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Wie Rudolf die rote Nase bekam
„Mann, wie Du wieder aussiehst!“, sagte das Rentier.
„Ung!“, stöhnte der Weihnachtsmann.
„Hast Du wieder in Deinen Klamotten geschlafen? Wie soll ich eigentlich die Falten da raus kriegen!“, zürnte das mit einer Schürze bekleidete Tier.
„Sei leise“, flüsterte der Weihnachtsmann mit schmerzverzerrtem Gesicht.
„BIN ICH DIR ZU LAUT?“, brüllte ihm Rudolf ins Ohr.
„Jedes Jahr erzähle ich Dir, Du sollst nur, und zwar NUR die Milch trinken und von den Keksen knabbern. Aber nein, der hohe Herr hört ja nicht auf mich. Warum auch. Ich bin ja nur die Haushaltshilfe. Ein Wunder, dass ich den Schlitten ziehen darf.“
Rudolf stand erbost schnaufend vor dem jämmerlich aussehenden Weihnachtsmann. „Bestimmt hast Du wieder alles gesoffen, was Dir vor den Bart kam. Apropos Bart, was sind das für Krümel? Ich hoffe doch, nur Keks.“
Der Weihnachtsmann starrte auf seinen Bart. Zumindest ein Auge. Das andere versuchte noch immer, das Rentier zu fokussieren.
„Und dieser Geruch. Örks!“
Der Geruch war tatsächlich eine Sache für sich. Er war so stark, dass er schon eine eigene Persönlichkeit zu haben schien.
„Mir wird schlecht. Los, ab in die Dusche!“
Der Weihnachtsmann versuchte sich stöhnend aufzurichten. Rudolf half ihm, und zerrte ihn dann mit sich in das Badezimmer. Dort stellte er ihn in die Dusche, wo der Weihnachtsmann sofort zu Boden sank.
Rudolf drehte den Kaltwasserhahn voll auf und wurde mit einem halb gegurgelten Schreckensschrei belohnt. Das Ren grinste böse.
„Na, wirst Du langsam wach?“ fragte es scheinheilig. Der Weihnachtsmann starrte böse mit rotgeränderten Augen zu dem Rentier hoch.
„Mach mir einen Kaffee!“, verlangte der Weihnachtsmann.
Rudolf verschränkte die Vorderläufe vor der Brust und tippte mit dem Huf auf den Boden. Stille breitete sich aus, nur untermalt von der laufenden Dusche. Rudolf zog eine Augenbraue hoch. Langsam dämmerte dem alkoholgetränkten Weihnachtsmann, das etwas nicht stimmte. „Bitte?“, sagte er.
Rudolf wandte sich wortlos ab und stapfte in die Küche. Dort kochte er erst mal für sich einen doppelten Espresso; denn so ganz nüchtern war er letzte Nacht auch nicht nach Hause gekommen.
Während dessen versuchte der langsam wach werdende Weihnachtsmann sich zu erinnern, was eigentlich passiert war, bevor er unter der Dusche zu sich gekommen war. Bruchstückhafte Erinnerungen zogen durch den Alkoholnebel in seinem Gehirn. Hatte er wirklich in einem der Häuser, schon stark von Cherry und Eierpunsch und Weinbrand und ... (oh Gott ist mit schlecht) angeheitert, eine ganze Flasche Whiskey getrunken?
Vermutlich; denn danach versank alles in einem rosigen Dunst, aus dem gelegentlich Erinnerungsfetzen auftauchten, die dem alten Mann nachträglich die Schamesröte ins Gesicht trieben.
Hatte er wirklich in einer Bar an einer Stange getanzt?
Hatten ihm wirklich Frauen Geld in die Hose gestopft?
Er fasste behutsam nach unten. Es knisterte verdächtig, wenn auch etwas feucht. Prustend richtete sich der Weihnachtsmann auf. Nachdem er die Wand nicht mehr vor dem Umfallen, durch intensives Festhalten, bewahren musste, drehte er die Dusche ab und griff nach einem Handtuch. Irgend etwas war nach dem Besuch dieser Bar geschehen.
Und warum erschrak er beim Gedanken an einen Eimer Lackfarbe?
Und weshalb trug er einen Damenstrumpf als Schal?
Indessen rumorte Rudolf in der Küche herum, trank seinen Espresso und brühte eine große Kanne teerschwarzen Kaffees. Darin löste er zwei Aspirin auf. Langsam tat der Espresso seine Wirkung und Rudolfs Kopfschmerzen ließen nach.
Jetzt führte er schon seit fünzig Jahren den Haushalt für den Weihnachtsmann, nach dem die Frau des Weihnachtsmannes sie verlassen hatte.
Und jedes Jahr das gleiche Spiel: Rudolf ging mit seinen fünf Kumpeln noch gemütlich einen Trinken, nachdem alle Pakete ausgeliefert waren. Und der Boss, nach den ungezählten Spirituosen ohnehin nicht zurechnungsfähig, seilte sich irgend wohin ab.
Jedes Jahr mussten Rudolf und seine Kumpel ihn irgendwo wieder aufsammeln. Manchmal in einer Bar, manchmal auf einer Parkbank und manchmal in einem Polizeirevier. Das war immer das Schlimmste; denn um diese Zeit hatten etwa dreissig Prozent der nächtlichen Ruhestörer ein Weihnachtsmannkostüm an. Rudolf und seine Freunde hatten mehr als einmal feststellen müssen, dass sie den Falschen zum Nordpol mitgenommen hatten.
Dieses Jahr war es besonders schlimm gewesen. Wegen des Jahrestages. Fünzig Jahre ohne Frau. Der alte Mann war schon vor dem Aufbruch fürchterlich sentimental und mit jedem Besuch, und jedem Glas Alkohol, wurde es schlimmer.
Kurz vor Ende der Tour hing der Weihnachtsmann Rudolf um den Hals und lallte:“ Du biss der bste FFFFreund, dennich happ. hicks. Ein ekter....hechter.....echter Kumumpel. Kumpel, ´mein ich. Hack dich lieb.“
Es war sooo peinlich.
Nach der Tour gingen Rudolf und die anderen noch in ihr Stammlokal „Zum goldenen Elch“, während der Weihnachtsmann wie üblich klammheimlich in der Nacht verschwand. Verdammte Magie. Wer in Schornsteine passt, kann sich natürlich auch einfach davonschleichen.
Diesmal hatte Rudolf gehörig Frust. Und Durst. Und Frust. Und Durst. Und ... keine Ahnung, wie er nach Hause gekommen war.
Heute Morgen wurde er wach, weil der Weihnachtsmann schnarchte wie eine Dampflok mit Asthma. Nach dem das Ren einige Aspirin heruntergespült hatte, setzten langsam wieder Lebenszeichen ein. Übelkeit, Kopfschmerzen, Reue.
Der Anblick des Weihnachtsmannes allerdings machte ihn schlagartig nüchtern. Völlig verknautscht, mit Lippenstift bedeckt und mit einem Damenstrumpf als Schal. Ärger schwappte wieder in Rudolf hoch, als er daran dachte.
Er renkte sich den Hintern aus, um irgendwie die Weihnachts-Verteil-Tour auf die Reihe zu kriegen, und der Boss soff sich die Hucke voll. Jedes Jahr. Und jedes Jahr schlimmer.
Irgendwie hatte diesmal allerdings wohl der Frust bei Rudolf alle Hemmungen beseitigt, und er hatte sich ebenfalls, sagen wir mal ... sinnlos vollaufen lassen. Irgend jemand musste ihn und den Weihnachtsmann eingesammelt und hierher gebracht haben. Außerdem juckte seine Nase.
Der Weihnachtsmann setzte gerade im Bad mühsam ein mentales Puzzle zusammen, das als Hauptmotive einen Eimer Farbe, völlige Enthemmung durch Alkohol und einen Hang zur künstlerischen Entfaltung enthielt.
„Rudolf“, brüllte er, nur um gleich darauf schmerzlich das Gesicht zu verziehen.
„Komm mal her!“, sagte er in normalem Ton.
„Was ist denn?“, fragte der Angesprochene.
„Komm doch bitte mal her.“
Rudolf stapfte mürrisch -seine Kopfschmerzen hatten wieder eingesetzt- in das Badezimmer.
Der Weihnachtsmann lächelte.
„Sag mal“, begann er, „hast Du mich gestern eingesammelt und nach Hause gebracht?“ Rudolf nickte zögernd. Hatte er vielleicht doch ...
Der Weihnachtsmann begann süffisant zu grinsen.
„Dann erklär mir doch bitte mal, warum ich einen Damenstrumpf als Schal trage, Du einen Tanga und vor allem: warum Du eine rote Nase hast?“