Von den Zielen
Von dem Verlangen getrieben endlich einmal etwas Herausragendes zu tun, begab sich R. in große Gefahr. Sein Leben schien ihm schon seit langem Unnütz, aber bisher war er nicht in der Lage gewesen sich eine Entscheidung abzuringen. Da die Welt um ihn herum ein Strudel aus Wirrnissen und Chaos war und er selbst sich schon im äußeren Sog dieses gigantischen Mahlstroms wähnte, glaubte er, nunmehr handeln zu müssen. Etwas in ihm war noch nicht verbogen und krumm, noch nicht falsch und dem Druck der Öffentlichkeit unterlegen. Dieses Etwas, sagte er sich, kann nicht nur mich retten.
Der Tag war schon einige Stunden alt und auf dem kleinen Bahnhof keine Menschenseele zu sehen. Das bisschen Geld, das er bei sich hatte, würde ihm gerade so für die Fahrt nach Berlin ausreichen. Er löste die Fahrkarte und wartete auf den Zug.
Jeder Mensch ist anders, so heißt es gemeinhin, aber irgendetwas an dieser Allerweltsweisheit schien ihm nicht zu stimmen. Als er noch jünger war, jünger und naiver, da hatte er das unbestimmte Gefühl, als ob die anderen so wie er wären. Im Laufe seines Lebens wandelte sich dieses Gefühl. Er sah sich alleine, umgeben von einem Haufen Namenloser, deren Lebensziel es zu seien schien, die Menschheit auf eine neue Form des Tierischen zurückzuführen. All diese Gefühle, diese ewigen Wiederholungen in den Lebensmustern, die Furcht etwas Einzigartiges zu sein und der falsche Glaube daran, tatsächlich etwas einzigartiges darzustellen, obschon man hätte sagen müssen: „Ja, ich habe einen Namen, aber ich könnte genauso gut so wie dieser Kerl da vorne heißen; schließlich handele ich ja genau so!“
Nun, so wie er die Welt wahrnahm, war die Welt nicht beschaffen und alles was er tun konnte, war zu versuchen ein Zeichen setzen.
In einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit wurde noch nicht von Fortschritt gesprochen. Damals entwickelten sich die Menschen. Heute, so sagte er sich, stehen die Menschen auf dem Fleck, auf einem Trainingslaufband und rennen, rennen immerzu. Eines Tages wird das Band durchgewetzt sein, der Antrieb zerstört und die Menschen werden sich auf dem Boden wieder finden, auf demselben Boden den sie schon lange geglaubt hatten verlassen zu haben.
Bilder schossen durch seinen Kopf. Er sah Menschen die sich opferten. Es gab tausende Gründe sich zu opfern: ein Glaube, ein Gefühl, ein Streben nach etwas und vielleicht sogar einfach nur der Kick zu erfahren, was es heißt zu sterben. Er mochte diese Vorstellung nicht. Niemand sollte sich opfern wollen. Bei all jenen war Wahnsinn und Lebensmüdigkeit mit im Spiel.
Etwas anders waren die, welche geopfert wurden. Menschen die Leben wollten und kämpften, die nicht zurückstanden hinter dem was sie sind, solche, die von der Masse als Gefahr wahrgenommen wurden. Das waren Menschen die stehen blieben, zurückliefen – und dann vorwärts sprangen- oder flogen. Menschen ohne kleines Ziel, die in der Lage waren große Ziele zu formulieren. Denen das Leben ein Spiel war.
Und ich will dazu gehören, zu den Tausenden, die gescheitert sind ohne je aufgegeben zu haben.
Er hatte einen Plan entwickelt, von dem er wusste, dass der Großteil der Menschen ihn nicht verstehen würde. Er würde mit Gewalt drohen, vielleicht sogar Gewalt anwenden müssen, aber das war ihm egal.
Der Plan sah vor die Deutschen zur Nacktheit zu zwingen. Vor seinem inneren Auge sah er Angela Merkel nackt mit Präsident Bush die Irakkrise besprechen. Er sah eine Aktionärskonferenz, bei der die Bosse splitternackt die neuesten Erfolgszahlen durchgaben. Er sah die Menschen in den Lidl und Aldi Filialen dieses Landes stehen und sich zeigen, ihre verrottenden Körper in der Warteschlange, ihre kleinen Gehirne beschäftigt, einander abmessend, von allerlei emotionalen Zuständen erfüllt. Das Ziel war gut. Lohnenswert.
Der Zug hielt in Berlin, auf dem großen, neuen, schönen Bahnhof. Er stieg aus und machte sich daran seine Pläne zu verwirklichen, erfüllt von der Gewissheit, das Richtige zu tun.