Weihnachtstraum
Der Schallplattenspieler spielt feierlich die Nußknackersuit. Es riecht nach Weihrauch, Gebäck und Tannennadeln. Im Halbdunkel der Kerzen hat sich meine gesamte Familie versammelt, um den heutigen Heiligabend auf gewohnt fröhliche Weise zu begehen. Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins, meine zwei älteren Brüder und die jüngere Schwester, drei Neffen, meine Großeltern und natürlich Mutter und Vater, sie alle wollen hier gemeinsam das Fest der Liebe und der Freude feiern, und während die Erwachsenen sich auf den weichen Polstermöbeln niedergelassen haben, gemütlich an ihren Kaffees schlürfen und sich über die kranke Prostata von Onkel Ernst unterhalten, sitzen die Jüngeren unter dem Weihnachtsbaum, reißen mit leuchtenden Augen die Verpackung der Geschenke auf und jauchzen dabei vor Freude. O, wie herzerwärmend ist dieser Anblick!
„Gefällt dir mein Geschenk?“, fragt mich Tante Berta mit süßlicher Stimme und schaut mich freundlich lächelnd an.
Einen Moment betrachte ich den roten Wollschal in meiner rechten Hand.
„Wirklich schön“, stelle ich trocken fest.
„Ach, wirklich?!? Wie schön, daß er dir gefällt!“ – Meine Tante ist sichtlich erfreut. – „Dein Onkel, der Griesgram, meinte, daß du nicht schon wieder einen brauchst, aber ich finde, daß Zinnoberrot paßt viel besser zu deinem Teint als der weinrote Schal vom letzten Jahr. Außerdem draußen ist es ja so kalt...“
„Ja, da hast du recht. Die letzte Nacht erst ist vor der Bahnhofshalle wieder ein Obdachloser erfroren“, erzähle ich, „Und dein Schal ist auch viel weicher als der, den mir Mutter gestrickt hat.“ Ich zeige ihr den orangenen Schal in meiner linken Hand.
„Schwester, wo bekommst du nur immer diese Wolle her?“, will meine Mutter wissen, die gerade durch die Tür aus der Küche hereinkommt. Vor sich trägt sie ein Kuchenblech, auf dem rund zwei Dutzend selbstgebackene, noch warme Schokolebkuchen liegen.
„Ach, wir haben da so einen kleinen Krämerladen im Dorf...“, beginnt meine Tante stolz meiner Mutter zu erzählen. Und so habe ich ihre Aufmerksamkeit verloren.
Meine Aufmerksamkeit hingegen ist sofort gefesselt von den geliebten Backwaren, die meine Mutter nun auf den niedrigen Couchtisch vor dem mit Verwandten übervölkerten Sofa abstellt. Der süße Geruch umspielt verlockend meine Sinne. Das Kerzenlicht zaubert romantische Reflexionen auf den noch nicht ganz erstarrten Zuckerguß. O, wie feierlich liegen die Schokolebkuchen auf dem Blech, wie feierlich wird mir ums Herz bei ihren Anblick. Jawohl, es ist Weihnachten!
Traumwandlerisch schreite ich auf den Tisch zu, mein Blick ganz auf mein warmes, wohlschmeckendes, so herrlich duftendes Ziel fixiert. Mit Schrecken gewahre ich schon die ersten dreckigen Verwandtenhände, die nach jenen Verlockungen greifen wollen. Doch noch ehe sie ihren Raub erlangen können, erklingt ein lautes, dumpfes Klopfen von der Haustür schallend. Sofort springt meine gesamte Verwandtschaft geschlossen auf und enteilt in den Flur, die Kinder freudig schreiend voran. Beruhigt setze ich mich auf das Sofa neben dem Tisch, jetzt das Backblech ganz für mich allein habend. Auf ihm liegen die Schokolebkuchen nun in ihrer vollen Herrlichkeit. Und niemand ist hier, der diesen Anblick stören könnte mit gefräßiger Völlerei... außer mir.
Während ich im Flurspiegel eine rotbemantelte, weißbärtige Person durch die Haustür treten sehe, begleitet vom freudigen Jauchzen der Kinder, fasse ich nach dem ersten Lebkuchen und wiege ihn bedeutend in meiner rechten Hand. Der warme Schokoguß bleibt an meinen Fingern kleben. Langsam führe ich ihn mir zum weit geöffneten Mund.
Ganz konzentriert auf diesen Festakt, höre ich nur beiläufig den plötzlichen Ausbruch von Schreckensschreien im Flur. Aus dem Augenwinkel sehe ich im Spiegel die rotbemantelte Gestalt eine lange, metallisch blinkende Axt schwingend, die zielstrebig ihren Weg durch die nun vergeblich auseinanderstobende Verwandtenhorde nimmt. Dann schließe ich die Augenlider, ganz eingenommen vom süßen, teigigen Geschmack, der meine Zunge liebkost. Ich vergesse den Tumult und das Geschrei, das um mich ausgebrochen ist, spüre nur genießerisch meine Speise auf dem Gaumen zergehen, meinen Adamsapfel beim Schlucken spielerisch auf und ab springen.
Als ich die Augen wieder öffne, ist keine lebende Person mehr im Raum, außer mir und einem rotbemantelten, weißbärtigen Mann, der nun vor dem Couchtisch steht und mich mit leuchtenden, grünen Augen mustert. Seine Lippen werden von einem leichten, süffisanten Lächeln umspielt. Kurz sehe ich ihn an, dann wende ich mich wieder den Schokolebkuchen zu, um nach einem zweiten zu greifen. Doch noch bevor mein Griff sich um die ersehnte Backware schließen kann, sehe ich das metallisch blinkende, teilweise rot gefärbte Blatt einer Axt durch mein Gesichtsfeld sausen und meine vier Finger, sowie die Spitze meines Daumens von meiner Hand trennen. Erstaunt betrachte ich das Blut, das aus den Stümpfen spritzt. Kurz darauf durchzuckt ein furchtbarer, unmenschlicher Schmerz meinen Arm, und erschrocken springe ich auf, taumele wimmernd Richtung Weihnachtsbaum, den ich schließlich fallend umreiße. Wie gelähmt bleibe ich neben der verwüsteten Tanne liegen, mit der unverwundeten Hand das blutende Fleisch der verwundeten umpressend und sehe voller Verzweiflung den Rotbemantelten sich gemütlich auf dem Sofa niederlassend und einen Lebkuchen ergreifend. Durch einen traumumwobenen Blick beobachte ich, wie er ihn in seinen grauenvollen Mund schiebt. Kaum untergeschluckt, nimmt er schon den nächsten, nimmt und nimmt und leert so nach und nach das Backblech, während ich nur hilflos auf dem Boden liegen kann, ihn ganz bleich vor Schrecken beobachtend, mit Tränen in den Augen.
Habe ich geschrieen? Ich sitze aufrecht. Mein Oberkörper und meine Stirn sind naß von kalten Schweiß. Ich lausche mit gespannten Sinnen in die Nacht, höre das leise, stetige Ticken eines Weckers neben mir, fernen Straßenlärm einer erwachenden Stadt durch das angewinkelte Fenster dröhnend, und so sich meine Augen langsam an das dämmrige Mondlicht gewöhnen, das in den Raum fällt, so erkenne ich langsam die Umrisse der Einrichtung. Ich bin in meinem Zimmer, sitze in meinem Bett. Erleichtert durchflutet mich die Erkenntnis: Ich habe nur geträumt. Das war alles nur ein böser Traum.
Ich schaue auf den Wecker, der auf dem Nachttisch steht – 5:30 Uhr. Ich erinnere mich, daß es der erste Weihnachtstag ist, doch fällt es mir schwer, die Erinnerung an den letzten Abend zu finden, wie ich in mein Bett gekommen bin. Der nächtliche Alptraum sitzt mir noch in den Knochen. Doch wahrscheinlich war es gestern genauso traumatisch wie an jeden Heiligabend, wahrscheinlich war ich wieder betrunken gewesen, wie gewöhnlich. Da fällt einem das Erinnern manchmal nicht so leicht. Auch dröhnt der gewöhnliche, leichte, dumpfe Kopfschmerz in meinem Schädel. Mein Magen füllt sich auch gewöhnlich flau an, nur diesmal um einen ungewöhnlichen, starken Hunger ergänzt, der nicht so richtig in das Schema passen will. So fallen mir die Schokolebkuchen wieder ein, die es bestimmt wie gewöhnlich wieder gegeben haben muß. Ich muß gestehen, eine regelrechte Obsession für die Lebkuchen meiner Mutter zu haben. Ich könnte glatt für sie töte. Diese Obsession leitet mich nun schleichenderweise aus meinen Zimmer Richtung Küche.
Im Wohnzimmer finde ich einen etwas liederlich gekleideten Mann schlafend auf dem Sofa. Er muß beim Fernsehen eingeschlafen sein. Der Apparat läuft jedenfalls immer noch. Der Mann erinnert mich etwas an den Bettler, der des öfteren in unserer Straße bettelt, dem ich für gewöhnlich immer etwas zu geben pflege. Gegen die leichte Kühle im Raum hat er sich mit Onkel Ernsts Strickjacke zugedeckt, der so sehr an seiner kranken Prostata leidet. Ach, armer Onkel Ernst!
Ich schenke dem Mann auf dem Sofa nur wenig Beachtung und setze meinen Weg zur Küche fort, während mir aus dem Fernseher ein Kinderchor ‚O, du Fröhliche’ nachtönt.
In der Küche angelangt und den Lichterschalter betätigt, lasse ich suchend meinen noch etwas schläfrigen Blick über die Einrichtung schweifen. Aus dem halbgeöffneten Kühlschrank starren mir die in Entzückung erstarrten Augen meines jüngeren Cousins und die erschrocken Augen meines Onkel Ernsts entgegen. Ach, armer Onkel Ernst! Ich erzittere vor Erregung, wie ich die Schokolebkuchen auf der Küchenablage entdecke, und stürze entzückt auf sie zu, stopfe mir den Ersten wie besessen in den Mund. Wie ich genüßlich schmatzend mich umschaue, erblicke ich den liederlich gekleideten Mann in der Tür stehend, wie er mich süffisant lächelnd beobachtet und den blutigen Verband um meine rechte Hand betrachtet. Ich schließe die Augen, gehe ganz im Geschmack des Schokolebkuchens auf und denke mir erfreut: ‚Wie schön, daß ich alles nur geträumt habe, daß alles nur ein böser Traum war.’
[ 10.06.2002, 00:05: Beitrag editiert von: Endymion ]