wenn sie heute den Geruch frischem Tabakrauchs roch, sah sie sein struppiges Gesicht vor sich und fühlte die Heimat in seiner bartkitzelnden Umarmung. Einmal erfüllte er ihren heißesten Mädchentraum und nahm sie mit zu einem Reitstall. Dort, auf dem Rücken eines Pferdes, hatte sie die schönste Zeit ihres Lebens. Rhythmisch im Stolztaumel, weit erhaben über die Trümmer ihrer Kindheit.
„Komm raus, ich will dich von hinten ficken.“
Er ließ auf dem Schotter die Hosen runter, sie zog ihre in die Kniekehlen und positionierte sich breitbeinig stehend vor ihm. Ließ ihn ein bisschen anfangen, bis er sich in Rage gestoßen hatte, dann stützte sie sich scheinbar Halt suchend am Boden ab und durchsuchte mit der anderen Hand die Gesäßtasche seiner runtergelassenen Hose, spürte den Geldbeutel, wurstelte sich seitlich rein, tastete die Scheine, zog sie raus und verbarg sie in der Hand. Vom kleinen Bündel in ihrer Hand ging ein sonniges Gefühl der Zuversicht aus. Gemischt mit der Angst, erwischt zu werden.
Aber geile Männer waren unvorsichtig, das wusste sie aus Erfahrung. Hinter ihr kam es langsam zu einem widerlichen Gehechel, sie wusste, er war jetzt auf der Ziellinie und blind für seine Umgebung, sie nutzte den Moment, um die Scheine in ihre Hosentasche zu stecken.
Überglücklich eilte sie bald durch die Straßen. Nach der ersten Ecke zog sie das Geld aus der Hose, um es zu zählen. Hundertachtzig Mäuse und der Fuffi. Sie begann zu rennen, wenn jetzt noch gute Dealer unterwegs wären, gäbe es doch noch eine geile Nacht.

Sie hatte Glück. Den ersten Schuss setzte sie sich gleich im Wald, nahe dem Fernsehturm. Ein bisschen Braunes auf den Löffel, ein wenig Ascorbinsäure, beim Aufkochen lief ihr schon das Wasser in den Mund und aus der Nase. Dann ein paar Tropfen Wasser, um die goldbraune Suppe abzukühlen und noch eine Prise Weißes. Die Nadel war nicht mehr frisch und kratzte im Arm, sie brauchte lange, um eine Vene zu finden, der ganze Arm war schon verschmiert von ihrem Blut. Irgendwann hatte sie die Ader doch und pumpte das Gift in ihren Organismus. Schnell rauschte es in ihr Gehirn und überflutete dies mit Euphorie und dem Gefühl der Heimat.
Den Weg zurück fuhr sie heiter und ruhig. All die Hetze war verschwunden. Die sieben zu runden Plomben verpackten Portionen der Drogen in ihrem Mund gaben ihr die innere Ruhe zurück. Nichts konnte sie jetzt noch aus dem Gleichgewicht bringen.
Das Schaben und Klopfen war noch da. Der Überfluss an Drogen machte sie großzügig. Zwischen zwei Schüssen schnappte sie eine aufgerissene Tüte vertrockneter Waffeln und eine Flasche Wasser.
Es gelang ihr, das Zimmer mit den verklebten Fensterscheiben zu betreten. Sie schmiss die Nahrung Richtung Bett.
Nicht einmal der kurze Blick in die Kinderaugen konnte ihr etwas anhaben.

 

Hallo Anakreon.
Erst einmal vielen lieben Dank für das intensive Beschäftigen mit meinem Text. Ich habe Deinen Kommentar etliche Male gelesen. Und bin zu einem Schluss gekommen:

Mit sachten Umformulierungen würden diese Szenen bis dahin an Glaubwürdigkeit gewinnen. Sie müssen dem Leser nachvollziehbar sein, was gelingt, wenn es die Wirklichkeit nicht zu sehr ritzt.
Dass es mit einfachen Umformulierungen des ersten Abschnitts nicht getan wäre. Ich muss weiter darüber nachdenken, denn ganz aus der Luft gegriffen ist Dein Problem mit den Sätzen nicht. Da mir gerade an dieser Geschichte viel liegt, werde ich mich noch einmal dran setzen und hoffen es nicht zu verschlimmbessern.

Erzählerisch hast Du gegenüber früheren Texten, soweit ich diese kenne, dazugewonnen

Das freut mich, Dankeschön.
Liebste Grüße,
Gretha

 

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