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Weihnachtsgold

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14.10.2001
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Weihnachtsgold

Weihnachtsgold

Als der Tannenbaum umfiel, dachte sie: „Nun ist Weihnachten endgültig vorbei.“
In ihren Schreck hinein schrillte das Telefon. Sie fühlte sich wie betäubt, als sie sich meldete.
„Hallo, Susi, wie geht es dir?“, tönte die überlaute Stimme ihrer Schwester aus dem Hörer.
„Der Weihnachtsbaum ist gerade umgefallen.“
„Umgefallen? Wie ist denn das passiert?“
„Ich weiß nicht. Er kippte einfach um.“
„Und hattest du ihn schon fertig geschmückt?“
„Fast fertig. Jetzt liegt alles auf dem Boden.“
Aus dem Hörer klang ein merkwürdiges Geräusch. Es hätte ein unterdrücktes Schluchzen sein können.
„Viele Kugeln sind kaputt gegangen. Und die Lichterkette brennt nicht mehr.“
Da war er wieder, dieser merkwürdige, gepresste Laut.
„Der Weihnachtsengel, den wir immer auf die Baumspitze stecken, hat seinen Kopf verloren. Der saß ja schon lange locker.“
Einen Augenblick war es ganz still. Dann stieß ihre Schwester ein paar stöhnende Laute aus.
Susanne seufzte. „Das Chaos hier ist unbeschreiblich.“
Jetzt brach es mit aller Gewalt aus ihrer Schwester hervor. Sie lachte hemmungslos.
„Ich finde das nicht lustig!“, sagte Susanne.
Ihre Schwester rang nach Luft. „Tut mir Leid, Susi!“, keuchte sie. „Aber ich kann einfach nicht aufhören zu lachen. Tut mir wirklich Leid!“
Susanne wartete.
Ihre Schwester atmete heftig. Langsam schien sie ihre Fassung wiederzugewinnen. Aber ihre Stimme fing wieder bedenklich an zu schwanken, als sie fragte: „Und was willst du jetzt tun?“
Susanne fühlte erneut die Bitterkeit in sich aufsteigen. „Ich weiß es noch nicht“, antwortete sie. „Zunächst einmal aufräumen. Und dann – vielleicht bringe ich den Baum gleich in die Abstellkammer. Schmücken kann ich ihn eh nicht mehr mit den wenigen Sachen, die heil geblieben sind.“
„Ein kahler Weihnachtsbaum in der Abstellkammer – nein, das ist wirklich zu komisch! Du musst zugeben, dass das komisch ist!“ Lachen ergoss sich wieder in Susannes Ohr.
„Ich finde das traurig.“
„Bitte, bitte entschuldige! Ich weiß ja, wie viel dir Weihnachten und der Weihnachtsbaum immer bedeutet haben. Und jetzt lache ich auch ganz bestimmt nicht mehr! Versprochen! Es ist nur diese Vorstellung – der Baum, der sich langsam vor dir verneigt und...“ Hilflos brach sie ab.
„Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich gar nicht erst eine Tanne besorgt hätte. Jetzt, wo alles so anders ist.“, sagte Susanne
„Man kann auch ohne Baum Weihnachten feiern. Wie du weißt, ist unsere Wohnung immer garantiert weihnachtsbaumfrei. Also, mach’s gut. Wir sehen uns morgen!“
„Bis morgen!“, sagte Susanne und hängte ein.
Zunächst richtete sie den Baum vorsichtig wieder auf. Es gab ein hässliches knackendes Geräusch, als sie versehentlich auf eine kleine silberne Trompete trat. Der Tannenbaum stand jetzt ganz fest und sicher in seinem Ständer und schwankte noch nicht einmal, als sie die erloschene Lichterkette abnahm. Wie er überhaupt umfallen konnte, war ihr ein Rätsel.
Wie dem auch sei – sie konnte es nicht ändern. Nun musste Weihnachten eben ganz ausfallen. Zwischen Kartons und Mülleimer hockte Susanne auf dem Boden und begann mit dem Aufräumen. Sie zuckte zurück. Die Splitter der zerbrochenen Kugeln waren viel schärfer als sie gedacht hätte. Der Schnitt in ihrem Ringfinger war tief und blutete heftig. Es tat weh. Hastig steckte sie den Finger in den Mund, damit kein Blut auf den Boden tropfen konnte.
Auch ihre Lieblingskugel, die große gläserne mit dem eingeschlossenen goldenen Engel, war zerplatzt. Sie hatten sie vor langer Zeit gemeinsam gekauft. Jedes Jahr hatte diese Kugel mitten in ihrem Weihnachtsbaum gehangen. Und nun war nur noch der kleine goldene Engel übrig geblieben. Vorsichtig stellte sie ihn auf den Wohnzimmertisch.
Dann legte sie die bemalten Holzfiguren wieder in ihre Schachteln. Einen Augenblick hielt sie das kleine Schaukelpferd in der Hand, auf dem ein lachender Weihnachtsmann ritt. Dies war früher immer Annas Lieblingsstück gewesen. Ob sie das Schaukelpferd immer noch so schön fand? Sie konnte sie nicht fragen, denn Anna lebte inzwischen in Neuseeland. Seufzend legte sie die Holzfigur weg. So ist das eben, wenn man Kinder hat. Sie werden einem nur geliehen. Hauptsache, Anna fühlte sich in Neuseeland wohl. Wahrscheinlich würden sie heute oder morgen miteinander telefonieren. Susanne überlegte kurz, ob sie Anna sofort anrufen sollte. Lieber nicht. Vielleicht später. Im Augenblick fühlte sie sich dem nicht gewachsen.
„Das war’s!“, dachte sie, als sie die letzte Schachtel zu den anderen auf den Wohnzimmertisch stellte. „Das hätten wir uns letztes Jahr nicht träumen lassen, dass wir diese Kartons nie wieder gemeinsam ein- und auspacken würden.
Sie setzte sich und betrachtete den kleinen goldenen Engel, der da so verloren und schutzlos auf ihrem Wohnzimmertisch stand. Dabei versuchte sie, sich an das Weihnachtsfest im vorigen Jahr zu erinnern. Anna lebte zu diesem Zeitpunkt noch bei ihnen zu Hause. Eigentlich war alles so gewesen wie immer. So sehr sie sich auch bemühte, ihr fiel nichts Außergewöhnliches ein. Und doch war es ein besonderes Fest gewesen. Sein letztes Weihnachtsfest. Nur hatten sie das damals nicht geahnt. Genau einen Monat später war er dann ganz plötzlich gestorben.
Ihr Blick wanderte wieder zu dem kahlen Tannenbaum. Die Winterdämmerung ließ seine Nadeln grau und staubig erscheinen. Sie sollte vielleicht eine Lampe einschalten. „Es ist Kerzenlichtwetter“, hätte Ulrich jetzt gesagt. Aber Wetter allein genügte nicht. Man musste auch Kerzenlichtstimmung haben.
Es kostete sie einige Mühe, tatsächlich aufzustehen und Licht zu machen. In einer Zimmerecke fing etwas einen Lichtstrahl auf und warf ihn zu ihr zurück. Sie sah genauer hin. Es war die große nachtblaue Christbaumkugel, die Ulrich mit in die Ehe gebracht und die schon in seinem Tannenbaum gehangen hatte, als er noch ein Kind war. Sie war so schwer, dass Ulrich sie immer nur an einem der unteren Zweige befestigt hatte.
Vorsichtig hob sie die Kugel auf. Mit einem Finger strich sie über ihre kühle glatte Oberfläche. Was für ein Glück, dass diese alte Kugel nicht beschädigt worden war! Spontan hängte Susanne sie an den untersten Zweig ihres Christbaums.
Die übrigen Sachen brachte sie zurück in den Keller. Als sie die Truhe öffnete, in der sie den Weihnachtsschmuck aufbewahrte, fiel ihr eine alte Plastiktüte auf. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, was sie enthielt. Die Tüte musste schon einige Jahre in der Truhe liegen, denn sie war schmutzig und hatte Risse. Als Susanne hineinsah, fand sie große Mengen an Goldlametta. Die meisten Packungen waren noch ungeöffnet. Jetzt fiel es ihr wieder ein. Ulrich und sie hatten vor einigen Jahren beschlossen, kein Lametta mehr aufzuhängen. Vor allem Ulrich hatte der Weihnachtsbaum ohne Lametta viel besser gefallen.
Susanne verstaute die Schachteln in der Truhe. Aber das Lametta nahm sie mit zurück ins Wohnzimmer. Zögernd hängte sie ein paar der dünnen Goldfäden in die Spitze der Tanne und trat prüfend einen Schritt zurück. Was sie da sah, gefiel ihr. Das leuchtende Gold passte gut zu dem kräftigen Grün der Tannennadeln. Sie öffnete eine weitere Packung und legte die glänzenden Lamettafäden einzeln über die Zweige. Nach und nach verteilte sie das ganze Lametta gleichmäßig in dem Baum. Es war mühsam und dauerte lange, es machte sie wehmütig, aber auf merkwürdige Weise auch froh.
Schließlich war die Tanne ganz eingehüllt in ein zartes Gespinst aus schimmerndem Gold. Stolz stand sie aufrecht. Graziös streckte sie ihre Zweige aus. Fast hätte man glauben können, sie wolle beginnen zu tanzen.
Susanne betrachtete ihr Werk. Etwas fehlte noch. Jetzt wusste sie, was es war. Schnell lief sie noch einmal in den Keller und holte das hölzerne Schaukelpferd mit dem lachenden Weihnachtsmann. Sie hängte es gleich neben die alte blaue Kugel.
Draußen hatte sich eine funkelnde Sternennacht über die Dämmerung gebreitet. Susanne zündete ein paar Kerzen an und stellte sie um den kleinen goldenen Engel herum. Dann löschte sie das Licht und betrachtete ihren Christbaum.
Das Telefon klingelte.
„Hallo, Mama, ich wollte dir frohe Weihnachten wünschen“, hörte sie Annas Stimme aus der Ferne. „Oder feierst du dieses Jahr nicht?“
„Frohe Weihnachten“, antwortete Susanne. „Natürlich feiere ich. Man kann Weihnachten nicht einfach ausfallen lassen! Nur ist es jetzt eben ganz anders als früher.“

 

Hi Jakobe!

Also, am Anfang dachte ich, deine Geschichte erzählt von Missgeschicken zur Weihnachtszeit. Ab ungefähr dieser Stelle

„Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich gar nicht erst eine Tanne besorgt hätte. Jetzt, wo alles so anders ist.“, sagte Susanne
(by the way: da fehlt ein Punkt) wusste man, dass mit der Familie von Susanne was passiert ist, sei es Scheidung, Verkehrsunfall/Tod, oder sonst was. Dadurch bekommt dein Werk eine drastische Wende, von Humor ins Traurige. Mir sagt die Idee (bezüglich des Wechsels) auch zu. Die Umsetzung finde ich soweit auch in Ordnung, finde gerade keinen Punkt, den ich bemängeln könnte - vielleicht nur, dass das Ende sich ein klein wenig (eigentlich minimal) in die Länge gezogen hat, als man definitiv weiß, was vorgefallen ist.

Soweit ich das im Kopf habe, sind in deinem Text noch ein paar kleiner Fehler drin, könnte ich, wenn du willst, den Text nochmal durchgehen und dir die Fehler nennen. Ansonsten ist dein Stil flüssig.

Sicher keine Super-Story, aber dennoch weit entfernt vom Schlecht-Sein. :)

Greetinx
Alisha

 

Liebe Alisha!
Danke, dass du dir die Mühe gemacht hast, die Geschichte zu kommentieren! Nach dem, was du schreibst, ist mir der Anfang wohl nicht gut gelungen, denn ich wollte eigentlich keine humorvolle Einleitung schreiben. Vielmehr wollte ich zeigen, wie wenig Verständnis die Schwester für Susanne hat. Außerdem erschien mir ihr Verhalten typisch, denn oft denken die Leute nach einiger Zeit, der Trauernde müsste langsam aufgehört haben zu trauern und man könnte wieder mit ihm umgehen wie vorher.
Viele Grüße!
Jakobe

 

Hallo Jakobe!
Also, man merkt schon, dass die Schwester nicht so wirklich Verständnis für die Susanne hat, aber irgendwie kommt das leicht lustig rüber, find ich. Kommt wahrscheinlich auf die Art des Humores vom Leser ab ;) Ich musste schon ein paar Mal dabei schmunzeln.

Außerdem erschien mir ihr Verhalten typisch, denn oft denken die Leute nach einiger Zeit, der Trauernde müsste langsam aufgehört haben zu trauern und man könnte wieder mit ihm umgehen wie vorher.
Hm... irgendwann sollte die eigentliche Trauer vorbei sein, aber ich denke mal, gerade bei Festen wie Weihnachten denkt man wieder arg an den Verstorbenen und damit trauert man halt wieder. Aber mit dem Satz hast du sicherlich recht. Obwohl sich dann die Frage stellen könnte, ob man nicht nach einiger Zeit mit dem Trauernden wieder normal umgehen sollte, damit er nicht in seiner Trauer versinkt...

Liebe Grüße
Alisha

 

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