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Wie die Vögel nach Schweden
Der Drachen hob ab. Sofort riss der Wind an den Leinen, zerrte Fabian über den Strand Richtung Meer. Bei diesem Wetter konnte er früher springen wie ein Astronaut auf dem Mond, meterweite, herzklopfende, zeitlupenträge Hüpfer, und seine Mutter erzählte Geschichten von Kindern, die der Wind bis nach Schweden entführte. Jetzt lehnte er sich gegen den Zug der Leinen und jagte den Drachen über die verwehten Reste der Sandburgen, dass seine Spitze fast den Boden streifte.
„Heyho.“
Vom Gipfel einer Düne winkte David. Beim Abstieg schob er Sandlawinen vor sich her.
„Rate, was ich in der Scheune gefunden habe“, rief er, kaum dass er in Hörweite war. „Einen Heißluftballon.“
Als Kinder hatten sie häufig in der Scheune gespielt, wenn der Herbstregen Felder und Dünen in Ödland verwandelte. Zwischen vernagelten Kisten und rostigem Landwirtschaftsgerät errichteten sie ihr Königreich und träumten von Schätzen, die tief unterm Gerümpel verborgen lagen.
„Wir sollten ihn ausprobieren“, sagte David.
„Das ist verrückt.“
„Ja, total krass.“
„Ich meinte das nicht positiv.“
Fabian kippte den Drachen in den Sturzflug – wie ein Raubvogel schoss er in die Tiefe und der Wind krallte sich in seine Flügel. Dann riss eine Leine. Der Drachen wand sich tödlich getroffen um die eigene Achse, stürzte zwischen die verrammelten Strandkörbe und verendete im Sand. Fabian verpackte die Überreste in der Tragetasche. Anschließend kämpften sie sich, Flugsand im Auge, über die Dünen.
„Wir schauen nur mal, ob alles da ist“, sagte David. „Genügend Gasflaschen und so. Und ob die Hülle kaputt ist. Du musst ja nicht fliegen, wenn du nicht willst.“
„Du versuchst nicht, mich in letzter Minute in den Korb zu zerren?“
„Nee, ich bind dich außen fest.“
„Gut, ich informiere die Anderen.“
Unmut huschte über Davids Gesicht, der Sekundenbruchteil eines Zögerns. „Okay.“
Die ersten Dächer kamen in Sicht, reetgedeckte Ferienhäuser mit holzverschalten Fenster gegen die Herbst- und Winterstürme.
Als der Wind sich beruhigt hatte und die Oktobersonne Erinnerungen an lauwarme Sommertage weckte, fuhr Fabian mit dem Fahrrad zu David. Hinterm Stall, in dem sich jetzt Gästezimmer drängten, führte ein sandiger Trampelpfad durch ein Birkenwäldchen. Als Fabian den Schatten der Bäume verlies, warteten Phil und Johannes bereits vor der Scheune.
„Wo ist David?“, fragte Fabian.
„Holt mit unserm Ehrengast den Schlüssel.“ Phil wies hinter die Scheune, wo sich zwischen Gräsern und Brennnesseln eine Klappe in der Bretterwand verbarg, gerade groß genug, um mit der Hand den Schlüssel zu angeln, der links an einem Haken hing. Fabian kannte das Versteck von früher.
„Ehrengast?“
„Anna. David hat sie mitgebracht.“
„Warum?“
„Du musst doch wissen, warum man ein Mädchen echt überall hin mitnimmt.“ Schon im Sommer, als Fabian mit Mia ging, hatte Phil sich beschwert, dass es plötzlich Wichtigeres gab als die Freunde. Fabian kümmerte sich wenig darum, sondern küsste Mia im Strandhafer der Dünen oder im Garten des Ferienhauses. Als sie auf einem Nadelbett im Pinienwald lagen, umgeben von den Resten eines Picknicks, nahm Mia seinen Schwanz in den Mund und Fabian verkrampfte sich in zittriger Erwartung, aber sie hörte gleich wieder auf, verzog das Gesicht, versuchte die peinliche Stille mit Lachen zu überspielen. Am Ende der Ferien verschwand sie ohne Abschied.
„Was habt ihr so lange gebraucht?“, fragte Phil, als David und Anna um die Ecke bogen. „Wart echt ne Ewigkeit da hinten.“
Anna wurde rot. David zuckte mit den Schultern. „Hab den Schlüssel nicht so schnell gefunden. War ewig nicht mehr hier.“
„Klar, deswegen weißte auch von dem Ballon.“
In der Scheune roch es nach Staub und den Resten von Stroh, die man auf einem Zwischenboden unter der Decke vergessen hatte. David drückte sich an dem alten, blauen Traktor vorbei, der wie ein Kettenhund das Tor bewachte, und suchte einen Weg zwischen Kisten und Körben, zwischen rostigen Mistgabeln und einem schartigem Pflug. Vor einem Haufen olivgrün verschnürter Pakete blieb er stehen. „Tadaa. Da wären wir. Mal sehen, ob alles da ist.“
Sie fanden den Korb, den Brenner und ein dutzend Gasflaschen, die meisten davon leer, doch bei einigen waren die Ventile noch mit Plastik versiegelt. Die Ballonhülle entfalteten sie vor der Scheune.
„Wow, ist ja riesig“, sagte Phil.
Wie die Haut einer Echse schmiegte sich die Hülle an den Boden, warf Falten über jedem Erdhügel, jedem Stein. Fabian lief respektvoll an ihrem Rand entlang. Im Augenwinkel sah er Anna, die David auf die Wange küsste – so hatte sich auch Mia für den silbernen Vogelanhänger bedankt, den Fabian ihr geschenkt hatte.
„Mal schauen, ob Löcher drin sind“, sagte Phil.
Das Suchen war anstrengend, bald flimmerten Fabians Augen vor lauter Grün. Er verlor die Orientierung, wusste nicht mehr, ob er Fortschritte machte oder die immer gleichen Stellen absuchte. Er wandte seinen Kopf zum Himmel, um den Blick zu entspannen, und Neonpunkte tanzten im wässrigen Blau. Eine Stunde später saßen alle erschlagen am Feldrand, aber sie hatten keine Löcher gefunden.
„Los, lasst uns fliegen“, sagte Phil.
„Nicht heute“, erwiderte David.
„Wieso?“
„Willst du nach Schweden fliegen? Der Wind geht Richtung Meer.“
Fabian saß am Computer und sah Videos von Musik-Festivals, auf denen er nie gewesen war, als sich sein Skype meldete. Grobkörnig und bleich erschien Phil auf dem Bildschirm. Er trug weder Pulli, noch T-Shirt und seine Rippen stachen durch die Haut wie Kirchenbögen. Eine Schreibtischlampe warf Schlagschatten in sein Gesicht.
„Wäre es möglich, dass du dir was anziehst?“, fragte Fabian.
„Wie oft waren wir zusammen schwimmen? Man, wir waren sogar Nacktbaden.“
„Es sieht aus, als wolltest du masturbieren.“
„Alter, du sagst echt masturbieren?“
„Was stört dich daran?“
„Sag halt wichsen. So klingste wie ein Priester.“
„Kannst du dir was anziehen?“
Phil kippte aus dem Bild. Zurück blieben die unscharfen Konturen von Bett und Regal, das nachtblaue Quadrat des Fensters. Stoff raschelte und Phil kehrte auf den Bildschirm zurück, zog sich ein T-Shirt über den Kopf, darauf eine frankophile Katze mit Schnurrbart und Barett, die Mäuseköpfe auf einem Tablett servierte.
„Besser?“
„Ja. Weswegen hast du angerufen?“
„Sekunde.“
Ein Link erschien im Textfeld.
„Will ich das wirklich sehen?“, fragte Fabian. Mehr als einmal hatte Phil ihm Snuff-Videos geschickt –Selbstmörder klammerten sich an Laternenpfähle, bevor sie vom Brückengeländer sprangen, Motorräder prallten gegen Autos und LKWs, die Fahrer wirbelten durch die Luft und zerbrachen wie Streichhölzer an Bäumen und Leitplanken. Das ganze erinnerte auf grausame Weise an Slap-Stick.
„Sollteste. Ist wichtig für unsern Ballonflug.“
Fabian klickte auf den Link. Sein Browser öffnete die zittrige Aufnahme einer Handykamera. Ein Trampelpfad schmiegte sich an den Fels. Rechts fiel die Bergwand in die Tiefe und die Felder im Tal verschmolzen zu erdigem Grün. Schreie waren zu hören, tonlos unterm Rauschen des Windes. Dann füllte ein Heißluftballon das Bild, riesengroß und bunt wie ein Papagei, und kam immer noch näher und hielt schräg auf die Bergwand zu. Die Gesichter der Passagiere bestanden nur aus wenigen Pixeln und doch überkam Fabian Grauen und Übelkeit, die Gewissheit, etwas Verbotenes zu sehen – niemand sollte sowas filmen. Sanft streifte die Ballonhülle den Felsen und riss auf ganzer Länge. Der Korb prallte auf einen Gesteinsvorsprung und wurde ins Tal hinaus geschleudert. Die Passagiere fielen heraus, schwarze Körper, hilflos vor der Tiefe.
„Das ist ekelhaft“, sagte Fabian.
„Was denn? Ich will nur wissen, was uns passieren kann.“
„Bei uns gibt es keine Berge.“
„Dafür das Meer. Wir treiben raus und tschüss.“
„Dann nehmt ihr eben Rettungswesten.“
„Ertrinken ist nicht das Problem. Das Wasser ist einfach zu kalt. Wir erfrieren, lange bevor wir ertrinken.“
Die Vorstellung verursachte ein unbehagliches Ziehen in Fabians Kniekehlen – vier Jugendliche trieben im Wasser, grau gefrorene Gesichter zwischen den Wellen, nur die Rettungswesten leuchteten grell im Licht der Suchscheinwerfer.
„Eigentlich ist es Quatsch, dass ich immer von uns rede“, sagte Phil. Er öffnete einen Energydrink und trank zwei Schlucke aus der Dose. „Du weißt ja, worum es bei der Sache tatsächlich geht.“
„Worauf willst du hinaus?
„Komm schon, ist doch offensichtlich. David will Anna flachlegen. Deswegen hat er dich gefragt. Weil du eh nicht mitfliegen willst.“
„Warum hat er mich dann überhaupt gefragt?“
„Er braucht nen Fahrer. Wenn keiner mit dem Traktor nachfährt, bekommt er den Ballon nicht zurück zur Scheune.“
„Trotzdem willst du mitfliegen?“
„Scheiße ja. Sonst passiert hier eh nichts bis nächsten Sommer.“
Trotz Phils Befürchtungen erschien Anna nicht zur ersten Fahrt mit dem Ballon, vielleicht hatte sie keine Lust mit vier Jungs zu fliegen, vielleicht hatte David sie gebeten zu warten. Aufgeregt schleiften sie den Korb aufs Feld und befestigen den Brenner. Gravitätisch blähte sich die Hülle, eine gigantische, neongrelle Weintraube erhob sich vor den Schäfchenwolken, die träge nach Süd-Westen trieben.
„Seid ihr sicher, dass ihr damit fliegen wollt?“, fragte Fabian.
„Fahren“, sagte David.
„Was?“
„Ich hab nachgeschaut, es heißt Ballon fahren, nicht fliegen. Und ja, natürlich wollen wir, die ganze Arbeit muss sich schließlich lohnen. Außerdem machen wir eh nur nen Kurztrip. Wir fahren weder besonders hoch noch weit.“
David, Phil und Johannes stiegen in den Korb und kappten die Leinen. Träge stieg der Ballon empor, wurde vom Wind erfasst und trieb übers Feld davon. Die drei Freunde jubelten und winkten. Fabian stieg auf den Traktor und zitternd erwachte die Maschine zum Leben. Über Feldwege und Seitenstraßen folgte er dem Heißluftballon. Einmal fuhr er in eine Sackgasse und musste das Gespann samt Anhänger wenden, schweißtreibende Minuten, in denen die schwebende Weintraube hinter Baumwipfeln außer Sicht geriet. Als er endlich den richtigen Weg gefunden hatte, war der Ballon verschwunden. Er verrenkte sich den Hals, fand kein Grün am Himmel und mit jeder Sekunde wuchs die Panik. Als er schon nach seinem Handy fingerte, entdeckte er den Ballon auf einer Wiese, halb verdeckt von einem Bauernhaus. Phil und Johannes lehnten lachend am Korb, während David am Brenner hantierte.
„Das war so geil“, rief Phil. „So geil. Wirklich. Musste auch machen. Ist total irre.“
Er fiel Fabian um den Hals und schleifte ihn Richtung Ballon.
„Nein, wirklich nicht. Danke.“
„He Johannes, hilf mal mit“, rief Phil.
Gemeinsam packten sie Fabian an den Armen und zerrten ihn zum Korb.
„Leute, ich hab Höhenangst.“
„Wissen wir.“ Das Grinsen halbierte Phils Gesicht.
„Probier’s aus“, sagte Johannes. „So hoch fliegen wir eh nicht.“
„Fahren“, warf Phil ein.
„Und die Korbwände sind irre hoch, du kannst gar nicht rausfallen.“
David reichte ihm die Hand und Fabian kletterte in den Korb, ein Kind vor der Achterbahn, halb Angst, halb gespannte Erwartung. Aus der Nähe röhrte der Brenner wie ein Hochofen. Kaum hatte er sich zurechtgefunden, spürte Fabian das leichte Schaukeln, mit dem sich der Korb vom Boden löste. Die Wiese sank unter ihm weg. „Oh Gott.“ Die Erde entfernte sich erschreckend schnell und er schwebte im Nichts – ein Windstoß nur, ein Riss in der Hülle und sie würden als zerschmetterte Leichen in einer Baumkrone oder auf dem Dach eines Bauernhauses enden. Er klammerte sich am Korbrand fest.
„He, es ist alles in Ordnung.“ Johannes legte ihm die Hand auf die Schulter. „Bleib einfach in der Mitte des Korbes und schau nicht nach unten, sondern in die Weite. Dann fällt’s gar nicht auf, wie hoch wir sind.“
Zaghaft spähte Fabian über den Rand des Korbes. Vor ihm lag die Welt – Wiesen, auf denen Schafe weideten, Entwässerungsgräben voll fauligen Unkrauts, graubraune Felder und dazwischen die reetgedeckten Dächer der Bauernhöfe, wo die Menschen stehen blieben und in den Himmel zeigten. Rechts erstreckten sich die Dünen und dahinter das Meer, ruhige Brandung und am Horizont die Flanke eines Gastankers. Er suchte Phil und den Traktor und fand ihn auf einer Allee, deren Bäume von oben Rasierpinsel glichen.
„Ist das schön.“
„Absolut“, sagte Johannes. „Absolut. Aber ich glaube, wir sollten wieder runtergehen. Sonst kommen wir zu sehr Richtung Stadt.“
Die ersten Häuser tauchten am Horizont auf und wuchsen rasch zum Ziegelmeer. David drosselte den Brenner und sie sanken auf ein Feld herab, auf dem letzte Getreidestoppel standen. Hart schlug der Korb auf die Erde und Fabian wurde gegen die Umrandung geworfen. Aber er lachte nur. Das Adrenalin pumpte in seinen Adern.
Eigentlich war Fabians Zimmer selbst für zwei Personen zu klein, aber Johannes ließ seit dem Schlaganfall seines Vaters keinen seiner Freunde mehr zu sich nach Hause. Also lagen sie auf dem Bett und tranken Bier aus dem Vorrat von Fabians Eltern.
„Ich habe das Gefühl, unser Freundeskreis zerbricht“, sagte Fabian. „Mit den Anderen kann ich nicht darüber reden, aber wir machen immer weniger zusammen. Was ich wirklich schade finde. Schließlich haben wir früher fast jeden Tag etwas unternommen. Und jetzt ist es schon viel, wenn wir uns einmal die Woche treffen. Und selbst dann sind wir selten vollständig.“
„Ich hab einfach wenig Zeit. Wegen Jessi und Frances.“
Die beiden waren Johannes Schwestern und weil sein Vater nur noch über Schläuche atmete und weil seine Mutter manchmal weinend am Küchentisch saß, musste er sich um die beiden kümmern. Er brachte sie zur Schule und zum Sportverein, er half ihnen bei den Hausaufgaben und kochte das Abendessen. Wenn er darüber sprach, was selten genug geschah, versuchte er das Positive zu betonen – er verbrachte mehr Zeit mit seinen Geschwistern, war viel verantwortungsbewusster als früher, viel erwachsener.
„Sorry, ich meinte das nicht als Vorwurf.“
Johannes trank einen Schluck Bier. „Immerhin haben wir den Ballon. Das war einfach super. Ich meine, man fliegt … fährt … über allem. Ich hatte das Gefühl, absolut frei zu sein, als könnte ich überall hin. Das war einfach super. Wir müssen das unbedingt nochmal machen. Und diesmal nicht so kurz, sondern viel weiter.“
Sein Gesicht glänzte vor Begeisterung und die Narbe unter seinem Auge stach deutlich ab gegen die rosige Haut, ein Riss, der an Mittelalter-Epen erinnerte und heroische Schlachten. Dabei war es ein Unfall gewesen. Als Kind begeisterte sich Fabian fürs Militär und so bastelte er aus einem Eisenrohr und einem Holzklotz seine eigene Kanone. Mit dem Schießpulver aus altem Feuerwerk füllten sie den Lauf, die Mündung verschlossen sie mit Wachs. Kurz vorm ersten Versuch kamen Johannes Zweifel. „Das geht schief. Das Teil fliegt uns um die Ohren.“ Aber Fabian hielt bereits ein Streichholz an die Zündschnur. Heldenhaft hechteten sie in Deckung und zählten die Sekunden bis zum Knall. Nichts geschah. Enttäuscht hoben sie die Köpfe. Da explodierte die Kanone und ein Splitter streife Johannes Gesicht. Er stürzte zu Boden, Blut sickerte unter der Hand hervor, die er auf sein Auge drückte, und für ein paar schreckliche Sekunden dachte Fabian, sein Freund wäre tot. Auch wenn sie später über den Vorfall lachten, fühlte er sich immer noch schuldig.
Tage später fragte David, ob Fabian mit dem Ballon helfen könnte. „Du weißt doch wegen Anna. Ich würde gerne eine Fahrt mit ihr allein machen.“
Also fuhr Fabian zur Scheune und zerrte mit David den Korb aufs Feld. Während sich die Hülle blähte wie Hefeteig, saßen sie schwer atmend am Boden und warfen Steine nach einer Bierflasche, die grünlich am Wegesrand schimmert. David wirkte nervös. Er pfiff abgerissene Melodien und prüfte ständig seine Frisur mit den Fingern. Fabian versuchte ihn zu beruhigen, fand aber nicht die richtigen Worte. Als seine Bemühungen lächerlich wurden, tauchte Anna zwischen den Bäumen auf. Sie schenkte Fabian ein unsicheres Lächeln und küsste David auf den Mund – Sekunden der Zweisamkeit und Fabian beobachtete eine Krähe, die nach Würmern pickte.
Diesmal war die Fahrt mit dem Traktor beinahe Routine und auf den Feldwegen voller Schlaglöchern dachte Fabian an den Sommer, als er eine Freundin hatte und die Welt mit ihr teilte. Jetzt blieb ihm nur die Rolle des Liebesdieners, der die Fäden hinter den Kulissen führte, und er verstand Phil und sein Gefühl, ausgeschlossen zu sein vom Glück der Anderen.
Nach der Landung waren Annas Haare zerzaust, ihr Lippenstift verschmiert. Unter Fabians Blick wurde sie rot und strich sich Rock und Parka glatt. David grinste nur.
Dann wurde das Wetter wieder schlechter und Fabian zog mit repariertem Drachen zum Strand. Stundenlang trotzte er dem Wind, der salzigen Gischt und kehrte mit roten Wangen und tauben Fingern nach Hause zurück. Dagegen wirkte Johannes bei jedem Treffen bedrückter. Er sprach weniger und trank mehr. Immer öfter endete er über der Kloschüssel und Fabian lauschte besorgt, ob seine Eltern aufwachen würden. Manchmal weinte er auch.
„Eigentlich will ich nur noch weg“, sagte Johannes, als sie wieder auf dem Bett lagen und die Bierflaschen weniger wurden.
„Ja, ich kenne das, manchmal …“
„Nein.“ Johannes schüttelte den Kopf. „Ich meine das ernst. Ich will nur noch weg.“
Wie schlimm musste es sein? Wenn der Vater reglos im Krankenbett lag und Maschinen seine Atmung übernahmen. Wenn die Mutter mit einer Rotweinflasche am Küchentisch saß und durch die Fotoalben längst vergangener Urlaube blätterte. Die Kleinen durften jedenfalls nichts merken. Vielleicht erzählte ihnen Johannes Geschichten, in denen die Welt noch heile war, vielleicht sagte er ihnen, dass bald alles wieder wie früher seien würde.
„Du kannst nicht einfach weggehen. Was passiert mit Jessi und Francis?“
„Meine Mutter wird sich um die beiden kümmern.“
„Du weißt, dass sie das nicht kann.“
„Sie muss. Verstehst du das nicht? Ich kann nicht bleiben. Ich kann einfach nicht.“ Tränen standen in Johannes Augen und Fabian fühlte sich zurückgestoßen – er verstand seinen Freund nicht mehr, hatte keinen Zugang zu seinen Qualen.
„Wo willst du hin?“
„Schweden.“
Dann kam die Erkenntnis. „Du willst den Ballon nehmen?“
„Ja.“
„Das wird nicht funktionieren. Du wirst abstürzen, du wirst ertrinken oder erfrieren.“
„Weißt du noch die Kanone. Ich hab dir gesagt, das funktioniert nicht. Geholfen hab ich trotzdem.“
„Aber …“ Fabian wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Wie die Helden seiner Kindheit, fühlte er sich an ein Versprechen gebunden. „Okay, ich helfe dir.“
Johannes umarmte ihn. Fabian spürte den bierwarmen Atem an seinem Hals, spürte das Zittern in der Brust.
Sie trafen sich vor der Scheune, als der Sturm abgeflaut war und die Wolken ohne Eile übers Meer segelten. Johannes schwankte unterm Gewicht seines Rucksacks, obenauf leuchtete eine Rettungsweste im lauen Sonnenlicht. Zum ersten Mal seit Wochen wirkte er fröhlich. Er winkte von weitem und umarmte Fabian zur Begrüßung.
Es brauchte seine Zeit, bis Fabian die Klappe zwischen welkem Gras und kratzigem Unkraut entdeckte. Er tastete über die raue Innenwand der Scheune und zuckte zurück, als sich ein Holzstück in seinen Finger bohrte. Blut perlte unterm Fingernagel, aber er fand den Schlüssel und zog den Splitter mit den Zähnen aus dem Fleisch.
„Warum hast du gerade mich um Hilfe gebeten?“, fragte Fabian, als sie in die Scheune traten. „Und nicht einen der anderen?“
„Du weißt, wo der Schlüssel ist.“
„Das weiß David auch.“
„Weil ich dir vertrauen kann.“
Die Flugvorbereitungen erschienen Fabian diesmal unwirklich schnell und die Weintraube wuchs im Zeitraffer. Schon warf Johannes Rucksack und Rettungsweste in den Korb und schwang sich selbst hinterher.
„Mach es nicht“, sagte Fabian. „Bitte. Bleib hier.“
Aber Johannes löste die Leinen und winkte zum Abschied und sein Gesicht, das endlich wieder Vertrauen in die Zukunft zeigte, wurde immer kleiner. Als der Ballon fast außer Hörweite war, rief Fabian ihm nach: „Schreib mir, wenn du angekommen bist.“
Zwischen verlassenen Ferienhäusern fuhr er nach Hause. Beim Abendessen versuchte er fröhlich zu sein und fühlte sich dabei wie ein Verräter. Er ging früh zu Bett, doch der Schlaf wollte nicht kommen. Stattdessen sah er Bilder vom Meer – eine kleine Gestalt kämpfte gegen die Wellen, spuckte Salzwasser und rief um Hilfe. Langsam erstarrten die Finger und Füße. Nach Johannes Tod fraßen Fische seine Lippen. Er erreichte Schweden mit grausigem Lächeln und fauligen Eingeweiden.
Am Morgen strahlte das Gesicht seiner Mutter Besorgnis aus. Sie erzählte vom Fischerboot, das Johannes gefunden hatte, fünfzig Meilen vor der Küste. Sie sagte, dass Johannes Glück gehabt habe, dass er mit leichter Unterkühlung im Krankenhaus behandelt wurde. Sie wunderte sich über den Heißluftballon, der bei der Rettung längst am Meeresboden lag, und wie er ihn alleine hatte fliegen können. Nach dem Mittagessen wollte sie Fabian zum Krankenhaus fahren.
Die Selbstverständlichkeit mit der seine Mutter den Besuch bestimmte, erschreckte Fabian. Vorgestern noch hätte er die Schule geschwänzt und wäre mit dem Bus zum Krankenhaus gefahren, aber jetzt … Wie sollte er ihm in die Augen sehen?
Während des Unterrichts sah Fabian aus dem Fenster. Krähen umflogen die Wipfel des Schulwaldes, Wolken zogen von links nach rechts. Letztlich war es seine Schuld – er hatte von Johannes Plänen gewusst und hätte sie verhindern müssen. Stattdessen hatte er den Schlüssel geholt und beim Start geholfen, hatte geschwiegen und niemanden um Hilfe gebeten. In der Pause sprach er flüchtig mit David, der vom Absturz wusste und gegen Abend ins Krankenhaus fahren wollte. Dann wanderte er an den Rand des Sportfeldes, wo sich die Außenseiter versteckten.
Im Krankenhaus setzte sich seine Mutter mit einem Buch ins Foyer und Fabian ging allein zu Johannes. Er klopfte an der Tür. Eine Altherren-Stimme rief ihn herein. Der Mann mit Zeitung und graumeliertem Seefahrerbart im Bett nickte großväterlich zur Begrüßung. Johannes, der mit dem Gesicht zum Fenster im Bett lag, reagierte nicht.
„Keine Sorge, der schläft nicht“, sagte der Seefahrer.
Johannes drehte sich um und bemühte ein Lächeln, als er Fabian erkannte.
„Du bist schnell mit deinem Besuch.“
„Meine Mutter hat mich hergefahren.“
„Nett von ihr.“ Er wuchtete sich aus dem Bett.
„Wir können auch hier bleiben“, sagte Fabian.
„Ich bin nur zur Kontrolle hier. Ich kann gehen wohin ich will.“
Johannes warf sich einen Bademantel über und sie liefen durch Korridore, die überfüllt waren mit Pflegern, die Patienten in ihren Betten von Untersuchung zu Untersuchung schoben, mit Familien auf dem Weg zur ihren Liebsten. In den Gesichtern konnte Fabian die Diagnose lesen – Lachen für Beinbrüche und Blinddarmoperationen, Schweigen für Krebs. Sie setzten sich in die Cafeteria und tranken Kaffee, der wie gekochte Druckerschwärze schmeckte.
„Ekelhaft“, sagte Fabian.
„Das Frühstück ist nicht besser. Staubtrockene Brötchen und die Marmelade ist viel zu süß.“
Zwei Tische weiter unterhielt sich ein Student mit seiner Freundin. Obwohl er in einem Rollstuhl saß, an dessen Armlehne ein Katheterbeutel hing, und blutige Schlieren den Urin durchzogen, lachten die beiden viel und fütterten sich gegenseitig mit bröseligem Kuchen. Fabian beneidete sie um ihre Sorglosigkeit.
„Weißt du schon, wann sie dich entlassen?“, fragte er.
„Vermutlich morgen.“
„Ah, gut.“
„Schon. Der Alte geht mir jetzt schon auf die Nerven. Ich mein, er ist nett und so. Aber er schnarcht wie sonst was.“
Das Studentenpärchen verließ die Cafeteria, sie schob seinen Rollstuhl. Noch immer scherzten sie und warfen sich schelmische Blicke zu, ihr Lachen klang hell wie Silbergeld.
„Genau wie Phil damals im Schullandheim.“
„Was meinst du?“
„Das muss du doch noch wissen. In der fünften Klasse sind wir in dieses Schullandheim im Harz gefahren. Wir vier haben uns ein Zimmer geteilt. Und Phil hat geschnarcht als wollte er Bäume fällen. In der zweiten Nacht hat es uns gereicht und wir haben ihm Cola in den Mund gekippt. Er hat eine halbe Stunde gebraucht, um sich die Lungen frei zu husten.“
„Kann schon sein.“ Kein Wiedererkennen erhellte Johannes Gesicht, die Augen blieben leer.
„Wirklich, es war so.“
Johannes sagte, er sei müde, und sie kehrten auf sein Zimmer zurück. Der alte Mann war verschwunden. Zum Abschied wollte Fabian Johannes umarmen, aber er traute sich nicht – zu elend wirkte sein Freund im Nachthemd, zu verlassen von der Welt. Und auch die Entschuldigung, die seit dem Morgen in ihm brannte, kam nicht über seine Lippen.
Ohne Heißluftballon hatte die Scheune ihren Zauber verloren. Die Kisten und Körbe und Plastikballen bargen keine Geheimnisse mehr, sondern Schrott und Plundern. Auf den Oberflächen wucherten Staubgewächse, bis eines Tages alles unter wattig-weichem Flaum versinken würde.
Phil und David saßen am Rand des Zwischenbodens und ließen die Beine baumeln, während Fabian hinter ihnen im Stroh lag. Sie schwiegen und tranken Bier und warfen die leeren Flaschen in die Tiefe, wo sie zerplatzten wie Artilleriegranaten und die Splitter prasselten gegen die Plastikplanen und Holzbretter. Fabian fühlte sich unwohl. Der Geruch des Strohs verstopfte seine Nase und die Halme stachen ihm in Nacken und Hinterkopf.
„Hat sich Johannes bei euch gemeldet?“, fragte Phil und David schüttelte den Kopf.
„Das macht mich total fertig. Ich weiß nicht, was mit ihm ist. Er geht nicht an sein Handy.“
„Auf meine Mails hat er auch nicht geantwortet.“
„Und klingeln bringt eh nichts. Das Haus sieht schon total verlassen aus, als würde da niemand mehr wohnen. Ich mein, der Garten verwildert total.“
Fabian überlegte, wie er das Gespräch beenden konnte – noch war es nicht zu spät, noch konnte die Schuldfrage vermieden werden. Aber ihm fiel nichts ein und so lag er im Stroh und wartete auf den Untergang.
„Ich versteh ihn einfach nicht“, fuhr Phil fort. „Ich mein, das mit seinem Vater kapier ich schon. Das ist total scheiße und auch das mit seiner Mutter. Da wäre ich auch total am Ende. Aber warum will er mit uns nichts mehr zu tun haben? Dafür sind Freunde doch da. Zum Helfen.“
„Ich frag mich, weshalb der Ballon“, sagte David. „Er hätte doch einfach so weglaufen können.“
Phil schwieg und die Atmosphäre kippte ins Feindselige. Doch David leerte unbekümmert sein Bier und warf die Flasche in die Tiefe.
„Warum haste ihm geholfen?“, fragte Phil.
„Hab ich nicht.“
„Lüg nicht. Nur du weißt, wo der Schlüssel ist.“
„Ich war’s nicht.“
„Scheiße, was sollte das? War doch klar, dass er’s nicht schafft. Mit dem Ballon nach Schweden. Was für ein Schwachsinn, was für ein Müll. Und du Arsch hast ihm geholfen. Fuck, hättest ihn auch gleich ertränken können.“
„Warum denn? Er lebt noch.“
Am liebsten wäre Fabian kotzen gegangen, die Galle hätte die Gedanken aus seinem Kopf gewaschen; die Welt bestünde nur aus Magenkrämpfen und dem bitterem Geschmack in seinem Mund. Doch es war an ihm die Wahrheit zu sagen, denn David schwieg und ein Grinsen zuckte in seinen Mundwinkeln, die spöttische Aufforderung, diese Farce doch endlich zu beenden. Aber Fabian konnte nicht, Phil würde ihn hassen. Also sprang er auf und hastete die Leiter hinunter. In der Eile verfehlte er eine der Sprossen, fiel, schlug hart auf den Boden. Der Schmerz lähmte ihn, er bekam keine Luft. Dann setzten seine Lungen wieder ein, holpernd und hastig, und er floh aus der Scheune. Was David ihm nachrief, verstand er nicht.
Seine Tage wurden einsam. Zwar sprach er in den Schulpausen mit David und Anna, flüchtige Gespräche über Noten und Lehrer, einen Ausflug der beiden in die Stadt, aber die meiste Zeit saß er schweigend im Unterricht und nach dem Mittagessen ging er allein zum Strand. Er wanderte die Brandungslinie entlang, bis er keinen Spaziergängern mehr begegnete und keinen Hunden. Dann suchte er Schutz zwischen den Dünen und beobachtete die wenigen Möwen bei ihren Flügen übers Meer.
Wenn er auf dem Heimweg an Johannes Haus vorbei kam, blieb er stehen und hielt Wache vorm verwilderten Garten, wo der Rasen unter Laub und abgebrochenen Ästen verschwand und Unkraut auf den Beeten faulte. Im Elternschlafzimmer glommen die Kontrolllampen der medizinischen Geräte und Fabian überkam die Vorstellung, dass dort Johannes lag statt seinem Vater, mit Schläuchen in Bauch und Nase, das Gesicht wächsern wie bei Schneewittchen. Fabian wollte ihn wecken, doch er klingelte nie.
Bei den wenigen Begegnungen mit Phil, versuchte Fabian ihm auszuweichen.
„Biste jetzt wie David, oder was?“, rief Phil ihm nach, als er aus dem Supermarkt floh.
Er blieb stehen und Phil schloss auf.
„Eigentlich wollte ich nur sagen, dass ich bald abhaue. Ich kann bei meinem Vater in Hamburg wohnen.“
„Cool.“
„Ja, total. Endlich mal was anderes als dieses Kaff.“ Phils Begeisterung klang wenig überzeugend.
„Wann findet der Umzug statt?“
„Nächste Woche.“
„Braucht ihr noch Hilfe?“
„Danke, wir schaffen das schon.“
Sie verabschiedeten sich freundschaftlich, aber mit der Gewissheit, sich nie wiederzusehen.
Weil seine Mutter immer häufiger fragte, warum er die Abende zu Hause verbrachte und nicht mit seinen Freunden, ging Fabian ins Wirtshaus. Unter fettig gelben Lampen tranken und lachten die Männer des Dorfes. Seit dem Ende der Saison hielt sich niemand mehr ans Rauchverbot und Zigarettenqualm füllte den Schankraum wie Nebel. Fabian setzte sich an einen der Tische. Ein gemeinschaftliches Nicken zur Begrüßung und er war Teil der Runde. Der Wirt brachte ihm Bier und Erdnüsse. Als er betrunken nach Hause taumelte, war Fabian ein Anderer. Die Zeiten von Drachenfliegen und Heißluftballons waren vorbei.