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Waldspaziergang
Wie eine Mauer zog sich der Nebel durch den Wald. Er konnte kaum einen Zentimeter weit sehen. Bedrückende Stille durchzog die kalte Luft. Sachte, ganz sachte, drückten seine nackten Füße das feuchte Herbstlaub in den Boden. Die Idylle des angebrochenen Tages flog förmlich an ihm vorbei.
Mit der quälenden Gewissheit über die Aussichtlosigkeit seines Unterfangens war er auf der Flucht.
Auf der Flucht vor Ihnen. Ihnen. Er wusste nicht mehr, wer Sie waren, nicht was sie getan hatten und warum. Nur, dass sie ihn länger gefangen gehalten hatten, als sein Verstand ertragen konnte.
Doch er konnte keine weiteren Gedanken daran verschwenden, warum und vor wem er auf der Flucht war, er musste weg von hier. Schnell, rennen, schnell weg von diesem Ort. Rennen. Er wollte rennen. Er musste rennen. Doch er konnte es nicht. Er konnte nicht rennen. Wenn er es tun würde, würden Sie ihn hören. Und dann hätten sie ihn, wüssten wohin sie zu laufen und zu schießen hatten, würden ihn gewaltsam mit sich schleppen, in Ketten, zurück an den Ort, ohne Aussicht auf eine zweite Gelegenheit zu flüchten, für immer würde er dort verharren müssen, könnte nicht mehr entkommen, niemals. Nie...
Also schlich er. Stundenlang. Stundenlang quälte er sich in Millimeterarbeit durch das Unterholz. Dutzende Minuten war er damit beschäftigt, seinen Fuß anzuheben, sein Gewicht aus zu balancieren und den Fuß langsam wieder ab zu setzen. Kaum einen Zentimeter bewegte er sich vorwärts. Jedes Mal, bei jeder Bewegung, mit jedem Atemzug, in jeder Sekunde, ohne Unterlass, mit einer grausam perversen Kontinuität musste er sich fragen, ob Sie ihn gehört haben könnten.
Eine viertel Stunde verharrte er lauschend auf einer Stelle, horchte nach dem Anflug eines Geräuschs, versuchte jede Schwingung in der Luft mit seinen Ohren einzufangen. Jahre schien er dort zu verharren. Kein Laut. Nichts. Absolute akustische Leere.
Doch er war nicht allein. Nie war er allein. Irgendwo lauerten Sie. Irgendwo. Er versuchte diesen Gedanken zu verdrängen und sich wieder darauf konzentrieren, sein Bein in die Luft zu heben um einen weiteren Schritt zu tun. Doch es gelang ihm nicht. Wieder schossen ihm die Erinnerungen an Sie und den Ort hervor. Die unklaren Silhouetten und sein lückenhaftes Gedächtnis ließen ihn erschaudern.
Trotz der Kälte ronnen ihm die Schweißperlen von der Stirn. Kein Geräusch. Wieder trat er vorsichtig nach vorne. Zu schnell. Kaum merklich rieben sich die vom Regen benetzten Blätter des Unterholzes gegen einander und erzeugten ein kaum hörbares Rascheln. Er zuckte zusammen, Panik kroch in ihm hoch.
Sie hatten ihn gehört. Taub vor Angst versuchte er zu rennen, weg, weit weg, rennen bis seine Lungen brannten, bis sie explodierten. Als er versuchte sich aus seiner Starre zu lösen, stolperte er über seine steifen Glieder, er fiel nach vorne, kroch eine Weile in der Erde umher, rappelte sich mühsam auf und rannte weiter. Weiter. Weiter. Dann, plötzlich hielt er Inne. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Luft. Er fühlte die Präsenz fester Materie vor sich. Kalt. Kalt und fest. Direkt vor ihm. Auf einen Schlag spannten sich all seine Muskeln an. Sie hatten ihn. Genau vor ihm stand Einer. Er hatte versagt. Er war wieder am Anfang, Sie würden ihn wieder zurück bringen, zurück an den Ort, den Ort der Qualen und Schmerzen die er acht Jahre lang ertragen musste. Acht Jahre umsonst, nur um wieder von vorn zu beginnen. Er rührte sich keinen Zentimeter. Ebenso wie die Gestalt vor ihm. Er würde ihn jetzt zurück bringen. Zurück. ZURÜCK!
In einem erneuten Anflug von Verzweiflung schoss ihm das Adrenalin durch den Körper.
Sein Herz schlug schnell, schneller als sonst, zu schnell, als dass es das hätte aushalten können, ein kurzer Stich in seiner Brust, dann, für den Bruchteil einer Sekunde, Nichts. Keine Geräusche, keine Herzschläge, keine Gefühle, keine Angst, Nichts. Nichts...
Dann brach er zusammen. Tot lag er auf dem Waldboden.