Winter im Dorf (II. Weltkrieg)
Der Himmel starrte mich aschfahl an und berieselte mich mit feinen Schneeflocken. Unter meinen Füßen knirschte die dicke Schneedecke und erstickte meine Trittgeräusche. Wir gingen durch eine Allee, an deren rechter Seite eine umgefallene Eiche den Weg versperrte. Wir waren erschöpft und wollten einfach nur weiter, aber der Wagen würde hier nicht vorbei können, dazu müssten wir schon den Baum bei Seite schaffen.
„Was machen wir jetzt, Papa?“, fragte Katharina ängstlich.
„Ich weiß nicht, Liebes, wir kommen hier schon noch wieder raus.“
Meine Frau starrte mich an und ich wusste, dass sie alle Hoffnung verloren hatte. Ihre Augen waren nur noch so leer wie diese Weiten und es fehlte nicht mehr viel und ihr wären Tränen die Wangen hinunter gerollt.
„Es geht schon, wir haben einen guten Vorsprung, sie werden uns nicht einholen.“, bestärkte ich beide. Ich sah ihnen noch einmal tief in die Augen und nickte ihnen zu, dann wandte ich mich wieder der Eiche zu. Ich wischte mit einer schnellen Armbewegung den Schnee von ihr herunter und erkannte, dass es ausweglos war, ich könnte sie niemals verrücken. Auch unsere zwei Pferde würden sich mit diesem Hindernis schwer tun.
Ich stand aus meiner Hocke wieder auf und sah, dass in einem der wenigen Häuser in diesem Dorf noch ein flackerndes Licht brannte.
„Wir sollten dort einmal nachsehen, vielleicht kann uns jemand helfen.“, sagte ich.
„Lasst uns lieber weiter gehen, wir können hier niemandem trauen.“, warf meine Frau ein. Sie hatte wohl Recht, aber wir konnten nicht unser gesamtes Hab und Gut hier zurücklassen und nur das Nötigste auf unsere Pferde umladen.
„Ich werde kurz durchs Fenster schauen, um zu sehen, wer dort ist.“, sagte ich und wandte mich schon zum Gehen.
„Warte, wir kommen mit.“, sagte Katharina.
„Nein, besser nicht, Kleine, wenn mir etwas passiert, müsst ihr schnell verschwinden.“ Es war hart, aber ich wusste nicht, wie ich es anders sagen sollte. Ich hatte selber Angst und ich war noch nie gut darin gewesen, es zu verbergen.
Meine Frau wollte etwas sagen, aber ich legte ihr den Zeigefinger auf den Mund und sagte:
„Ich komme wieder.“
So stapfte ich durch den Schnee auf das schneebedeckte Haus zu, das vielleicht einmal ein Dutzend Menschen beherbergt haben mochte. Nun würde ich wohl nur noch die Alten und Schwachen anfinden, die zu gebrechlich waren, die weite Reise auf sich zu nehmen. Ich lehnte mich an die Holzmauer und näherte mich dem Fenster, aus dem der Lichtkegel trat. Der Winter hatte es mit feinen Blumenmustern versehen und so war mir die Sicht erschwert. Ich erkannte zwei Personen, nein, drei sogar, sie saßen alle um einen runden Tisch herum und schienen Karten zu spielen. Von Zeit zu Zeit drang ein derbes Gejohle nach draußen, das keinen Zweifel daran ließ, wer dort im Raum saß; Es waren Wehrmachtsoffiziere. Nun erkannte ich den Tisch näher und sah eine grau glänzende Luger-Pistole auf ihm liegen.
Wir mussten hier weg, und zwar auf der Stelle. Nun schwebten wir in größter Gefahr, wenn sie uns erwischten, dann würden sie uns töten.
Ich stieß mich von der Wand ab und hörte gerade noch wie jemand im Innern sagte:
„Ich geh pissen.“
Ich beschleunigte meine Schritte und wollte mich gerade hinter den Zaun ducken, als hinter mir jemand rief:
„Bleiben Sie stehen, dies ist Kampfgebiet.“
Ich vereiste auf der Stelle und konnte mich nicht mehr bewegen, nun war es aus, nun würde ich sterben.
„Drehen Sie sich um.“
Sollte ich rennen?
Ich hörte, wie die Tür ein weiteres Mal sich knarrend öffnete und wusste, dass nun keine Chance mehr bestand zu entkommen.
„Haben Sie nicht gehört? Drehen Sie sich um, oder ich erschieße Sie!“
Ich hob meine Hände über den Kopf und wandte mich ihnen zu.
„Bitte, schießen Sie nicht.“
Mein Gesicht nahm die Farbe des Schnees an und auch die Kälte schien auf mich überzugehen.
Die Deutschen waren vielleicht fünfundzwanzig, auf jeden Fall nicht älter als dreißig. Der eine trug eine Wehrmachtsuniform und der andere schien von einer Panzerdivision zu sein. Sein braunes Haar fiel fettig auf seine Schultern ab.
„Fahnenflüchtig, nicht wahr?“, fragte der eine.
„Ich bin Deutscher…ich…ich habe Familie.“
„Sie wissen, was wir mit Fahnenflüchtigen machen. Stell ihn an die Wand, Adi.“
Er schnippte kurz mit seinem Finger und der andere lief auf mich zu.
Renn!
Rette dein Leben!
Aber ich war angefroren auf dem Schnee und konnte nicht mehr klar denken. Er packte mich an meinem linken Arm und zerrte mich hinter den Schuppen und stieß mich gegen die zersplitternden Holzbalken.
„Gesicht zur Wand!“, befahl er.
Ich hörte am Knirschen des Schnees, dass er Abstand nahm. Kurz darauf hörte ich, wie etwas einrastete und ich wusste, dass er anlegte.
Ich schloss mit meinem Leben ab und betete zu Gott, dass sie meine Frau und meine Katharina nicht entdecken würden.
Eisige Tränen rannen meine Wangen hinunter und ich hörte, wie etwas pfeifend durch die Luft raste. Erst ganz leise und aus weiter Entfernung.
War dies die Kugel? Hörte ich schon alles in Zeitlupe?
Das Pfeifen verstummte, doch ich fühlte nichts. Neben dem Haus detonierte etwas und riss mich zu Boden. Meine Ohren versagten ihren Dienst und die Umgebungsgeräusche wichen einem endlosen Piepen, das von meinen Herzschlägen unterbrochen wurde.
Ich wartete immer noch auf mein Ende.
Vorsichtig drehte ich mich um und sah den Deutschen Soldaten am Boden liegen. Er schien zu schreien, aber ich hörte nichts. Etwas war zwischen den Bäumen eingeschlagen und hatte sie zerfetzt.
Eine neuerliche Explosion, diesmal weiter entfernt, irgendwo im Wald.
Artilleriefeuer.
Die Russen kommen.
Ich ging um den Schuppen herum und kroch hinter der Hecke entlang, damit mich der andere Soldat nicht sehen konnte. Langsam kehrte mein Gehöhr wieder und ich vernahm weitere Einschläge. Ich kam wieder auf die Allee zurück und sah mich zu allen Seiten um. Rechts stand immer noch unser Wagen, aber meine Frau und Katharina mussten in Deckung gegangen sein. Zu meiner Linken sah ich das Haus, in dem die Soldaten waren, aber niemand war zu erkennen. Ich ging gebückt auf unseren Wagen zu und erkannte, dass eines unserer Pferde von einem Splitter erwischt worden war und am Boden mit dem Tod rang. Der Schnee färbte sich unter ihm tief rot und ließ meinen Magen rebellieren. Ich musste das andere Pferd beruhigen, da es sonst sich selbst verletzen würde.
„Seid ihr hier?“, flüsterte ich.
Ich sah, wie sich hinter einem Busch etwas regte und gleich darauf erschienen die Beiden. Katharina war kreidebleich und ausdruckslos. Meine Frau versuchte ihre Tränen zu trocknen.
„Wir dachten du seist tot.“, schluchzte sie.
Ich schloss sie beide in die Arme und befreite unser Pferd vom Wagen.
„Wir müssen ohne unsere Sachen weiter gehen, die Russen kommen und einige Deutsche sind auch noch hier.“, sagte ich.
Ich hob die regungslose Katharina auf das Pferd und half meiner Frau hinauf.
„Wo sollen wir denn hin?“, stammelte sie.
„Ich weiß es nicht, aber wir müssen auf jeden Fall fort von hier. Ich werde neben euch her gehen.“
Wir setzten uns in Bewegung und gingen querfeldein durch den nachgebenden Schnee weiter, da wir sonst an dem Haus hätten vorbei kommen müssen.
„Was sollen wir unterwegs essen?“, fragte meine Frau nach einer Weile und brach die Stille.
Ich wusste es nicht und schwieg. Wir tauchten in die Wälder ein und stiegen einen kleinen Hügel hinauf. Der Tag war im Vergehen und Dunkelheit senkte sich über diese Länder.
Würde es hier Minen geben?
Ich verdrängte alles, würde mir keine Fragen stellen.
Auf der Kuppe blickte ich zurück und sah, dass das Dorf in Flammen stand. Die Deutschen mussten schon tot sein.
Die Feuer zerrieben die Holzhäuser zu Asche.
Die Russen waren schnell.
Wir mussten weiter.