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Wie kleine weiße Vögel
Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Armbanduhr ihres Sitznachbarn - gleich sieben Uhr - und klappte das Buch zu, in dem sie bis eben gelesen hatte. Ihr Blick wanderte aus dem Fenster. Die Landschaft draußen lag unter dem Schleier der Dämmerung. Es wurde jetzt zwar schon erheblich später dunkel, aber die Temperaturen waren, vor Allem abends, immer noch fast winterlich. Sie presste ihre Stirn gegen die kühle Scheibe und sah die grauen Häuser der Großstadt vorbeiziehen, eins nach dem anderen. Sah vereinzelt kümmerliche Bäume und hier und da eine verwaiste Bank, die schon bessere Zeiten gesehen hatte.
Er sah sie an. Saß einfach nur ganz ruhig da, ihr schräg gegenüber, und sah sie an. Schön war sie, und er wusste nicht warum, aber sie berührte ihn. Ihre ganze Art berührte ihn auf seltsame Weise. Er richtete sich ein wenig auf, um einen Blick auf den Titel des Buches zu erhaschen, das in ihrem Schoß lag. Wer die Nachtigall stört. Er hatte das Buch noch nicht gelesen, aber davon gehört. Ob sie es mochte? Wahrscheinlich, sie war fast fertig damit. Und man las doch keine Bücher bis zum Schluss, die man überhaupt nicht leiden konnte. Aber vielleicht war sie ja so ein Mensch, der alles zu Ende bringt, was er anfängt. Oder sie musste es für die Schule lesen.
Er betrachtete ihre langen, dunkelblonden Haare, die leicht gewellt über die Schultern fielen. Einige Strähnen darin waren heller und glänzten wie Gold. Ihre Haut war blass, die Wangen und die Nasenspitze jedoch gerötet von der Kälte.
Wie hübsch sie war.
Sie lehnte sich langsam zurück und seufzte leise. Wenn sie zu Hause war, würde sie das Geheule ihres kleinen Bruders ertragen müssen. Und bei dem Gedanken an die Mathearbeit morgen durchlief sie ein leichtes Schaudern. Sie hatte noch gar nichts gelernt, vielleicht hätte sie doch lieber nicht in die Stadt fahren sollen. Aber jetzt war es zu spät.
Sie betrachtete die anderen Leute in der Bahn. Die junge Frau neben ihr, das Pärchen auf der anderen Seite, das alte Ehepaar mit den Einkaufsbeuteln und den jungen Mann mit der Aktentasche. Über all diese Menschen wanderten ihre Augen. Und trafen sich für einen kurzen Augenblick mit einem anderen, eisblauem Augenpaar, nur um dann für eine Weile auf dem alten Herrn ihr gegenüber zu verweilen, und schließlich wieder aus dem Fenster zu blicken. Sie schmunzelte bei dem Gedanken, dass all diese wildfremden Personen für eine kurze Zeit genau denselben Weg hatten wie sie.
In dieselbe Richtung fuhren.
Erschrocken blickte er zu Boden. Und schalt sich im nächsten Moment einen Feigling. Da sah sie ihn schon mal an, und er brachte nicht einmal ein kleines Lächeln zu Stande. Vorsichtig blickte er auf. Sie sah wieder aus dem Fenster. Ihre Augen waren wundervoll, ganz bernsteinfarben und klar, fast gelb. Tigeraugen.
Sie trug dreckige Turnschuhe und Jeans, und eine dunkelblaue Jacke. Um den Hals hatte sie einen bunten Schal geschlungen, so dick, dass gerade so eben das Kinn herausguckte. Wie sich wohl ihre Stimme anhörte? Und ihr Lachen…Sie sah bestimmt sogar wenn sie weinte hübsch aus. Ihre Gesichtszüge waren weich und sahen ein wenig kindlich aus, vor allem aber freundlich und offen, und ein klein wenig verträumt.
Belustigt stellte sie fest, dass sie sich grade unwahrscheinlich wohl fühlte. Aber das ging ihr öfter so, wenn sie in der Bahn oder im Bus saß. Irgendwie fühlte es sich dann so an, als würden alle zusammengehören, zwar jeder mit sich und seinen Gedanken, Geheimnissen und Gefühlen alleine, aber doch zusammengehörig. Sie hatte sich schon oft überlegt, woher das kam. Vielleicht erweckte die Bewegung der Bahn, die sie alle im selben Takt hin und her schaukeln ließ, diesen Eindruck.
Aber nur das konnte es nicht sein, denn allein schon ein einziger Mensch konnte die Harmonie zerstören. Das musste noch nicht einmal ein unsympathischer Mensch sein, es reichte schon, wenn er ganz einfach nicht…passte.
Inmitten dieser Gedanken hielt die Bahn an, und sie stand hastig auf, um auszusteigen.
Vor ihr war ein dunkelgrüner Rucksack gegen den Sitz gelehnt, in dem sie jetzt das Buch verstaute. Dabei konnte er ihre Hände genauer betrachten. Die Finger waren lang und dünn, und von den Fingernägeln blätterte dunkelroter Nagellack ab. Ihm war aufgefallen, dass ihre Hände niemals völlig ruhig, sondern ständig in Bewegung waren. Wie kleine Vögel. Wie kleine weiße Vögel, die das Fliegen lernen wollen. Und er saß stumm da und sah sie an, ihre Finger, ihre Haare, ihr Gesicht, die Art, wie sie sich bewegte. Er nahm alles in sich auf und verstaute es irgendwo tief in seinem Bewusstsein.
Dann kam ihm völlig ohne Vorwarnung die Erkenntnis, dass sie ja auch irgendwann aussteigen musste. Er hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, als die Bremsen quietschten.
Und die Bahn hielt an…
Auf dem Weg zur Tür stieß sie gegen das Knie eines Jungen, ziemlich heftig. Hastig murmelte sie eine Entschuldigung. Draußen setzte sie ihren Rucksack auf und zog den Schal noch höher ins Gesicht. Sie musste wirklich besser aufpassen, andauernd lief sie gegen irgendjemanden, dass wurde ja langsam unangenehm.
Der Wind blies ihr kalt und unbarmherzig ins Gesicht, und sie beschleunigte ihre Schritte. Nach Hause, erst etwas essen, denn sie hatte riesigen Hunger, und dann ins warme Bett.
Sie stand auf und im Vorbeigehen stieß sie gegen sein Knie. Er hörte ein leises „Oh, Entschuldigung“ und dann war sie weg. Die Türen schlossen sich hinter ihr und die Bahn fuhr weiter. Er sah noch, wie sie um eine Ecke bog und dann vollends aus seinem Blickfeld verschwand. Wahrscheinlich für immer.
Er schloss die Augen und lehnte sich zurück.