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Was kostet deine Seele?

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29.12.2012
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Was kostet deine Seele?

Vielleicht ist es Zufall, dass ausgerechnet du diese Zeilen liest.
Vielleicht!
Ich weiß fast alles über dich. Die Medien verbreiten mehr, als du glaubst. Hast du schon einmal zwischen den Zeilen gelesen? Guck nicht so erschrocken. Ich sehe dich. Hab keine Angst.
Ich kenne deine Geheimnisse. Ich weiß, dass sie dich belasten. So stark, dass du dich nicht an alles erinnern willst. Aber sei beruhigt.
Ich werde dich erlösen!


Was kostet deine Seele?

21.04.2012


Einsamkeit. Irritation. Ratlosigkeit. Ein einziges Fragezeichen stand Alisa förmlich auf die Stirn geschrieben. Sie wusste weder wo noch wer sie war und warum sie überhaupt hier war. Sie fühlte sich leer. Wie ausgegossen. Ausgesetzt wie ein Stück Vieh in einer Großstadt. Weit weg von Zuhause. Zuhause. Wo war das noch gleich?

Das einzige, woran Alisa sich erinnern konnte, waren die letzten vierundzwanzig Stunden und die Autofahrt hier her. Auch wenn sie durch den Schal über ihren Augen nicht mitbekommen hatte, wohin sie gefahren wurde. Gefühlt waren es jedenfalls mindestens zwei Stunden Fahrt vom Haus ihres Retters aus. Er war es, der das Spiel vorgeschlagen hatte. Danach wollte er Antworten liefern. Antworten auf alle Fragen, die Alisa beschäftigten. Das meiste würde sich von selbst aufklären, hatte er gesagt. Und jetzt stand sie da. Vor dem Nichts. Mitten auf einem Gehweg in einer Gegend, die geprägt war von Einfamilienhäusern und Bäumen, welche den Rand einer schmalen Straße schmückten. Er hatte ihr aus dem Auto geholfen und gesagt, sie solle den Schal um ihren Augen abnehmen, sobald er bis drei gezählt habe. Dann zählte er. Eins…zwei…und fuhr von dannen.

Als Alisa den Motor aufheulen hörte, riss sie sich den fest sitzenden Schal vom Kopf und versuchte, die Augen zu öffnen. Die grelle Sonne verhinderte ein Zurechtfinden in den ersten Minuten. Und nun stand sie hier. Völlig wirr und nicht wissend, was sie tun sollte. Was war geschehen? Wo kam sie her? Was war gestern für ein Tag? Alisa versuchte, chronologisch vorzugehen und strengte sich an, um genau den Gedanken zu erfassen, der ihr am weitesten weg erschien. Um sich an das zu erinnern, was sie in ihrem Leben erlebt hatte, was sie auszeichnete. Um zu wissen, wer sie war. Doch das einzige, an was sich Alisa erinnern konnte, war der gestrige Tag. Und an diesen unfassbar gut aussehenden Mann. Er war vielleicht Ende dreißig? Im Schätzen war Alisa nie besonders gut gewesen. „Tyler“ hatte er sich genannt und gesagt, dass es nicht sein richtiger Name sei. Er benutze diesen für künstlerische Zwecke. „Was auch immer das bedeuten sollte“, dachte Alisa.

Er war wirklich hilfreich gewesen. Doch warum hatte er sie nun im Stich gelassen? Aufgefunden habe er sie an einer Straße, nachdem sie in Ohnmacht gefallen sei. Zumindest hatte Tyler ihr das so erklärt, als sie sich halbnackt und mit kleineren Wunden an ihren Armen und Beinen in seiner Wohnung wiederfand. Sofort hatte er beruhigend auf sie eingewirkt und ihr erzählt, was passiert war. Sie habe einen Unfall gehabt, sei mit dem Kopf auf der Straße aufgeschlagen. Er habe sie gefunden, in seine Wohnung gebracht und verarztet. Angeblich sei er ein Doktor und habe ihr einige wichtige Medikamente zur Schmerzlinderung gegeben, die ihr Erinnerungsvermögen ankratzen könnten. Nun ja. Sehr fürsorglich schien er zu sein, hatte Alisa in diesen Momenten gedacht. Später dann hatte er erklärt, dieses komische Spiel mit ihr zu spielen und ihr all ihre Fragen zu beantworten. Wie naiv konnte man nur sein?, dachte Alisa. „Ich hätte ihm nicht trauen sollen.“ Doch wie so oft in ihrem Leben hatte sie auf ihr Bauchgefühl gehört. Und das hatte gesagt: „Vertrau‘ ihm. Er hat dich schließlich vor Schlimmerem bewahrt. Was wäre gewesen, wenn sich niemand um dich gekümmert hätte?“ Alisa hatte keine Wahl. Ihr Verstand hatte ihr zwar etwas anderes gesagt, doch ihr Gefühl war der Meinung, in dem Fremden einen sympathischen, jungen Mann zu sehen, vielleicht Mitte dreißig, der in ihrem Leben womöglich einmal noch eine große Rolle spielen könnte. Er hatte für Alisa eine ungeheure Anziehungskraft durch sein selbstsicheres Auftreten. Sie hätte ihm wahrscheinlich alles geglaubt. Das hatte sie nun davon.

„Mama, bist du das?“, schrie ein kleines Kind auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Langsam hatten sich Alisas Augen komplett an das grelle Licht gewöhnt. Völlig irritiert sah sie zur anderen Straßenseite hinüber. „Oma, da ist Mama!“ Das Kind und eine Frau gehobeneren Alters liefen zielstrebig und schnellen Schrittes über die Straße. Sie blieben direkt vor Alisa stehen. Die ältere Dame schien den Tränen nahe und sagte zu dem Jungen: „Ja, mein Kind. Das ist deine Mutter!“

Der kleine Junge fing sofort an zu weinen und versuchte, Alisa zu umarmen. Alisa fühlte sich wie im falschen Film. Wer waren diese beiden? Und was wollten sie von ihr? „Entschuldigung“, sagte Alisa, „da muss es sich um eine Verwechslung handeln!“ Der Junge ließ ihr Hosenbein völlig entsetzt los und wich zurück. Auch Alisa ging einen Schritt nach hinten. „Eine Verwechslung?“, sagte die ältere Dame mit den dauergewellten und lila gefärbten Haaren. „Aber Kind. Erkennst du uns denn nicht? Robin und ich haben uns solche Sorgen gemacht. Wir dachten du seist…also…dass du nicht mehr unter uns bist, verstehst du?“ Ein Schauer überzog Alisas Körper. Sie hatten sich Sorgen um sie gemacht? Und dachten, sie sei tot? Konnte es wirklich sein, dass sie die beiden kannte? Immerhin konnte sie sich an so gut wie nichts mehr erinnern. Vielleicht hatte sie etwas Schreckliches erlebt, das ihr Erinnerungsvermögen außer Kraft gesetzt hatte. So etwas sollte es ja geben. Das hatte sie schon diverse Male im Fernsehen gesehen. Konnte es sein, dass ihre eigene Familie vor ihr stand? Als Alisa sich das fragte, drehte sich der Junge mit einem Mal um und rannte weg. In etwa fünfzig Metern Entfernung bog er rechts in ein Gartentor ein und verschwand. Scheinbar war dort das Haus, in welchem die beiden lebten. „Am besten du kommst erst mal mit, Schätzchen“, sagte die alte Frau zu ihr. Alisa ging auf diesen Vorschlag ein und hoffte, irgendwelche Erinnerungen an früher zu erlangen. Irgendetwas, das sie an gestern erinnerte oder an das Leben davor. Vielleicht eine Kleinigkeit. Doch nichts geschah. Sie fühlte immer noch diese drückende Leere in ihrem Kopf. Als hätte jemand die „Reset“-Taste gedrückt und zuvor die gesamte Festplatte gelöscht. Ohne jegliches Gefühl für das Kind oder die fremde Frau ging Alisa in den Armen der Alten zu deren Haus. „Schön haben Sie es hier“, sagte Alisa. „Oh Gott, Schatz. Was ist bloß mit dir los? Ich bin es doch. Deine Mutter“.


24 Stunden vorher…

„Alisa, du zitterst ja. Hast du Angst? Ich bitte dich, wovor denn? Vor mir? Mehr als vor dir selbst? Ich bitte dich…“
Alisa schwitzte. Gleichzeitig lief es ihr eiskalt den Rücken herunter. Sie konnte sich nicht wehren, war machtlos in diesem Gerüst aus Draht und Eisen. Mit jeder Sekunde, die verging, geriet sie mehr und mehr in Panik und bekam dabei immer weniger Luft, konnte sie doch nur durch die Nase atmen, da ihr Mund mit Klebeband fixiert war.

„Was meinst du, wie sich dein Sohn gefühlt hat? So wie du jetzt vielleicht? Nein, Alisa. Nicht im Ansatz so wie du.“
Der fremde Mann hob bedrohlich seinen rechten Zeigefinger in die Höhe und flüsterte ihr mit einer rauen, mächtigen Stimme ins Ohr: „Du hast keine Ahnung, was du deinem Jungen angetan hast, was?! Denk nach.“ Ein nicht zu erfassender Schmerz durchzog Alisas Glieder, als er eine Peitsche vom Schrank nahm und sie mit voller Wucht auf ihren nackten Oberschenkeln niederprasseln ließ. Alisa wurde wieder bewusst, in welch aussichtsloser Situation sie sich befand. Halbnackt, nur mit einem BH und ihrem schwarzen Rock bekleidet, saß sie da. Auf diesem widerwärtigen Stuhl. Oder was auch immer es war. Ein Geflecht aus hunderten von Stacheldrähten, versehen mit einem alten, kleinen Ledersitz in der Mitte. Scheinbar war alles genau auf sie abgestimmt. Alisas Kopf passte haargenau zwischen all das stachelige Gestrippe, welches sich bereits teilweise in ihren Hals gefressen hatte. Alisas Hände waren an zwei Lehnen fixiert. So fest, dass sie blau anliefen. Der Raum war dunkel und karg. Erkennen konnte Alisa nicht viel. Nur den Mann, der sie peinigte und der mit einem erhabenen Lächeln und der Peitsche vor ihr stand. Sogleich schoss Alisa der Gedanke durch den Kopf, was mit all den Leuten passiert war, die in den „Saw“ – Filmen in genau solche Situationen geraten waren. Von wegen Fiktion. Doch sofort wurde dieser Gedanke durch einen weiteren schmerzhaften Peitschenhieb unterbrochen.

Der fremde Mann legte die Peitsche wieder ab und ging kurz darauf wortlos aus dem Raum. Endlich Gelegenheit für Alisa, sich kurz zu erholen. Wenn man das Erholung nennen konnte. Immer wieder versuchte sie, zu schreien, doch sie brachte kaum noch einen Ton heraus. Und wenn doch, verhallte dieser alsbald in dem Klebeband, das fest auf ihrem Mund saß. Alisas Herz pochte bis zum Hals, als der Mann zurückkam. Er hatte ein paar Fotos in der Hand.
„Das, Alisa. Das sind Fotos von deinem Sohn. Ich habe ihn beobachtet, als er in eurem Garten gespielt hat. Unschuldig. Ausgelassen.“
Alisa brannte vor Wut, doch sie war hilflos. Ein zermürbendes Gefühl der Machtlosigkeit breitete sich in ihr aus.

„Hast du deinen Sohn jemals so gesehen? Und wenn ja, warum hast du nicht alles dafür getan, ihn öfter so zu sehen? Du bist erbärmlich, Alisa. Dein Sohn hatte Angst vor deinem Mann. Das weißt du doch sicher? Was glaubst du - wie fühlt man sich als kleines Kind, wenn man von seinen eigenen Eltern verleugnet wird, wenn man misshandelt wird vom eigenen Vater, dem Vorbild eines jeden kleinen Jungen? Sprich mit mir, Alisa!“

Sein Tonfall wurde schärfer.

„Glaubst du, dein Sohn hat solche Eltern verdient? Einen saufenden und prügelnden Vater, der sich an ihm vergeht und eine Mutter, die tatenlos dabei zusieht und sich auf die Seite eines Monsters stellt? Hast du deinen Sohn wirklich jemals geliebt, Alisa?“
Alisa kamen die Tränen. Sie weinte und schluchzte. Ihre Angst war noch da, doch sie wurde bedeckt von einem riesigen Haufen voller Schuldgefühle und Scham.

„Ich weiß, dass dein Mann vor einem Jahr gestorben ist. Totgesoffen hat er sich. Leider. Ich hätte mir für ihn etwas Gerechteres ausgedacht. Aber nun hab ich dich.“ Alisas Blick fiel auf einen Zeitungsartikel direkt neben ihr auf einem kleinen Tisch. Sie konnte ihn nicht genau erkennen in der Dunkelheit. Die Dämmerung des Abends tat ihr Übriges. Oder waren die Jalousien heruntergezogen?
„Ach. Wie ich sehe, hast du den Artikel entdeckt. Das ist nur die Spitze des Eisbergs, Alisa“, sagte Tyler mit bedrohlicher Stimme. „Ich weiß alles über euch, habe recherchiert, war fast immer in eurer Nähe. Da staunst du, was?“
Tyler nahm den Zeitungsartikel und hielt ihn Alisa direkt vors Gesicht. „Schau, ein Bild von deinem Mann. Hier wird er als prügelnder Vater beschrieben, der sowohl seinen Sohn als auch seine Frau misshandelt hat und sich durch seinen Tod der Justiz entziehen konnte. Alisa - ich weiß, dass es so nicht war. Ich weiß, dass er dich nie unsanft berührt hat, auch wenn du das vor der Presse behauptet hast, um deinen kleinen, süßen Arsch zu retten! Einzig und allein Robin war hier das Opfer. Dieses hilflose, kleine Wesen. Nennst du das gerecht? Es gibt Menschen, die sind böse. Und es gibt Menschen wie mich, die kämpfen für Gerechtigkeit. Für Gerechtigkeit, die in unserer heutigen Gesellschaft leider allzu oft auf der Strecke bleibt. Und du, Alisa, hast es verdient, bestraft zu werden. Ein Kind muss man beschützen. Erst recht sein eigenes. Eine Schande, dass ich dir das sagen muss, Alisa! Und dennoch glaube ich zu wissen, dass ohne deinen Mann ein anderer Mensch in dir steckt. Du kannst auch anders, Alisa. Das weiß ich. Deshalb sollst du eine zweite Chance kriegen. Kopf oder Zahl, Alisa?“

Alisa war schockiert. Was für eine zweite Chance? Und woher hatte er all die Details über ihren Sohn und ihre Familie? Alisa wusste, dass sie große Fehler gemacht hatte. Fehler, die niemals wiedergutzumachen waren. Und doch liebte sie ihren Sohn. „Ich werde immer für ihn da sein!“, versuchte Alisa, zu formulieren. Nachdem sie diesen Satz ein drittes Mal in ihr Klebeband gesprochen hatte, verstand Tyler, was sie sagte. Doch es beeindruckte ihn nicht.

Er warf eine Münze.

„Zahl, Alisa. Das ist deine Chance. Mach was draus!“
Tyler griff in seine rechte Hosentasche und holte zwei kleine Kapseln heraus. Er ging in die Küche und ließ sie langsam in einem Wasserglas auflösen. Als er wiederkam, sagte er: „Trink, Alisa!“ Alisa geriet noch weiter in Panik, schnitt sich ihren linken Ellenbogen am Stacheldraht und erkannte, dass sie wieder ruhiger werden musste, um nicht in diesem elenden Stuhl zu verrecken.
„Trink, hab ich gesagt, oder willst du deinen Sohn nicht wiedersehen?“ drohte Tyler nachdrücklich.
Alisa blieb keine andere Wahl. Tyler entfernte das Klebeband an einer Stelle ihres Mundes leicht und setzte das Glas an ihre Lippen. Alisa schluckte. Und wurde müde.

„Es ist deine letzte Chance in einem neuen Leben, Alisa. Vermassel es nicht. Du darfst noch einmal ganz von vorne anfangen und all das Schreckliche aus deiner Vergangenheit hinter dir lassen. Es wird für dich sein, als hättest du es nie erlebt. Als hättest du diese Fehler nie begangen. Wehe, du ergreifst diese Chance nicht. Er war das Monster. Aber du hast zugesehen. Und dafür nun bezahlt. Es wird Zeit, dass du deine wahre Seite zeigst. Deine liebevolle Seite. Deine Seite als fürsorgliche Mutter. Falls du es schaffen solltest, ganz von vorn zu beginnen und eine Beziehung zu deinem Sohn aufzubauen, wenn du ihn morgen wiedersehen wirst. Deinen fremden Sohn…“


12.06.2012

Tyler kramte in einer seiner Schubläden, um den neuesten Zeitungsartikel zu lesen, den sie über ihn geschrieben hatten. Unter seiner Doktorarbeit, die er sorgfältig über all den Artikeln aufbewahrte, fand er ihn. „Till Lawington – Endlich Hoffnung für kranke Seelen“ war die Überschrift in der „TZ“. Tyler empfand diesen Titel durchaus als ein wenig zu überspitzt und dennoch gefiel er ihm. Auch wenn „Tyler“ eigentlich viel zeitgemäßer klang. Doch diesen Namen hatte er sich für seine Opfer aufgehoben.

Wie alle Artikel, in denen er vorkam, hob er auch diesen auf und holte ihn sich ab und an vor. Ein Gefühl des Triumphs machte sich in ihm breit. Jahre hatte es gedauert, ja beinahe Jahrzehnte, um endlich diesen wissenschaftlichen Coup zu landen. All die Fortschritte, die er in letzter Zeit gemacht hatte, geheim zu halten, war seine bis dato schwerste Aufgabe gewesen. Wie oft hatte seine Schwester gefragt, wann er mit seiner geheimnisvollen Arbeit fertig sei. Und nun endlich sah es alle Welt. Tyler hatte es mit Hilfe einiger Kollegen, die für ihn im Hintergrund agiert hatten, geschafft, etwas Sensationelles zu entwickeln. Zum ersten Mal war es möglich, Menschen zu helfen, die solch extremen posttraumatischen Belastungsstörungen ausgesetzt waren, dass sie durch ihre schlimmen Erfahrungen nicht mehr leben konnten. Tyler hatte sie entdeckt. Die Pille, mit der exakt die richtige Hirnregion angegriffen wurde. Die Pille, mit der Erinnerungen des Patienten gelöscht werden konnten. Die Pille für Opfer von grausamen Gewalttaten, die vergessen haben wie es sich anfühlt, befreit zu leben. Und Tyler hatte noch etwas getan. Er nahm sich einige der Exemplare mit nach Hause, um sie „zielführend einzusetzen“, wie er sich selbst sagte. Und den Tätern ihre Erinnerungen zu nehmen. Vorausgesetzt, sie hatten eine zweite Chance verdient.

Bei Tim Murr war das nicht der Fall. „Mal sehen, wie weit er ist“, dachte Tyler, packte den Artikel sorgfältig in die Schublade zurück und ging langsam in Richtung seines Badezimmers. Als er die Tür aufstieß, sah er, dass Tim Murr bereits dabei war, sein Bewusstsein wiederzuerlangen. „So heftig kann der Überfall also gar nicht gewesen sein“, dachte Tyler. Mehrmals hatte er Tim sein Bewusstsein entrissen, als er gemerkt hatte, dass dieser während der Autofahrt drauf und dran war, aufzuwachen. Mittlerweile hatte Tyler ihn bereits in die Badewanne gelegt. Seine Handgelenke waren mit Metallketten fixiert, die an der Decke des Badezimmers befestigt waren und von oben hinunter hingen. Tim musste seine Arme nach oben halten, da die Ketten bis knapp über seinen Kopf reichten. Das gleiche Schicksal hatte Tims Beine erwischt, auch sie waren von derartig massiven Ketten gefangen, die an der Decke ihren Halt fanden und die Beine leicht vom Badewannenboden abheben ließen.

Tim wurde wacher.

Tyler umwickelte Tims nackten Körper dutzende Male mit wasserfestem Klebeband und klebte es am Boden der Badewanne fest. Nun war er praktisch bewegungsunfähig.

Tim kam zu sich.

„Willkommen, Tim Murr. Hast du gut geschlafen?“
„Was? Wo bin ich? Was machen Sie mit mir?“
„Psssttt Tim. Wir wollen doch nicht, dass wir gehört werden, oder? Ich glaube nicht, dass sich deine Familie über ein Foto von dir freuen würde, welches dich nackt in meiner Badewanne zeigt. Mit einem Messer im Kopf. Das wäre übel, meinst du nicht auch?“

Tim stockte der Atem. „Lass meine Familie in Ruhe, du Schwein!“
„Halts Maul!“, brüllte Tyler und erhob seine Stimme. „Wer ist hier das Schwein?“ Er nahm das Küchenmesser in die Hand, welches er zuvor auf der Ablage seines Waschbeckens platziert hatte und strich Tim damit langsam über seinen Oberkörper. „Glaubst du, dass du eine zweite Chance verdient hast? Glaubst du, dass du überhaupt begriffen hast, was du falsch gemacht hast? Ich glaube das nicht, Tim Murr.“ Tyler ritzte vorsichtig ein Stückchen Haut an Tims Oberschenkel zwischen all dem Klebeband ein, sodass er leicht zu bluten anfing und das Messer an der Oberseite der Klinge in rote Farbe getaucht wurde. Dann nahm er es und hielt es Tim direkt unter die Nase. „Das ist dein dreckiges Blut, Tim Murr!“

Tim schwitzte. Sein Herz klopfte wie verrückt. „Bitte tun Sie das nicht. Ich weiß nicht woher Sie mich kennen wollen. Aber ich hab nix getan!“
„Nix getan?“, schrie Tyler. „Nix getan? Warst du es nicht, der die gesamte Weltpresse vor über zwanzig Jahren in Aufruhe versetzt hat? Warst du es nicht, der seinen Sohn getötet hat, nachdem er ihn jahrelang gefoltert und missbraucht hat? Warst du es nicht, nein?“
„Ich habe dafür bezahlt!“

Tyler fing an, hämisch zu lachen. „Bezahlt hast du dafür? Weil du dreizehn beschissene Jahre im Knast warst? Weil die Justiz glaubt, dich gerecht bestraft zu haben? Nein mein Lieber, bezahlt hast du dafür noch lange nicht. Dein kleiner Sohn hat mit seinem Leben bezahlt. Glaube mir, kein Richter der Welt kann jemals wieder gut machen, was du angerichtet hast. Du hast einem arglosen Wesen seine Seele genommen. Du hast dein eigenes Kind getötet. Das nennst du gerecht? Ich habe so lange auf den Tag gewartet, an dem du wieder auf freiem Fuß bist. Es gab Wochen, an denen konnte ich nicht schlafen, weil mir jeder verdammte Zeitungsartikel dazu nicht aus dem Kopf ging. Tim Murr, du bist ein abartiges Wesen. Du hast das Leben nicht länger verdient. Und selbst das bringt keine Gerechtigkeit. Es entfernt lediglich ein wenig Boshaftigkeit von dieser Welt. Dieser Planet hat solchen Abschaum wie dich nicht nötig.“

Tim erkannte seine ausweglose Situation. Er versuchte, Tyler mit Worten der Sühne zu besänftigen, doch dieser ließ sich von seinem Plan nicht abbringen.
„Ich habe etwas für dich gebastelt, Tim. Eine kleine Maske.“ Tyler setzte Tim eine präparierte Atemmaske auf und ließ das Badewasser ein. „Eukalyptus mit Schaum oder Wasserlilie?“
Tim antwortete nicht. Sein Atem wurde wilder, er zitterte und versuchte sich irgendwie loszureißen. Doch es gelang nicht. Sein Bewegungsradius reichte nicht aus, auch nur ein wenig an seiner Situation zu ändern.
„Tim, sieh es ein. Du wirst bezahlen. Wie viel ist deine Seele wert? Dein erbärmliches Leben? Lächerlich.“
Das Wasser stieg stetig. Als es Tims Kinn erreicht hatte und dieser mit Mühe versuchte, sein Gesicht über Wasser zu halten, gab Tyler ihm einen letzten Rat.

„Tim Murr. Ich habe noch einen gut gemeinten Rat für dich. Die Sauerstoffmaske enthält, wer hätte es gedacht, Sauerstoff für dich. Also sei nicht beunruhigt, wenn sich das Licht erst zehn Zentimeter über dir bricht. So ein Tauchgang kann durchaus entspannend sein. Ich habe dir übrigens Wasserlilie ohne Schaum rein gemacht, ich hoffe es ist angenehm? Jetzt entspann dich. Ich werde ab und zu nach dir sehen. Was hast du damals vor versammelter Presse gesagt? Du bist der Jäger des Satans? Alle haben dich für irre gehalten. Ich nicht. Ich habe es dir geglaubt. Und so wird der Jäger zum Gejagten. Ach ja, du hast Sauerstoff für genau sieben Minuten, davon sind dreieinhalb schon um. Auf Wiedersehen, Tim Murr!“

Tyler legte das Messer auf dem Rand seines Waschbeckens ab und ging schnellen Schrittes aus dem Badezimmer. Er schloss die Tür und hörte die dumpfen, krampfartigen Schreie von Tim, als sein Kopf scheinbar komplett unter Wasser war. Als Tyler noch einmal zurück ging, um das Wasser abzustellen, zuckte Tims Körper unaufhörlich, sodass einiges an Wasser über den Rand der Badewanne schwappte. „So muss sich dein eigener Sohn gefühlt haben, als du ihm die Taschentücher ins Gesicht gedrückt hast. Verrecke!“

Tyler setzte sich beruhigt ob seiner Tat ins Wohnzimmer und legte die Zeitung von heute neben sich, die er vorhin aus seinem Briefkasten geholt hatte. Noch einmal dachte er über Tim nach. „Einfach wird es nicht gerade, den in die Tiefkühlkammer zu hieven“, dachte Tyler und las ganz nebenbei die Überschrift der Titelseite: „Millionärsgatte verwehrte seiner Tochter jahrelang Kontakt zur Außenwelt.“

Tylers Mimik verfinsterte sich schlagartig. Er musste mehr über diesen Millionärstypen herausfinden…

 

Hallo Sekko

Sie ist utopisch, deine Geschichte von dem pathologischen Wissenschaftler, der sich selbst zum Hüter scheinbarer Gerechtigkeit erhebt. Die Utopie beschränkt sich dabei auf die Vision, mit einer Droge eine einzelne Hirnregion derart zu manipulieren, dass schadlos die Erinnerung gelöscht wird. Ein solcher neurologsicher Traum dürfte sich m. E. nie erfüllen, da das Gehirn zwar die Funktionalität und Steuerung, also Schaltzentrale des Menschen darstellt, nicht aber die Bewusstseinsinhalte derart filtern könnte. Es widerspricht auch der Realität, da andere Hirnteile sich durchaus als Ersatzfunktionen anbieten könnten, wie man in der Vergangenheit feststellte.
Desungeachtet scheint mir die Geschichte handwerklich aber gut aufgearbeitet. Mich persönlich hätte es zwar besser unterhalten, wenn sie sich auf ein Opfer beschränkt und sich die Metabolie transparenter in ihrer Wirkung gezeigt hätte. Dies wäre natürlich nur an der Frau nachweisbar gewesen, da beim zweiten Opfer dies mit dessen Tod ja hinfällig wurde. Der ist insofern auch ein Schwachpunkt in der Logik des Täters, da er seine Entdeckung an diesem gar nicht exemplarisch ausführen und sich darin bestätigen konnte. Es blieb ihm so nur billige Rache.

Hier noch einige Punkte, über die ich stolperte:

Das hatte sie schon diverse Male im Fernsehen gesehen.

Ha, hier bist du in deine eigene Falle gelaufen. Dass sie es im Fernsehen gesehen hatte, konnte sie bei einer totalen Amnesie ja nicht wissen. Allenfalls wusste sie es, aber nicht woher!

Sie fühlte immer noch diese drückende Leere in ihrem Kopf.

Auch hier bricht diabolisch der Skeptiker in mir durch. Ein fehlendes Erinnerungsvermögen scheint mir nicht identisch mit einer Leere im Kopf. Da wir jederzeit Eindrücke wahrnehmen, ist da immer eine Fülle. Ich sehe da eher ein Vakuum in der Erinnerung.

Und wenn doch, verhallte dieser alsbald in dem Klebeband, das fest auf ihrem Mund saß.

Verhallen assoziiert mir Weite, die hier ja nicht gegeben ist. Besser schien mir da, dass das Klebeband einen lauteren Ton unterband.

Ihre Angst war noch da, doch sie wurde bedeckt von einem riesigen Haufen voller Schuldgefühle und Scham.

Bedeckt kann man sich geben, aber in einem solchen Fall formuliert man es eher als überlagert.

Vermassel es nicht.

Vermassele

Er nahm sich einige der Exemplare mit nach Hause, um sie „zielführend einzusetzen“, wie er sich selbst sagte. Und den Tätern ihre Erinnerungen zu nehmen.

Im vorgehenden Satz ist von Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen die Rede, hier aber von Gewalttätern. Um der Logik folglich gerecht zu werden, müssten die heimgeschafften Exemplare in diesem Satz bereits spezifiziert sein.

„Psssttt Tim.

An sich pst!, mit Dehnlaut auch pssst!, da genügt m. E. aber ein einzelnes t, da der Zischlaut danach abrupt endet.

Die Spannung, welche ich bei einem Krimi pur erwarte, hatte sich mir zwar nicht vollumfänglich eingestellt, doch habe ich es gern gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Sekko!

Die Pille des Vergessens gegen posttraumatische Belastungsstörungen. Und die wird auch sogleich, wie fast jede Erfindung, missbraucht. Ein interessantes Motiv.
Der Text ist spannend geschrieben. Es gibt genug Fragen, die ich mir stellen kann und die Absichten des Täters variieren.

Was mir fehlt, ist Tylers Motivation zu dem Mord an Tim Murr. Es gibt im Text einige Allgemeinplätze hinsichtlich der Verabscheuungswürdigkeit seines Opfers. So denken oder urteilen viele Menschen. Auch besitzen viele Menschen die nötigen Werkzeuge (Baseballschläger, Messer, Pistolen), um solche Tyrannen „angemessen“ zu bestrafen. Doch sie tun es nicht. Was also ist an Tyler so besonders, dass er nicht nur von solchen Taten träumt, sondern auch dazu fähig ist.

Insgesamt empfinde ich den Text nicht als runde Geschichte. Es wird ein Handlungsmuster geschildert, in zwei leicht variierenden Episoden. Wie bei jedem episodischen Aufbau ist der Schluss das Problem. Der vorliegende Text könnte noch beliebig um weitere Episoden ergänzt werden.
Es gibt keinen auch nur annähernd wahrscheinlichen Abschluss.
Der Grund dafür ist nicht nur der episodische Aufbau, sondern auch die Figur Tyler. Sie bietet für mich als Leser keine Hinweise auf ein wahrscheinliches Ende oder einer erkennbaren Entwicklung.

Tja, trotz der Spannung im Text, bleibt letztendlich das Lesevergnügen aus. Schade.

Gruß

Asterix

 

Hallo Sekko,

eine gut und spannend geschriebene Geschichte, ich habe sie gerne gelesen. Auch die Intro war vielversprechend, lief allerdings dann doch irgendwie 'ins Leere', weil die allgemein gestreute Furcht ('Du kannst nichts verbergen ...') dann doch auf einen sehr spezifischen Fall bezogen war.
Aber obwohl ich den Stil klasse finde, ein paar kleine Anmerkungen:
"Ausgesetzt wie ein Stück Vieh in einer Großstadt." ist meiner Meinung nach kein passendes Bild, wann wird je Vieh in der Stadt ausgesetzt?

Und die Sache mit der Münze verstehe ich nicht. Er will doch Vollstrecker von 'Gerechtigkeit' sein, wozu bezieht er den Zufall ein?
Ich hätte auch einen einzigen Erzählstrang besser gefunden (vielleicht die anderen Fälle nur in Andeutungen erwähnen?).

Aber insgesamt: echt gut!

Beste Grüße,

Eva

 

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