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Waat dat watt?
Ole sitzt zum ersten Mal in seinem Leben alleine auf dem Dachboden. Es war immer Käthes Aufgabe, sich um Adventsschmuck, Weihnachtskugeln und all die schönen Dinge zu kümmern. Der brüchige Pappkarton in seinen Händen fühlt sich viel zu leicht an, dabei hängen die samtroten Kugeln doch schon seit Jahrzehnten an ihrem Weihnachtsbaum. Kurz zuckt es ihm in den Fingern, den ganzen Krempel einfach mit Schwung die Treppe hinab zu befördern. Tief durchatmend stützt sich Ole mit einer Hand auf Käthes altem Webstuhl ab und steht langsam auf. Beim Runterklettern wirft er noch kopfschüttelnd einen Blick aus der Luke im Dach. Von der Trauerweide am Deich kann er nur Umrisse erkennen, Nebelsuppe hat die Welt verschluckt. Schon beim morgendlichen Hafengang war kein Luftzug zu spüren, nichts hat die trüben Gedanken davongeweht.
Mit Beginn der Adventszeit hatte Käthe immer all die Weihnachtssachen vom Boden herabgeräumt, den Adventskranz aufgehängt und am dreiundzwanzigsten wurde gemeinsam der Baum geschmückt. Als ihre drei Jungs noch klein waren, so heimlich wie möglich. Aber jedes Jahr fanden die Racker einen Weg, den Baum auszuspionieren. Daher war es bald Männersache, während Käthe sich ums Festessen kümmerte und nur ab und an ein „Waat dat watt?“ rief. Nun sind ihre drei Söhne seit knapp zwei Jahren außer Haus, einer in Neuseeland, einer in München und einer verheiratet auf dem Nachbarhof. Käthe starb im September, einfach so.
Im letzten Jahr gab es zum ersten Mal zweisame Weihnachten und es war herrlich. Natürlich waren zur Bescherung ein Teil der Familie und die lütte Enkeltochter da. Am Ersten gab es ein großes Weihnachtsessen. Als alle weg waren, holte er seiner Käthe ein Glas Bowle und legte noch ein Scheit aufs Feuer. Beim „Mensch ärgere dich nicht“ war er der Verlierer und musste Schnittchen schmieren. Dicht beieinander hatten sie abends auf der Couch gesessen und die Dickens-Verfilmung mit dem Geizkragen geschaut. Dem Klappern von Käthes Stricknadeln lauscht er heute noch hinterher.
Ole streckt sich, brüht sich in Käthes gepunktetem Becher einen Tee auf und fängt an, den von der Decke hängenden Kranz mit Kugeln zu schmücken. In seinem Kopf hört er das so vertraute „Waat dat watt?“
Noch zwei Wochen bis Heiligabend und das Wetter fühlt sich kein bisschen winterlich an. Beständige Winde, die Nasen zum Laufen bringen, gibt es im Norden immer. Ole hält mit einem schnellen Griff die Schmidtmütze fest, bevor eine Böe sie in die Pfützen des Hofes treiben kann. Mit hochgezogenen Schultern stemmt er sich gegen die heftigen Stöße. Gerade sechzehn Uhr und schon wieder stockfinster. Gefühlt hat die Radiowerbung recht, die da was von einer norddeutschen Jahreszeit plappert, wo gleich nach dem Sonnenaufgang der Sonnenuntergang käme. Laura, seine Schwiegertochter, steigt aus dem Auto und kommt lächelnd auf ihn zu. „Moin, moin, Ole!“
Ole nickt und gibt ein „Moin“ zurück.
„Du, wegen Weihnachten ...“, sagt Laura, während Ole ihr die fünf oder sechs Einkaufstüten aus dem Auto hebt. „Bescherung ist um drei, ich habe einen Weihnachtsmann besorgt. Das ist echt teuer, also sei pünktlich!“
Ole öffnet den Mund, doch Laura redet schon weiter. „Du kannst noch zum Abendbrot bleiben. Sag mir einfach Bescheid, ob du willst.“ Sie greift ihre Einkäufe und will Richtung Hintertür davoneilen.
Ole holt tief Luft und sagt: „Äh, das machen wir doch aber ganz anders …“ Der Sturm reißt an seinem Schal und verweht die Wörter.
Laura schaut über ihre Schulter und ruft: „Jetzt mach’s nicht kompliziert, wir nehmen dich Weihnachten.“
Sie ist schon in ihrer Küche verschwunden, als Ole noch überlegt, wie er nett formulieren könnte, was ihm durch den Kopf geht. Der angekündigte Sturm ist da, eisige Winde schieben Ole hin und her, während er seine Fäuste öffnet und schließt. Warum fällt ihm nur nicht so schnell eine Antwort ein, wenn er sie braucht? Den Schal enger ziehend, stapft Ole in Richtung Kneipe. „Dat waat nix“, murmelt er vor sich hin.
Ole muss kräftig an der Tür der „Einsamen Möwe“ ziehen und bringt einige Graupelkörner mit hinein. Während er die nasse Jacke aufhängt, nickt er zum Stammtisch. Karl und Manfred haben jeder einen Pott Kakao vor sich und das Skatspiel sieht bereits gemischt aus. Ole wischt mit dem Hemdsärmel einen Tropfen von der roten Nase und hebt fragend eine Augenbraue.
„Wir müssen nachher noch mal auf´n Deich“, knurrt Karl.
„Wat fünn Schietwetter“, sagt Ole verständnisvoll, „dat waat nich lustig.“
„Weißt doch, es regnet nich, is nur feuchte Luft“, sagt der dürre Manfred und schaut seinen Kakao skeptisch an.
„Ja, ja, Regen is erst, wenn die Heringe in Augenhöhe schwimmen. Ich kenn deinen Schnack“, kontert Ole. „Ist aber echt eklig da draußen. Kommst kaum gegen an. So ist es mir gerade auch aufm Hof ergangen. Meine Schwiegertochter hat einfach mal angesagt, wie Heiligabend ablaufen wird."
„Ach, bei Dir auch? Ich hab zu hören gekriegt, dass dieses Jahr mal meine Tochter dran wäre, mich zu nehmen“, sagt Karl und zieht das Wort „nehmen“ in die Länge.
„Na, was ‘n Glück, das ich keinen mehr hab, der Opa abschieben kann“, grinst Manfred und fragt: „Was haste denn geantwortet, Ole?“
„Ich kau noch auf der Antwort rum, bin nich zu Wort gekommen. Aber, bei 'Wer nimmt Opa' spiel ich nicht mit.“
Karl legt prompt die Skatkarten weg. „Jo, dann lasst mal schnacken, wie wir gegenholen können?“
„Hab vorhin im Supermarkt mehrere Zettel gesehen: 'Weihnachtsmann gesucht!' Wär das nich was für uns?“, fragt Ole seine Freunde.
„Lass gut sein Ole, kommst doch schon mit deiner eigenen Enkeltochter nicht klar, was willst du dich mit fremden Plagen versuchen?“, sagt Manfred.
„Stimmt ja gar nicht“, antwortet Ole „wenn die Lütte brav is, kann ich gut mit ihr.“
Der stämmige Karl streicht sich über den Vollbart und meint: „Naja, kriegst du halt die lieben Kinder.“
„Und du?“, fragt Manfred sofort.
„Von uns Dreien seh ich am ehesten nach nettem Opa aus. Ich übernehm die Ängstlichen und ganz Kleinen, denen kann man schön was erzählen“, sagt Karl.
„Schon klar, welche Gören ich kriege“, brummelt Manfred. „Aber stimmt ja, ich guck gut böse und meckern kann ich auch. Was nehmen wir denn dafür?“
„Ich dachte an Naturalien, sagen wir mal, Kartoffelsalat, Würstchen und Glühwein“, meint Ole. „Danach treffen wir uns bei mir und feiern zusammen anständig Weihnachten.“
Die drei Männer knöpfen ihre Jacken fest zu und stürzen sich in den Sturm und ihre Vorbereitungen.
Allmählich werden aus verirrten Flöckchen waagerecht fliegende Geschosse. Ole jongliert auf seinem Fahrrad den großen Jutesack, ein gutes Dutzend Tupper-Dosen und zwei Flaschen Glühwein. Außerdem eine Thermoskanne voll mit der Spezialmischung vom alten Frank – Bösen Zeug. Das lange Weihnachtsmannkostüm macht es nicht einfacher. In seinem Haus angekommen, legt er rasch Holz nach und fängt an, den ‘Weihnachtsmannlohn‘ auf dem Tisch aufzubauen. Das sieht nach einem üppigen Mahl aus. Sie waren sich alle einig, Selbstgemachtes schmeckt am besten. Schon klappert die Gartenpforte und er hört Karl sagen: “De Lütte vom Schlachter nuckelte die ganze Zeit und die Tränen standen kurz vorm Schwappen. Doch als die Eltern mich wegschicken wollten, nuschelte sie ein ‘Erst Geschenke‘ und griente mich vorsichtig an.“
„Kommt rein, ihr bärtigen Kerle, der erste Glühwein ist heiß“, ruft Ole.
„Und das Essen reicht für mehr als eine prächtige Nacht“, schwärmt Karl, während er ihre Schätze auspackt.
Manfred zuckt leicht mit den Schultern, als Ole fragend auf den Gitarrenkasten blickt. „Naja, vielleicht ist uns ja nachher 'n bisschen danach, aber ich spiel nur Shanty und Rock“, setzt er noch schnell nach.
Was für ein Weihnachtsmorgen! Eine für Norddeutschland völlig ungewohnte, weiße Daunendecke aus knapp drei Zentimetern Schnee, dazu strahlendblauer Himmel und leichter Frost. In der Heiligen Nacht hat sich der Sturm verzogen und nun besinnlichem Feiertagswetter Platz gemacht. Ole schiebt den Weg zur Trauerweide frei und nickt seiner Schwiegertochter freundlich zu.
„Frohe Weihnachten, Ole! Schade, dass du nicht da warst. War was Wichtiges …?“, fragt Laura. „Aber es war toll, ganz viele Geschenke für die Kleine und das Essen war lecker und der Baum war ganz in Silber und Hellblau, mal was anderes. Nur der Weihnachtsmann …“, sprudelt es aus Laura, während sie mit Ole über den Deich auf die Elbe schaut.
„Wieso?“, fragt dieser.
„Ach, ich weiß auch nicht, der war total jung, so ein schmaler Student. Hat sich verhaspelt, ist ganz rot geworden und hat alles vom Zettel abgelesen. Und schnell, schnell. Selbst die Kleine hat zweifelnd geschaut. Und das für fünfzig Euro. Meine Mädels haben heute ganz was anderes erzählt.“
„Watt denn!“, kommt es von Ole, während sie unter der Trauerweide den Deich herabsteigen.
„Die hatten total coole Weihnachtsmänner, wie echt. So richtig mit Loben und Meckern und Bösegucken und auf die Knie-Setzen, beim Gedichtaufsagen. Annes Großer hat nicht schlecht geguckt, als der Weihnachtsmann ihm was zum Schwarzangeln und Fischeklauen erzählt hat. Und die haben noch nicht mal was gekostet, nur ein bisschen was zu essen.“
Ein Windstoß bringt die langen Äste der Weide zum Schwingen und ein kleines Schneegestöber fällt direkt auf Laura. Während sie noch prustet, greift Ole in seine Tasche und hält ihr einen der Abrisszettel aus dem Supermarkt hin. „Frag mich halt nächstes Jahr … Dann waat dat watt“, und rückt ihr die Mütze zurecht.
Auf dem Weg in die gute Stube fällt sein Blick auf Käthes Foto und lächelnd streicht er über den Rand. Sie waren sich schon in jungen Jahren einig, dass sie immer für sich selbst einstehen wollen. “Dat waat watt“, murmelt er.