Von Licht und Dunkelheit
Von Licht und Dunkelheit
Robert Blunt war ein Mann, der stets darum bemüht war im Leben nicht aufzufallen. Es half ungemein sich anzupassen und im richtigen Moment auf der richtigen Seite zu stehen. Zumindest blieb man so am Leben und konnte sich eine kleine Welt erschaffen, in der man selbst herrschte und frei war. Vielleicht war es dieser Traum nach Freiheit, der schon seit Ewigkeiten in denkenden Wesen glimmt und der nie wirklich vergessen werden kann. Aber im Augenblick, im hier und jetzt war es wichtig sich nicht in der Umgebung zu verlieren, die mit ihrer modernen zukunftsweisenden Orientierung die beste Grundvoraussetzung der neuen Gesellschaft bildete. Man hatte erkannt, dass das Leben den Starken belohnt und die Schwachen bestraft. Nur der universelle Kampf bedeutete Evolution. Was als allgemeines Naturgesetz Bestand hatte musste auch auf die Welt der Menschen zutreffen. Die Individualität entsprach einer entfernten Nebelschwade am Horizont. Deshalb war es für Robert Blunt ja auch so wichtig einen Schutzwall um sein Innerstes zu besitzen; es war sein Refugium und ein Platz für den Teil seiner Persönlichkeit, der nicht der Norm entsprach. Als er erwachsen geworden war, wurde er auf Grund seiner biologisch reinen Natur und seines nicht zu verachtenden Intellekts der Abteilung für spezielle Aufgaben, zur Sicherung der Zivilisation überstellt. An einem grauen Novembertag trug er zum erstenmal die schwarze Uniform mit den silbernen Knöpfen. Sein vorgesetzter Kommandant erläuterte ihm die Bedeutung des Auftrages. Es gehe um den Erhalt und den Ausbau der entwickelten Fähigkeiten der Spezies des Menschen und es sei deshalb unumgänglich mit radikalsten Mitteln das Recht auf besseres Leben zu verteidigen. Alle Anteile, die es womöglich behindern, müssten sofort beseitig werden. Robert lernte in den nächsten Jahren viel über die logische Ethik und erfuhr die Wahrheit über die Illusionen des Mitgefühls, der Liebe und Gnade.
Seine ersten Aufträge betrafen hauptsächlich kleinere Verstöße gegen die Freiheit der Gesellschaft. Da waren geringe Vorkommnisse von Volksverhetzung einiger Künstler und Schriftsteller, die sich einbildeten sie würden den Menschen eine Alternative präsentieren. Ihnen den Geist öffnen, damit sie sich dem Menschsein bewusst werden. Nun, das waren alberne Träumereien, die zudem recht anmaßend waren, wenn man bedachte, dass einzelne Subjekte eine allgemein gültige Ordnung verwerfen wollten. Die Eingreiftruppe von Robert Blunt konnte dem Spuk schnell den Garaus machen und die sogenannte Meinungsfreiheit im Keim ersticken. Die Mehrheit dieser kriminellen Elemente wurde nach Norden in die Besserungsanstalten gebracht, für eine intensive medizinische Betreuung war gesorgt.
Mit der Zeit verdiente sich R. Blunt die ersten Lorbeeren und bald durfte er das Schwert der Gerechtigkeit 1. Klasse entgegennehmen, nachdem er zuvor eigenhändig eine große Lagerhalle voller propagandistischer Lügen durch das Feuer gereinigt hatte. Es war die Zeit in der man in der oberen Leitung beschloss ihn an eine neue Stelle zu versetzen.
Der alte Güterbahnhof wirkte wie ein Überbleibsel aus einer fremden Zeit, mit den alten verrosteten Schienen und den rohen Backsteinen. Jeden Morgen kam ein neuer Trupp mit Lastwagen, der seinen lebenden Inhalt auf die Verladerampen ergoß. Dann fuhr die große alte Lok mit ihren schweren Waggons vor und die elektrischen Plasmakissen zischten als sie an die Rampe andockten. Die Waggontüren schnellten in die Höhe und das Gewürm kroch hinein, manch einer musste getragen werden, ein anderer versuchte zu fliehen, doch die Sicherheitsklammern an seinem Schädel bohrten sich in seinen Willen und verwandelten das Haupt in nassen, warmen Matsch. Am einfachsten war es für Robert mit den Frauen und Kindern, sie wehrten sich nicht und das freute ihn jedes Mal, denn die Arbeit machte ihm bisweilen Spass. Er hasste es wenn es zu unnötigen Scherereien kam. Es war doch alles geklärt. Die biologisch unbedeutenden oder gar gefährlichen Einheiten mussten ebenso in die nördlichen Bezirke gebracht werden, um ihnen selbst und der Gemeinschaft ein besseres Dasein zu sichern. Man würde sich ihrer annehmen und dann würden einige wenige vielleicht sogar geheilt in die höhere Welt zurückkehren. Es war sehr einfach. Es machte Sinn. Seine kleine Welt war sowieso außerhalb dieser Parameter. Sie störte nicht. Man konnte gut in zwei Welten leben. Vielleicht taten das diese Menschen auch. Wenn sie soweit denken konnten. War es nicht seltsam, dass er seine Individualität für sich behalten konnte und ebenso in die Gruppe integriert war? Nein, es war der erste Schritt zur Erleuchtung.
Im Sommer wurde es schrecklich. Eine furchtbare Hitze lähmte das Land und ein jeder stöhnte unter der Arbeit.
Viele brachen auf den Rampen zusammen und mussten von den Reinigungskräften abgeholt und in die Desintegrationskomplexe überführt werden. Schlimm, dass die Leute aber auch so wenig tranken bei diesen Temperaturen!
Sie begegnete ihm ganz zufällig, er wäre beinahe achtlos an ihr vorbeigelaufen. Sie war nichts besonderes, nur eine weitere verwirrte Nummer in den grauschmutzigen Lumpen, die sie als defektes Mitglied deklarierten. Ihre roten Haare und ihre grünen Augen schienen dennoch rein und unberührt. Vielleicht hatte ihn gerade das aufmerksam gemacht. Er lächelte. Sie lächelte zurück. Unter anderen Umständen hätte er sie gefragt ob sie nicht nach der Arbeit mit ihm etwas trinken gehen wolle, doch zwischenmenschlicher Kontakt war hier an dieser Stelle strikt untersagt. So nickte er ihr zu und sah sie in den schwarzen Schlund hinabsteigen. Bevor sich die Tür mit einem Ruck schloss, drehte sie sich um und sah im direkt in die Augen. Robert Blunt war wie gelähmt. Es war ein Gefühl, als ob er ein helles Licht in der Tiefe des Meeres erblickt hätte, das im Bruchteil einer Sekunde von der alles umhüllenden Dunkelheit verschluckt worden war. Niemand hätte es ihm geglaubt. Doch Robert wusste es war da. Jemand hatte einen Fehler gemacht. Einen bösen Irrtum. Diese Frau konnte doch niemals als Geschwür der Gemeinde klassifiziert worden sein. Er hatte es in ihren Augen gesehen.
Es war ihm leichtgefallen herauszufinden zu welcher Stätte dieser Transport erfolgt war. Nicht so leicht war es seinen Vorgesetzten zu überzeugen ihn zum dortigen Wachpersonal versetzen zu lassen. Irgendwie konnte er immer noch nicht ganz begreifen weshalb er das alles tat. Man wusste nicht viel über die Lager im Norden. Sie sollten der Auslese dienen und den Fortbestand der Menschheit sichern.
Nach vier Wochen erhielt Blunt tatsächlich den Befehl sich in das nächste Truppenversorgungsshuttle zu setzen und sich in der Anstalt 341 als neuer Wachoffizier vorzustellen. 341 war eine gutgesicherte gigantische Anlage in den Bergen der nördlichen Eishemisphere, deren Zweck die Herstellung von Throndyrium diente, einem wichtigen chemischen Element für die moderne Waffenindustrie. Von weitem sahen die Insassen des Fluggeräts nichts als die unendliche Leere der Gebirgswüste und das Shuttle erzitterte bisweilen unter den verheerenden Luftverwirbelungen, als ob eine unheilvolle Macht sie hindern wollte ihr Ziel zu erreichen. Irgendetwas war im Begriff sich wie eine elektrische Spannungsquelle aufzuladen. Es knisterte schon.
Was der Grund für seinen Wunsch hier draußen Wache zu schieben wäre, fragte ihn der leitende Chefmediziner. Blunt entgegnete ihm, dass er der Verschiebeaktionen überdrüssig sei und er nun vielmehr aktiv an der finalen Lösung der biologisch- ethischen Probleme mitwirken wolle. Es stellte sich heraus, dass ein Teil der Insassen dazu auserkoren war an den Generatoren zu arbeiten, die das Throndyrium aus erlesenen Erzen gewannen. Der andere Teil wurde schlichtweg terminiert. Dazu bediente man sich der Kammern, in die die heißen Überreste aus den Schmelzgeneratoren abgesondert und gesammelt wurden. Eine Kammer konnte so, binnen weniger Minuten gefüllt, einen Anteil von mindestens zweihundert Untereinheiten zersetzen. Robert vollführte seine Aufgaben gewissenhaft und suchte in seiner spärlichen freien Zeit ständig die verschiedenen Sammelplätze der Arbeitsdrohnen auf, um das Licht wiederzufinden, das er vor einer ganzen Weile erblickt hatte.
Die Meldungen waren besorgniserregend. Anscheinend hatte sich das politische Klima verändert und dieselbe Kälte der Umgebung von A 341 angenommen. Viele Zungen sprachen plötzlich von Apokalypse und Weltuntergang. Aggressoren aus der südlichen Hemisphere wären auf dem Vormarsch.
In dieser Periode ereignete sich der Aufstand. Einige Arbeiter hatten es irgendwie fertiggebracht sich ihrer Sicherheitsklammern zu entledigen und griffen das Wachpersonal mit Arbeitswerkzeugen an. Blunt’s Trupp eilte zu Hilfe und deckte die Aufrührer mit Salven aus ihren Lasergewehren ein. Die Rädelsführer wurden zur Strafe mit den Füßen voran in die Schmelzgruben getunkt. Andere stellte man umgehend den Medikern zu lethalen Forschungszwecken zur Verfügung. Die Ordnung war gerettet. Ohne sie wäre das Leben bedeutungslos.
Robert Blunt bemerkte kurz darauf eine Veränderung. Seine innere Welt schien sich zusammen zu ziehen. So als würde sich alle Materie darin wie in einem schwarzen Loch zusammenballen. Der Grund war ihm unbekannt. Einige Tage später wurde vom Oberkommando die Order erlassen das Lager umgehend aufzugeben und die Stellung mit vorhergehender Säuberung zu räumen. Sämtliches Personal sollte daraufhin der Landesverteidigung überstellt werden. An Throndyrium besetzten Raketen war anscheinend kein Mangel.
Der oberste Aufseher und Chefmediziner rief seine Führungsriege zu einer Sondersitzung zusammen, bei der auch Robert anwesend war. Die ganze Aktion sollte schnell und unkompliziert von statten gehen. Man war sich einig, alle humanoiden Hindernisse mit den toxischen Dämpfen der Throndyriumabfälle, sowie mit den heißen Erzschmelzen zu überwinden. Danach würde eine Überhitzung des Hauptreaktors die Mauern von A 341 für immer zu Staub zerblasen.
Blunt’s Gruppe war für die Durchführung der Auslöschung der Nummern 2500 bis 5000 betraut. Man hatte ihnen gesagt sie würden in andere Anstalten verfrachtet werden um allgemeine Panik zu vermeiden. Glücklicherweise arbeiteten die Kammern recht schnell und die Schreie wurden durch den dicken Fels überhört.
Es war in dieser Stunde als er fast die Hälfte der Zahlen abgehandelt hatte, als er sie erblickte. Sie stand etwas abseits einer größeren Terminationseinheit. Vor Überraschung fiel ihm fast die Laserpistole aus der Hand. Ihr Haar und ihre Augen leuchteten wie einst als er sie bei der Verladerampe gesehen hatte. Er hatte sie nicht vergessen. Wegen ihr war er hier und sie war der Grund weshalb er an diesen Ort gekommen war. Unter all den tausend Menschen hatte er sie endlich gefunden. Sie blickte herüber, wurde seiner gewahr und lächelte traurig. Eine Träne rollte über ihre rechte Wange. In diesem Moment explodierte die kleine Welt von Robert Blunt. Sie löste sich komplett und zerfraß die äußere Hülle. Schnellen Schrittes bewegte er sich auf sie zu.
Einer der Wachmänner erhob auf einmal sein Gewehr und richtete es auf die helle Gestalt. Bevor Robert einen entsetzten Schrei von sich geben konnte, sengte ein Lichtblitz durch den Oberkörper der Erscheinung.
Er fing sie rechtzeitig auf bevor sie auf den Boden fiel. Ihre Kleidung war abgerissen und die Hände aufgerissen von der schweren Arbeit. Die Augen sahen ihn noch ein einziges Mal an und ihr Mund lächelte ihm zu. Dann wurde es still.
Der Protokolleintrag besagte, dass ein Gruppenführer der Wachmannschaft an diesem Tag die Nerven verloren hätte und in wütendem Wahn fast seine gesamte Mannschaft erschoß. Erst die eintreffende Verstärkung war in der Lage den Täter durch mehrere tödliche Schüsse zu stoppen. Offenbar wäre der Anblick einer gezielten Extinktion durch ein Wachmannschaftsmitglied der Auslöser für diesen Offizier gewesen. Vermutlich müsste man in Erwägung ziehen bessere psychologische Untersuchungen beim Wachpersonal zu gegebenen Zeitpunkten vorzunehmen, um der Gefahr einer im Blutrausch stehenden Amoktat vorzubeugen.
Gelesen wurde dieser Eintrag nie. Kurz darauf schlugen die ersten Interkontinentalraketen ein und setzten die gesamte nördliche Hemisphere in Brand. Der darauf folgende nukleare Winter dauert bis heute an.
Robert Blunt ist in das grüne Meer gefallen und hinab in das schimmernde Licht getaucht. Es lässt ihn vergessen was geschehen ist und was er tat. Sein Innerstes ist nun mit dem Lächeln zusammen. Es ist gut.
Unsere Dimension wartet auch heute noch auf den Punkt an dem sie aus der Dunkelheit für immer in das Licht, das ihr zu Hause, ist zurückkehren kann.