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Wenn der Regen leise fällt
Wenn der Regen leise fällt
I
„Ein wundersames Armband, dass Du da hast“, sagte Lea.
Nur ihre Worte vermögen es, dass ich dieses Armband nun sehe. Ich fühle ihre Finger sanft über die Strieme an meinem rechten Unterarm tänzeln, spüre, wie sie beginnen Bänder zu weben, wie sie verknüpfen und binden, und bemerke einem zarten Schauder tropfenartig heiß wie kalt über meinem Rücken laufen, der dann als leises Kribbeln in meinen Bauch zurück klettert. Der rote Striemen an meinem Arm beginnt zu kriechen, die Enden heben sich, schnuppern noch etwas ratlos in die Luft herum, um dann wie ein Regenwurm, wie eine lange dürre rote Raupe sich zu krümmen, über meine Härchen leicht kitzelnd zu gleiten um schließlich, dem Zauber ihres Fingers folgend, in meinen Augen einen weinroter, glänzender Armreif zu werden.
Wir beide plumpsen danach mit einem herzlichen Lachen wieder zurück ins Gras und bewundern die Wolken über uns, die sich für uns die lustigsten Gestalten geben.
„Das da, das ist ein weißes Pferd.“
„Ist aber ein bisschen dick, nicht?“
„Kein Wunder, es säuft ja ständig.“
„Und die da sieht aus wie Opa Baltes Bart, nur nicht so grau.“
„Und raucht nicht.“
„Und die Wolke sieht aus wie eine Frau in einem weißen Abendkleid“, sage ich.
„Meine Mutter hatte auch so ein weißes Abendkleid“
Ich weiß, dass Lea nun etwas traurig ist. Ihre Mutter ist noch keine zwei Jahre verstorben. Lea besucht mich oft, hier oben auf dem Berg, wenn ich in den Ferien auf die Ziegen vom Dorf aufpasse. Meist bleibt sie den Rest des Tages bei mir und wir genießen eine wunderbar verträumte Zeit in der Sonne, direkt neben unserer lebenden Frischmilchbar. An solchen Tagen trennt früh morgens der Nebel die Berge voneinander, und wir schwimmen weit oben als Insel in einem milchigen See. Tagsüber sitzt man am Grunde eines riesigen glasklaren blauen Ozeans, der sich strahlend klar über die Spitzen des Gebirges wölbt. Am späten Nachmittag, wie eben, tanzen Wolken um die Berge, um manchmal auch wie ein Bauschen Zuckerwatte an den Bergen kleben zu bleiben und lustige Fäden zu ziehen.
„Letzte Woche hat mir Vater den Schlüssel von Mutters Schrank gegeben“, sagt sie plötzlich, „Er sagte: 'Für dich, du bist jetzt eine Frau geworden'“.
Erstaunt blicke ich Lea an. Davon hat sie mir noch nicht erzählt. Eigenartig, wir haben doch sonst keine Geheimnisse.
Ich betrachte Lea. Sie ist sehr hübsch - nicht nur in meinen Augen - sehr groß und schlank mit schwarzen langen Haaren, die sie offen trägt, fast genauso wie ihre Mutter. Sie sieht ihr wirklich sehr ähnlich, nur wirkt sie nicht wie eine erwachsene Frau auf mich.
„Danach hat er mich lange fest umarmt und gemeint, ich könne von jetzt an alles tragen, alles nehmen, was meiner Mutter einmal gehört hat. Aber ich ... ich will es eigentlich nicht.“
„Du willst nicht?“, frage ich sie.
„Es gehört Mutter und nicht mir.“
Ich bemerke, dass das noch nicht alles ist, was sie auf dem Herzen hat. Nach einer kurzen Pause frage ich sie:
„Glaubst Du, dass Dein Vater jetzt drüber weg ist, weil er Dir ihre Sachen gibt?“
„Ich weiß, dass er sie immer noch liebt“, antwortet Lea, „Er ist ständig nur zu Hause und spricht von ihr.“
Bis zum Tod ihrer Mutter habe ich Lea immer für ihren fürsorglichen Vater und ihre unglaublich lebendige und lustige Mutter beneidet. Es ist schlimm, dass ihr Vater noch nicht über ihren Verlust hinweg gekommen ist. Anfangs hatte Lea Angst, dass sie eine Stiefmutter bekäme. Jetzt aber ist es einer ihrer tiefsten Wünsche geworden, weil ihr Vater vergisst, weiter zu leben.
„Mein Vater macht mir Angst.“
Ich bin überrascht über ihre Worte. Ihre Augen zeigen einen eigenartig beklommenen Blick, der nachdenklich und traurig in die Ferne geht, dort aber nichts und niemanden betrachtet. Ich beobachte sie nun genau, während sie weiter spricht und frage:
„Wie meinst Du das?“
„Ich weiß nicht, er ist so komisch in letzter Zeit.“
Sie setzte sich auf und sieht auf den Berg gegenüber.
„Die Art, wie er mich anguckt.“
Sie blickt mich kurz an bei diesen Worten, um dann einen langen Grashalm abzubrechen, mit dem sie ohne hinzusehen in ihren Händen spielt.
„Ich verstehe nicht ...“
„Sein Blick. Ich glaube fast, er sieht durch mich hindurch.“
„Wie?“
„Immerzu spricht er von Mutter und sieht durch mich hindurch.“
Ich spüre, dass sie in ihrem Inneren kämpft. Nach einer kurzen Pause fährt sie fort, sichtlich angespannt und erregt.
„Gestern sagte er, ich solle das weiße Kleid von Mutter anziehen, aber ich wollte nicht, ich sagte: 'Das Kleid gehört nicht mir'.“
Ihre Lippen beginnen etwas zu zittern und ich greife ganz unbewusst nach ihrer Hand.
„Er sagte: 'Du bist jetzt die Frau im Haus. Es gehört dir, ich habe es dir geschenkt', aber ich wollte immer noch nicht.“
Eine perlengroße Träne sammelt sich in einem Auge.
„Dann hat er mich angeschrien: 'Jetzt zieh' es endlich an!', und mich zur Treppe gestoßen. Dann blieb er stehen und war total verzweifelt. Er begann zu weinen und hat mich an sich gedrückt und immer nur gesagt: 'Verzeih' mir, verzeih' mir Liebes!'.“
Sie blickt zu Boden und die Träne beginnt mit ihrer Reise über die Wange.
„Ich wollte weg von ihm, aber ich konnte nicht, weil er mich so fest gedrückt hat, weil er mich einfach nicht losgelassen hat.“
Sie zittert kurz und ich nehme sie sanft in meine Arme. Deutlich fühle ich ihr aufgewühltes Herz an meines pochen. Die Träne zerfließt zwischen unseren beiden Wangen und ich darf ihren Duft riechen, der so unglaublich warm über meine Seele streicht. Ich gebe ihr einen zarten Kuss auf die Haut.
Es gibt Momente, da macht das für mich einfach keinen Sinn, da klingt es so unlogisch, so fremd und ungewohnt, dass Frauen Männer lieben müssen, da wirken Männer einfach nur abstoßend auf mich. Lea ist das nie. Auch nicht, wenn sie Schmerzen hat, oder es ihr schlecht geht. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich ihr mit meiner Hilfe zeigen darf, wie sehr ich sie mag. Ich tröste sie noch eine Weile und dann finden wir wieder zurück zu unserem unbekümmerten Leben in unserem Traumgebirge über den Wolken, zu unserem Lächeln im Wolkenland am Nebelhorn.
Bei all dem Spaß, den wir an diesem Tag noch miteinander haben, vergessen wir ganz, auf die Wolken zu achten, die sich immer dunkler und drohender über uns zusammengezogen haben. Wir bemerken es erst, als der Wind bereits stärker wird, aber da ist es schon fast zu spät.
II
Der erste Blitz des Gewitters schmettert wie ein riesiger Hammer durch den Regen auf den Boden herab und wogt mit Donner durch das Tal, als Lea und ich mit unserer kleinen Herde Ziegen an den Eingang des Dorfes gelangen. Mein Vater eilt uns entgegen und die Strieme am Arm beginnt wieder zu schmerzen.
„Könnt ihr nicht aufpassen?“ herrscht er uns an. Er schließt Leandra zwar in seine Worte ein, aber er beachtet sie kaum.
„Ich habe Dir schon so oft gesagt, dass Du besser acht geben sollst, wenn Du oben am Berg bist!“
Ich weiß, dass er wütend ist, wütend, weil ich seine Anweisungen nicht befolgt habe, und es während eines Unwetters dort oben wirklich gefährlich ist. Bei strömenden Regen treiben wir die Ziegen in ihren Unterstand, besser gesagt, sie laufen vor uns her, weil sie das Trockene suchen. Danach schickt er uns heim, um den Rest selbst zu erledigen. Völlig durchnässt trenne ich mich an unserem Haus von Lea.
„Bist Du morgen wieder oben?“ fragt sie.
„Ich weiß noch nicht“, sagte ich, „Papa ist wütend“.
„Ich komm' einfach morgen früh mal vorbei!“, sagt sie und verschwindet hinter einer Wand aus Regen.
Im Haus erwartet mich meine Mutter und atmet etwas auf, als sie mich sieht. Direkt danach verfinstert sich ihr Blick wieder, als sie zu sprechen beginnt:
„Du weißt doch, dass du besser auf das Wetter achten sollst! Karl ist jetzt sicher wieder böse auf dich.“
Ich blicke betreten zu Boden, weil ich weiß, dass ich heute wieder einmal für dicke Luft gesorgt habe.
„Komm, zieh' dir etwas Trockenes an, und hilf mir mit dem Abendessen“, sagte sie schon etwas versöhnlicher, „und beeil' Dich, vielleicht kriegen wir das noch hin.“
Vater ist in letzter Zeit oft schlecht gelaunt, seit er seine Arbeit in der Fabrik, unten in der Stadt, verloren hat. Sicher ist er wieder den ganzen Tag unterwegs gewesen ohne Aussicht auf Erfolg. Mit trockenen Sachen komme ich gerade die Treppe herunter, als mir aus der Küche laute Stimmen entgegen dringen.
„Karl, sei nicht immer so hart zu ihr!“
„In ihrem Alter musste ich schon längst auf mich selbst aufpassen!“
Erschrocken bleibe ich stehen und lausche. Das Unwetter um uns herum verschlingt das Knarren der Treppen, weil das ganze Haus aus allen Fugen ächzt. Nur die Stimmen unterscheiden sich von dem Getöse und bleiben dadurch hörbar.
„Diana ist aber nicht wie du!“
„Sie muss es trotzdem lernen, und weil Reden bei ihr nicht hilft, wird sie es eben anders zu spüren bekommen.“
Ich zucke zusammen.
„Karl! Du wirst doch nicht ...“
Ich höre etwas poltern, einen Stuhl vielleicht.
„Lass mich!“
„Nein!“
Ich höre noch einmal etwas knallen, danach ist es bedrohlich still. Ängstlich stehe ich auf den Stufen und weiß nicht was ich machen soll, als sich die Tür zur Stube öffnet und meine Mutter hervor kommt. Sie lehnt sich an den Türrahmen, hält die Hände vor das Gesicht und bemerkt mich erst, als ich vor ihr stehe. Sie schluckt und kämpft, doch dann lächelt sie liebevoll, als sie mich an sich drückt. Vater sitzt auf der Bank und blickt Löcher durch die Tischplatte. Als er mich sieht, ziehen die schwarzen Wolken von draußen in seinen Blick. Er zögert kurz, doch dann fährt er mich an:
„Heute gibt es kein Abendessen für Dich!“
Ich bemerke, wie meine Mutter sich mit offenem Mund dagegen wehren will und ihn mit einem harten Blick bestraft. Ich sehe einen roten Fleck, seitlich an ihrem Hals und fasse sie an den Armen, als sie etwas sagen möchte. Sie streiten sich oft wegen mir. Ich will das nicht und sage traurig: „Ich geh' schon nach oben“, und hoffe, dass sie nicht weiter streiten, aber ich weiß, dass auch dann meine Mutter an diesem Abend nicht mehr lachen wird.
Draußen tobt das Gewitter, es stürmt und bläst, als ich aus meinem dämmergrauen Zimmer hinaus in den Regen blicke. Weißer Hagel mischt sich dazu, springt auf dem Rasen, tanzt über Pfützen voll Schlamm, hämmert hart an alte Dächer. Eine Tür knallt unten im Haus und ist gegen den Wind kaum zu hören, weil die Natur ihren Zorn aus sich heraus schreit, brüllt, pfeift, und lärmt so laut sie kann. Auch ich möchte schreien, meine Wut hinaus brüllen wegen der Ungerechtigkeit, die mich umgibt. Ich will schreien und regnen solange, bis mein Vater wieder arbeiten darf und er meine Mutter wieder lachend umarmt, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt. Solange, bis er mir wieder zärtlich übers Haar streicht, mit Mutter tanzen geht, bis beide überglücklich spät nachts nach Hause kommen und mich dabei wecken, weil meine Mutter ständig lacht. Ich will brüllen und donnern, solange bis Lea's Vater heiratet und endlich weiterlebt, solange bis sie ihn nicht mehr fürchtet, nicht mehr um ihn fürchten muss, bis alles wieder ist, wie es noch vor zwei Jahren war.
Doch nur leise, leise fällt mein Regen, fällt als Träne und verliert sich sinnlos hoffend zwischen der Welt und meinen Wünschen.
III
Herausgeschleudert wie aus einer verborgenen Explosion der Angst schrecke ich hoch im Gedanken an Lea. Nur einen Moment meiner Atemlosigkeit benötige ich, um zu bemerken, das der Föhn in dieser Nacht wieder als unruhiges Tier durch die Täler streicht und laut an dem Dach über mir rüttelt. Aber woher dieser Schrecken, woher diese Angst, und warum - Lea?
Durch den Wind dringen die Reste einer verzweifelten Stimme zu mir, einer leisen, ängstlichen, kraftlosen Stimme, ihrer Stimme, Lea! Ich springe auf von meinem Bett und spähe aufgeregt durch's Fenster, doch ich kann sie nirgendwo sehen. Die Schatten der Wolken hasten wie gespenstische Reiter die Häuser entlang, springen von Dach zu Dach, ihre Hufe klappern auf den Schindeln und bringen das Haus zum vibrieren. Das Mondlicht versteckt sich vor ihnen, lugt nur ganz sachte zwischen ihnen hervor und gibt mir kaum Sicht. Eilig schlüpfe ich in zwei Schuhe und ziehe einen Umhang über mein Nachthemd. Sie ist dort draußen, irgendwo, sie braucht mich, ich spüre es, ich weiß es. Hastig stürze ich die Stufen hinunter an die rückwärtige Tür, wo ich Lea sonst treffe, wenn sie zu mir will, und öffne sie. Der Sturm drängt herein und stößt mich zurück. Ein Körper fällt mir entgegen, Lea. Ich fange sie auf und lehne meinen Rücken gegen die Tür. Sie schließt sich und schneidet den Sturm von uns ab. Wir sitzen allein in unserer Dunkelheit.
Ich spüre sie zittern, spüre ihr Espenlaub, fühle kalten Schweiß an ihrer Stirn und an ihren Händen, rieche ihre Angst, rieche noch mehr als ihre Angst, bemerke, wie sie sich an mich klammert, wie sie zuckt und schluchzt am ganzen Körper, wie sie fröstelt, und schmecke das zarte Salz ihrer sprudelnden Tränen an meinen Lippen. Ihr Schrecken und ihre Furcht machen mich sprachlos, ihr Zittern beginnt auch mich zu erschüttern und raubt mir die Kraft uns zu erheben. Ich kann ihr nichts geben, kann nichts für sie tun, ich kann sie nur nehmen, nur halten, in meinen Armen. Schreckliche Sekunden verstreichen in der undurchdringlichen Finsternis hinter der Tür, die uns nur äußerlich vom Tosen des Sturmes trennt. Ich selbst bin zur Hilflosigkeit geworden.
Nur langsam, sehr langsam legt sich der Sturm in meinem Armen. Nur ihr leiser Regen bleibt, fällt immer noch brennend an ihr herab. Allmählich spüre ich die kalte Trostlosigkeit zwischen Tür und Stube begreife, dass ich sie zu mir, in die vertraute Wärme meiner Kammer nehmen muss. Ich beginne mich aufzurichten, ganz sachte und vorsichtig, und noch bevor ich ein Wort sagen muss, sagen mir ihre Bewegungen, dass sie meine Gedanken verstanden hat. Als eng umschlungenes zerbrechliches Paar gelangen wir schließlich auf die Kante meines Bettes. Erst hier im silbernen Schimmer des Mondlichts erkenne ich ungewohnte Kleider an ihr. Ich versuche zu sprechen:
„Was ...“, aber ich komme nicht weiter, weil sich ein weitere Schauer über meine Wangen ergießt. Ich drücke sie ganz fest an mich und nehme dabei einen eigenartigen Duft in mich auf, einen Duft, der mich an einen Menschen erinnert, an eine Wohnung, an das Haus von Lea, den ich zuvor aber nicht an ihr bemerkte. In meinem Kopf beginnt es zu brennen, beginnt eine schreckliche Ahnung zu dämmern, und noch während ihre Kleider durch meine liebkosenden Finger gleiten, schleicht sich das Bild ihres Vaters vor meine Augen. Mit zitternden Lippen nur kann ich ihr flüstern:
„Dein Vater?“, bis ihr Schluchzen meine Worte beendet. Die Kälte der Nacht steigt fröstelnd in meine Seele steigt und treibt mir das Wasser in die Augen.
Es dauert noch lange, bis ich tatsächlich erfasse, was vor sich gegangen ist. Mit fiebrig heißem Kopf und feuchten Händen spüre ich die hastigen Reiter der böigen Nacht ihre Kreise um uns enger ziehen, beginne Leas Angst zu teilen, ihre Furcht vor ihrem Zuhause, ihre Liebe und ihren Hass, ihre Angst und ihre enge Bindung an den Vater, diese gewaltige Last, die ihr den Atem raubt.
Plötzlich bemerke ich, wie Lea verzweifelt an ihren Kleidern zu reißen beginnt, sie zu zerreißen beginnt, sie loswerden will, abstreifen will, wie die Haut der Vergangenheit, die Kleider ihrer Mutter. Ich nehme sie fest in den Arm und beruhige sie, und sage: „Ich helfe Dir.“ Langsam entblößt sich ihre helle Haut vor meinen Augen. Als ich ihren nackten Rücken sehe, spüre ich zwei Messer unter meine Fingernägel schneiden und ziehe vor Schmerzen meinen Kopf zwischen die Schultern. Auch sie hat Striemen, frische Striemen am Rücken, von harten Händen gekratzt. Vorsichtig versuche ich sie zu tasten, aufgewühlt von der Gewalt, die ich sehe und erschrecke bei ihrem leisen Zucken wie ein Kind. Ihre zerbrechliche Nacktheit lässt mich schaudern und jagt mir heiße und kalte Wellen über den Körper. Ich gebe ihr die Kleider, die ich selbst am liebsten trage, und umarme sie vorsichtig wie einen durchsichtigen Schatz, einen zärtlichen Geist zwischen meinen Fingern.
Fragen rasen durch meinen Kopf, quälen mein Gehirn und meine Seele. 'Was soll ich nur tun?' Ich fürchte mich vor dem Morgen, vor dem Beginn des nächsten Tages, fürchte mich davor, dass Lea's Vater kommt, dass sie ihm ausgeliefert wird als seine Tochter, dass sie geopfert wird, ihm und seiner verzweifelten Liebe. Ich fühle auch die Qual in Lea, in ihrem Herzen, die Last, die sie mit sich trägt, und ich weiß nicht, ob ich genug Kraft besitze, sie weiter zu stützen und ihr zu helfen. Die Enge in meiner Kammer beginnt mich zu bedrücken, mein Innerstes schreit nach Luft, schreit nach Leben, wie der Sturm vor meinem Fenster.
In meiner Hilflosigkeit stammle ich ganz leise das Wort, das für uns beide den Himmel bedeutet: „Nebelhorn“, der Berg unseres Wolkenlands. Lea dreht sich zu mir, und ihre Gestalt findet scheinbar wieder zu Kräften, während sie stumm nickt. Ja, das Nebelhorn, die Hütte auf dem Berg, unsere Zuflucht wenn Stürme uns zu plötzlich überraschen. Noch an der Türe hülle ich uns beide in wärmende Decken und wir folgen lautlos und eilig den hastigen Reitern hinauf in die Berge.
IV
Ich bin noch nie neben ihr aufgewacht und betrachte nun staunend ihr zartes, verweintes Gesicht. Nein, sie ist noch keine Frau, das weiß ich, das weiß jeder, der in ihre Augen sieht, jeder der sie kennt. Aber seit gestern Abend verstecken sich ihre Augen in ihrem Gesicht, schwimmen in einem salzigen See aus Tränen, auch jetzt noch, wenn sie schläft. Ich sehe es deutlich an der Art wie sie schluckt, wir ihr das Wasser fehlt, selbst im Mund, weil ihre Augen alles ausgetrunken haben, ausgegossen haben an mir. Ich fasse mir vorsichtig an die Wangen und finde noch ein paar Körner Salz von ihr, festgetrocknetes Regensalz, so sauer wie Schmerz. Ich will sie wach küssen, wie im Märchen, meine Prinzessin, aber ich zögere, weil ich spüre, dass Küsse für sie wie Messer schmecken müssen.
Ich taste im Morgenlicht nach ihren Fingern. Als ich sie berühre, zuckt sie ganz kurz im Schrecken, bis sie weiß, dass es meine Finger sind, die sie spürt. Ich bin sprachlos und suche nach Worten, und merke, dass es keine Worte mehr gibt, nur störenden Töne, Lärm, der sich zwischen uns stellt, wenn er mich verlässt. So schmiege ich mich an ihren Rücken und hauche ihr meine Liebe in ihren weißen Nacken. Nach ein paar Momenten unserer Ewigkeit ist sie es, die sich mir zu wendet und mich küsst, ganz sanft auf die Stirn, unschuldig und dankbar, wie man einen Engel küsst.
„Es ist gut, dass Du da bist“, sagt sie.
Ich sehe ihr lange in die Augen und bemerke, dass ihr Blick mich verlässt und in die Ferne schweift, durch mich und durch die Wand hindurch, weit weg, an einen dunklen Ort, der so schrecklich ist, dass ich nur von ihrem Blick schon schaudern muss. Ich umarme uns.
„Ich will nie wieder nach Hause.“
Ihre Lippen zittern bei diesen Worten und ich weiß, dass sie so gerne nach Hause möchte, heim zu ihrer Familie, ihrer Mutter, wieder ein Kind sein, glücklich sein, einen Vater haben. Aber das kann sie nicht mehr, es gibt kein zu Hause mehr für sie.
„Ich will nie wieder nach Hause“, wiederholt sie noch einmal, und ihre Lippen pressen sich verkrampft aufeinander um diese Worte nicht wieder aussprechen zu müssen, nicht mehr daran denken zu müssen, ertrinken zu dürfen in einer glänzenden Lawine auf ihren Wangen, doch ihre Augen finden kein Wasser mehr.
Endlich weiß ich, was ich tun muss, was ich sagen muss, wozu ich da bin.
„Komm“, sage ich, „Komm, wir gehen - nur du und ich.“
Sie blickt mich an durch ihren Regen, wie jemand, dem dieses Wasser ein neues Leben zu keimen beginnt. Ich fasse ihre Hände und stehe langsam auf.
„Komm“ wiederhole ich noch einmal und ziehe sie zu mir empor.
In dem Moment sehe ich wieder einen Rest dieser ungeheuren Lebensfreude in ihren Augen und ich beginne ihn wieder zu spüren, den Zauber zwischen uns, diese Magie, die die Erde beben lässt, wenn ihr Herz an meiner Seite schlägt, die alle Wunden heilt, nur durch ihre Berührung, die uns miteinander verknüpft wie zwei liebende Menschen am Ende eines Lächelns. Unsere offenen Hände umfassen einander und wir verlassen die alte Hütte. Draußen blinzelt uns ein gelber Glücksdelphin entgegen, der kreisrund und freundlich aus den Nebeln der schlafenden Hügel von Wolkenland taucht.
V
„Nein!“
Lea flüstert nur vor Schreck. Auch ich bin ganz starr, weil nicht weit unter uns ihr Vater aus den Nebeln taucht.
„Nein!“, haucht sie noch einmal mit weit offenen Augen und geht dabei einen Schritt zurück. Sie dreht sich um und beginnt zu laufen, hastet den Hang hinauf, weg von ihrem Vater. Ich blicke noch einmal hinunter und sehe, dass er uns bemerkt hat. Auch er beginnt zu laufen. Ich folge Lea.
„Wo willst Du hin?“ versuche ich ihr nachzurufen, aber ich weiß nicht, ob sie mich hört. Die Angst verleiht ihr Flügel und nimmt ihr die Orientierung. Sie läuft in Richtung auf den Grat zu. Auf der anderen Seite des Grats fällt der Berg schroff ab, wie eine tiefe Schlucht ohne zweite Wand.
„Lea!“
Sie hört mich nicht und ich kann ihr nicht folgen. Ihr Vater ist zum Glück noch langsamer als ich, sein Gewicht macht ihm zu schaffen. Lea hastet vorwärts, stolpert, hastet weiter, und ist doch schneller als ich.
„Lea!“
Besinnungslos läuft sie weiter, obwohl ich brülle, so laut ich kann. Ich blicke mich noch einmal um. Ihr Vater ist nun stehen geblieben und sieht ihr erschrocken nach. Auch er weiß, wohin sie läuft. Lea kommt dem Grat immer näher. Ich renne, was ich kann, fast schon glaube ich, dass mir die Lunge platzt. Ich kann ihr aber einfach nicht folgen. Ich schreie um ihr Leben, um unser Leben. Mein Puls hämmert erbarmungslos durch meinen Schädel und der Boden unter meinen Füßen scheint weich zu werden oder plötzlich nachzugeben. Da, Lea erreicht den Grat. Aber wie von einer unsichtbaren Wand aufgehalten bleibt sie am Abgrund stehen. Ich schreie noch einmal:
„Lea!“
Jetzt endlich hat sie mich bemerkt und dreht sich um. Ängstlich blicke auch ich kurz zurück, still hoffend, dass ihr Vater nicht mehr weiter läuft. Beide stehen nun, Lea und ihr Vater und ich erreiche sie völlig außer Atem oben am Hang, direkt am Abgrund. Ich ziehe sie zwei Schritte zu mir, falle ihr um den Hals und halte sie so fest ich kann.
„Ich bin doch bei dir!“ presse ich heraus. Auch sie ringt nach Luft und zittert am ganzen Leib. Ihr Vater scheint verstanden zu haben und hat sich auf einen Felsen gesetzt, genügend weit von uns entfernt und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ich werfe einen schaudernden Blick auf die andere Seite, wo schwarz im Schatten dieses Berges der Abgrund gähnt. Ich lehne meine Stirn gegen ihre und blicke tief in die Angst in ihren Augen.
„Nein, du darfst nicht springen, du darfst mich nicht alleine lassen“, flüstere ich, „ohne dich kann ich nicht sein.“
„Ich will nicht mehr zurück, ich will nicht, ich will ... nirgendwo hin“, stammelt sie ohne Kraft.
„Nein, du musst nirgendwo mehr hin.“, hauche ich, „Du bist schon da“.
Zärtlich löse ich meine Stirn von ihr, um sie das erste Mal als Frau zu küssen.