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Winterurlaub

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21.10.2001
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Winterurlaub

Schweiß flutete in unzähligen Rinnsalen über die kanalisierte Erstarrung seiner Stirn. Hier am Fenster gelang es ihm gerade noch den entscheidenden Atemzug einzuholen. Einatmen, ausatmen, einatmen. Begreifen, fühlen, daß man noch lebt. Der Widerschein des Feuers erlosch nur langsam, wirr noch flackerten die Augen vom verblassenden Traum und rauchig lag geschmolzenes Metall auf der Zunge. Ein einsamer Schrei raste durch die Straßen, verlief sich in den engen Häuserschluchten. Einatmen, ausatmen.
Müde wischte er sich die Augen. Wie in den vorangegangenen Nächten hatten ihn die Visionen eingeholt. Aus dem leise wogenden Nebel verschwommener Konturen und Geräusche, mit dem alles angefangen hatte, waren mit jedem Mal immer deutlichere Bildfetzen hervorgetreten, hatten sich zu gespenstischen Sequenzen verbunden, bis er nun alles ganz klar vor sich sah: die angstverzerrten Gesichter, die ohnmächtig brüllenden Schreie, verschluckt vom Donner der Feuerwalze und das Verlöschen im alles erstickenden schwarzer Qualm. Und er wußte, daß es geschehen würde. Bald. Sehr bald.

Mit dem Atmen kamen auch die Erinnerungen wieder. Die seltsamste davon war noch immer - sie. Ein Lächeln huschte über das schattige Terrain zwischen Nase und Kinn. Aufgefallen war sie ihm schon oft. Immer wenn er sich seine Medikamente verschreiben lassen mußte, saß sie regungslos auf ihrem Platz, gleich links neben der Tür. Und immer waren die Stühle neben ihr frei geblieben, wie von einem Niemandsland umgeben, selbst wenn die Praxis völlig überfüllt war. Alles Lebendige schien in Ahnungen vor ihr zurückzuweichen, als wäre sie ein schwarzes Loch, das alles Warme und Pulsierende wie eine Dunstabzugshaube ins Nirwana bläst. Aber sie saß einfach nur dort. Hin und wieder beugte sie sich langsam nach vorn und dann wieder zurück. Minutiös, fast beruhigend. Und er hatte gelernt, ihr zuzuschauen und diese absonderlichen Momente der Ruhe zu genießen, auch wenn ihn die Trostlosigkeit dieses Anblicks manchmal schauderte.
Er hatte seinem Arzt gestehen müssen, daß selbst der mittlerweile dritte Versuch, diese Erscheinungen zu behandeln, fehlgeschlagen war. Die so vielgerühmten hochdosierten Tranquilizer hatten überhaupt keine Wirkung gehabt. Wofür er nichts konnte. Nur daß dieser Mediziner es wohl als Therapieverweigerung verstand und darüberhinaus noch sehr persönlich nahm. Anders konnte er sich dessen Reaktion nicht erklären. Ungläubig, fast verzweifelt, wiegte er den Kopf, murmelte ununterbrochen: "Das kann nicht sein. Das kann gar nicht sein. Das kann überhaupt nicht sein!" Seine Gesichtszüge veränderten sich dabei in keiner Weise, aber in seinen Augen erschien ein verhaltenes Funkeln, als wäre in einer Schneekugel der Bodensatz zu sehr bewegt worden. Erstaunlich freundlich war das nächste, was er dann sagte: "Bitte gehen sie jetzt! Ich habe alles versucht, was möglich war. Ich kann nichts mehr für sie tun. Sie sind offenbar ein genauso hoffnungsloser Fall wie dieses wandelnde depressive Nichts dort draußen." Sein Finger wies fast abwinkend auf die Tür zum Wartezimmer. "Wenn sie alles besser können als die Schulmedizin, versuchen sie sich doch mal daran!" Er knallte zwei dicke Aktenordner auf den Tisch. "Ich gratuliere! Sie haben sie soeben adoptiert. Viel Spaß!" Mit einem süffisanten Lächeln fiel der Arzt sichtlich erleichtert in den Sessel zurück. In dessen flackernden Augen schienen jahrelang ruhende Sedimente eines versteckten Wahnsinns in Wallung geraten zu sein: "Wollen sie noch einen Rat? Walther P88, Kaliber 9 ... Medulla oblongata in den Nachthimmel pusten und Stern werden ... für ewig träumen" und brach augenblicklich in ein irres Gelächter aus.
Er hatte sie an die Hand genommen und sie war ihm ohne jeden Widerstand gefolgt. "Wo wohnst du?" hatte er sie gefragt und sah ihr zum ersten Mal in die Augen. Augen? Als hätte jemand vergeblich versucht, aus Rost, Asche und Staub zwei Diamanten zu pressen, fand er dort nur noch eine verwitterte Inschrift: >Schon lange nicht mehr auf dieser Welt.< "Und was tust du?" - "Ich versuche zu sterben" hatte sie nüchtern entgegnet. Die beiden Ordner des Versuchens trug er mit sich. Säuberlich abgeheftete Verzweiflung im Kilogramm. Ihm war nichts anderes eingefallen, als dagegenzuhalten: "Irgendwas machst du doch falsch, oder?" - "Ich werde geliebt." Sie hatte seine zunehmende Befremdung registriert und erklärt: "Es würde ihnen das Herz brechen, meinen Eltern, wenn ich mich selbst töten würde. Es wäre falsch. Ich muß leben, ihnen zuliebe. Weiter. Immer weiter." Er hatte sie angesehen und wurde sich bewußt, wie unendlich jung sie war und in Gedanken sah er die endlosen Reihen von Aktenordnern vor sich. Eine Biografie voll von Leere, wo jeder Buchstabe nur das Nichts zwischen dem Nächsten rahmt. Niemand hatte sie schreiben wollen und niemand würde sie lesen. "Du brauchst Urlaub!" hatte er einem plötzlichen Einfall folgend gesagt und sie hatte es nicht verstanden.
"Du willst fort, weit fort?" Sie hatte genickt.
"Vertrau mir."

Er schloß das Fenster. Ob sie noch eine Ansichtskarte schreiben würde?
In wenigen Stunden wird eine Gletscherbahn auf dem Weg zum Kitzsteinhorn sein.
Einer im Zug würde lächeln.
Einmal im Leben.

_____________

 

Hi!
Ein sehr schwer zu fassender Text, eine angenehm seltsame Atmosphäre und kirre Personen.
Das alles gefällt mir sehr gut. Der Doc, der auf der Schneide des Wahnsinns wandelt, gefällt mir am besten.
Manchmal etwas verwirrend, so zum Beispiel die Beziehung des Mädels zu ihren Eltern (hätte ja auch noch genauer herausgearbeitet werden können), aber das ist insgesamt okay. Denkt er eigentlich wegen seiner Visionen vin Rauch und Feuer an den Winterurlaub?

Auch von den Worten her überzeugt mich Dein Text im Ganzen.
Schön geschrieben. :)

 

Hallo baddax

danke für das Lob ... aber das kann ich nicht so recht annehmen, weil es die Geschichte offenbar nicht schafft, einen entscheidenden Aspekt nur durch (zu zaghafte?) Andeutungen im Text zu vermitteln:

Denkt er eigentlich wegen seiner Visionen von Rauch und Feuer an den Winterurlaub?
Seine Visionen deuten auf eine bevorstehende Katastrophe hin. Er weiß, was passieren wird und kann dadurch das Dilemma ihres Daseins (zwischen Todessehnsucht und Selbsttötungsverbot) "lösen". Er schickt sie kurzerhand in den "Winterurlaub". Wenn man zu der Gletscherbahn am Kitzsteinhorn (Kaprun) noch eine (womöglich schon verblaßte) Assoziation bereit hat, erschließt sich auch, was sich dahinter verbirgt - der absonderliche Gedanke, daß wenn schon Menschen sterben müssen, es doch die sein könnten, die sowieso nicht mehr leben wollen. Dann wäre allen Beteiligten und Hinterbliebenen "geholfen". Weil dies aber schwerlich wertfrei zu betrachten ist, habe ich die Geschichte so ins Seltsame verlagert. Vielleicht zu sehr? Ich denke, ich muß da noch ein wenig nachbessern. Für Ideen und Hinweise dazu wäre ich sehr dankbar.

Grüße Martin

 

Das ist korrekt. Jetzt kann ich es nachvollziehen. Konnte keine Verbindung zw.
Kitzsteinhorn und Kaprun herstellen.

Es liegt nicht an der Geschichte, ich habe den Titel falsch interpretiert und daraufhin die Vision zu schnell abgehandelt, bzw. nicht mit seinem Ziel verbunden. Den Gedankensprung von Kitzsteinhorn nach Kaprun habe ich leider verpasst (aber im Endeffekt denke ich, ein Name wäre auch gar nicht so wichtig gewesen.)

Nichts für ungut.

 

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