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Wenn der Hahn kräht (2. Weltkrieg)

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24.01.2007
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Wenn der Hahn kräht (2. Weltkrieg)

Bei Nacht kann man sie flüstern hören. Bei Nacht liegen sie hell wach. Bei Nacht weicht der Alptraum einem Tagtraum. Bei Nacht ist das Dröhnen der Kanonen unwirkliche Wirklichkeit. Bei Nacht wird die Hoffnung unerträglich. Bei Nacht……


Zwei Jahre schon. Nur ein paar Tage sollten es sein, doch noch immer sind wir hier.
Die Rücken krumm, die Beine müde und matt, die Arme erschlafft und in den Händen keine Kraft. Stolz, wenn auch ungewiss kamen wir, frierend und Hunger leidend blieben wir und manche gingen angsterstarrt und leichenblass, um den Herrn zu fragen: “Was haben wir falsch gemacht?“. Eine fremde Welt in diesem, meinem Land. Eine Schreckensplage auf den Feldern der Urgroßmütter unserer Eltern. Ein Niemandsland, schwarzer Rauch und der Schrei der Gleichgültigkeit.
Der Tag längst verblasst, bleibt nur noch diese eine Nacht, um die Hoffnung in mein Herz zu laden und der Verzweiflung somit ins Gesicht zu schlagen. Die eine Geste entbrannte nur dem Feuer in mir, doch das eine Wort war zuviel. Zuviel gesagt, nicht nachgedacht, nur dem Wunsch zu rennen nachgegeben. Dieses Verlangen hat mich umgebracht. Mutter es ist vollbracht!

Es ist kalt, doch der alte Holzkohleofen hält zu mindestens die Gemüter warm. Es ist meine erste Nacht in dieser gottverlassenen Festung. Sie sagten mir, dass Raum und Zeit nicht existiere. Nur das Ergebnis zähle.
Es ist jetzt fast zwölf Wochen her, als ich mich bewarb. Sie lobten mich, ich würde allen Anforderungen genügen. Ich zählte zu den besten meines Semesters. Meine Dissertation führte zwar zu einigen kontroversen Diskussionen, ermöglichte mir aber, die Kontakte zu knüpfen, die ich für meinen weiteren Werdegang benötigte. Ich habe sie alle kennen gelernt. Wentzler, Nietsche, Ritter, Clauberg, Mengele, Fischer, der mir wie ein Vater zur Seite stand, und viele mehr. Sie sind die Zeugen meiner Zeit. Die Urväter der neuen Wissenschaft. Die Gründer der Wahrhaftigkeit. Gewissenhaft werde ich ihnen folgen, denn das Ziel ist längst nicht erreicht. Morgen früh, wenn der Tag erwacht, werde ich beginnen.

Sie ist alt, liegt auf dem Boden der Baracke, ist blass, atmet flach und scheuert sich an ihren Träumen wund. Wie lange hält sie diese Schlacht noch aus. Ich würde ihr gerne sagen, dass es bald vorbei ist, aber wie kann ich. Meine Jacke wird sie wärmen. Brauchen werde ich sie morgen nicht. Auch die Schuhe, sind sie doch zu groß, stell ich ab. Die Hose……nicht. Nur die und das zerschlissene Hemd trag ich bis zu letzt.
Der Ring, sie fanden ihn nicht, schenk ich ihr. Oh Jochebed, wie haben wir gelächelt, als er die Ketubba las, wir den Wein tranken und das Glas zerbrach. Wie haben wir gelacht, als die Tänze und das Fest begannen.
Jochebed, Jochebed,……
Der Morgen graut. Wäre ich daheim, wäre es der Hahn, der den Tag einleiten würde. Fluchen würde ich über ihn und aus dem Bette kriechen. Waschen, putzen und die Kleider, frisch und nach Heimat riechen sie, überziehen. Das Essen richten, Rinah, vor Freude könnt ich singen, wäre sie hier bei mir, wecken und dann hinaus. Ob Frühling, Sommer, Herbst oder Winter. Tag ein, Tag aus, der Selbe schöne Lebenslauf.
Ihn in die Arme schließen, wenn er am Abend heimkehrte. Ihn lieben, ihn……

Ich habe mich getäuscht. Der Winter ist nicht kalt. Es ist bitterkalt, doch die Stiefel, der Mantel, die Handschuhe schützen mich vor dem eisigen Hauch dieser Jahreszeit. Nur das Gesicht, ungeschützt, ist starr. Sie aber frieren nicht. Sie empfinden nicht. Sie wissen nicht. Nicht so wie wir. Diese Individualisten, Egoisten, Kulturverblender, Hintermänner der Sowjetkommunisten und der Finanzkapitalisten der fernen Welt wollen wir nicht.
Sie verderben unser Gleichgewicht. Schwerverbrecher, Geisteskranke, behindertes Erbgut, vermischtes Blut. Es ist zu viel! Es ist genug!
Wie können sie frieren, fühlen, wissen, wenn sie so unmenschlich sind?
Die Theorie kenne ich. Jetzt will ich es sehen. Ich will dem Tier von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen und in seine wilden Augen blicken. Rasse hin oder her, verstehen will ich es!

Die Flocken fallen nur zart. Zu sehr frostet es. Wie jeden Morgen das gleiche Spiel. Die Sirenen summen, kreischen zum Appell. Hunderte stürmen, schon jetzt keine Kraft mehr, auf den Platz. Die Alte erschlafft. Die Hunde bellen, fletschen ihre Zähne und der schäumende Geifer tropft zäh aus ihren verzerrten Mäulern. Wir stehen, wir warten.
Ich friere nicht, fühle nichts, doch ich weiß genau was nun passieren wird. Es waren schon zu viele. Es war wie ein Fausthieb ins Gesicht, als ich es erfuhr. Ich bete jede Nacht.
Ein Neuer?!
Seine Augen sind fremd. Alle Augen hier sind fremd, aber seine kenne ich nicht. Jung, groß und kräftig. Keine Waffen. Die Abzeichen auf seiner Brust, akkurat in Reih und Glied geknüpft, die Tasche trägt er in der Linken, die Rechte in den Himmel gereckt,
funkeln…..ein Arzt?

Dort stehen sie. Aufgereiht und atmen schwach. Viele kraftlos, manche gebrechlich, eine liegt flach. So also sehen sie aus. Die, die die Welt gefährden, die Wirtschaft schwächen und die Menschheit mit ihrer Ideologie vergiften? Was können die uns anhaben? Warum nicht einfach laufen lassen? Der Winter wird sie ja sowieso nicht ziehen lassen.
Dr. Heinrich F., stell ihn nicht in Frage. Stell den Vater, Führer in diesem Land, nicht in Frage. Soweit bist du gekommen, so schnell kann es vorbei sein. Es ist nicht dein Blut, das fließen soll. Sie sieht mich an. Sie, die da aufrecht steht, nicht friert, nicht zittert schaut mich an. Was mach ich? Sie ist es, „2024“, und acht weitere sollen es heute sein.

Wir erreichen die Baracke in Block „X“.
Wir sind nur noch zu sechst. Jetzt nur nichts sagen. Nicht fragen. Nur folgen und dann ist es bald vorbei. Die anderen wissen es nicht, aber ahnen werden sie es. Sie sagten wir wären bald frei. Ein letztes Bad und dann brächte man uns fort, an einen anderen Ort. Da würde man sich um uns kümmern, unsere Wunden versorgen und vielleicht unsere Familie wieder finden. Ich lächelte, und wenn mich keiner sah, weinte ich. Glauben sie wirklich, wir wissen es nicht?

Sie geht immer noch aufrecht. Kein Ton verlässt ihre Lippen.
Sie geht zu letzt. Die Türe, eine Glasscheibe in der Mitte eingefasst, über dem Türrahmen die Aufschrift „Brausebad“, schließt sich. Sie dreht sich um? Sie blickt mir ins Gesicht. Sie ist nackt, steht aufrecht, der Rest tobt. Die Brausen geben kein Wasser.

Schau mich an. Glaubst du wirklich du bist mit deinem Hass allein?
Soll ich dir meinen ungeschminkt entgegen schreien? Nein!
Schau mich an! Ich bin die Ruhe selbst.

Die Türe öffnet sich. Sie atmet flach.
Experiment missglückt..

 

Hallo Feodor

Kleinigkeit am Anfang:

Stolz, wenn auch ungewiss kamen wir,

Hm, ich weis nicht recht, etwas mag ungewiss sein, aber ungewiss kommen? Grammatikalisch nicht ganz korrekt würde ich meinen.
Ich glaub es gab noch zwei drei Stellen, wo sich mir der Sinn der Formulierung nicht so ganz erschlossen hat, aber war nichts dramatisches.

Also an sich hat mir die Geschichte sehr gut gefallen, so weit man das bei dem Thema sagen kann, beeindruckt währe wohl das treffendere Wort.
Die Idee der Gegenüberstellung finde ich ausnehmend gut und die meiste Zeit ist dir, denke ich, auch die Umsetzung gelungen. Mir gefällt, das du kein schwarz-weiß-Bild zeichnest, sondern differenziert schilderst und viele Aspekte einbringst.
Über weite Strecken überzeugt mich auch dein Stil, er ist emotional, aber nicht überladen, was ich extrem wichtig bei diesem Thema finde, dafür ein großes Lob. Auch hast du ein paar sehr, sagen wir mal, schaurig schöne Formulierungen verwendet, die treffend und plastisch sind.
Einziger Wermutstropfen ist höchstens, das ich den Eindruck habe, das du punktuell zu stark stilisierst, so z.B. an manchen gereimten Stellen. Das mag Geschmackssache sein, aber ich finde hier wäre ein bisschen weniger mehr und würde atmosphärisch dem Gesamteindruck gerechter werden.

Alles in allem: Starke Leistung! :thumbsup:

Gruß, Skalde.

 

Hallo Feodor,

es hat eine Weile gedauert, bis ich begriffen habe, dass die Erzählerin eine Gefangene in einem KZ ist. Andere Möglichkeiten, die mir in den Sinn kamen: Menschen, die sich versteckt halten, das Warschauer Ghetto. Diese Unklarheit hat durchaus ihren Charme. Die Unklarheit lässt einen auf die kleinen Dinge achten. Der Text gibt eine Reihe von Eindrücken in einem sehr kurzen Zeitraum wieder, und den Ausblick auf ein tragisches Ende. Der Stil in seiner Knappheit hat mir gut gefallen. Trotzdem fehlt irgendetwas, um mich als Ler zu berühren.

Fritz

 

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