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Wirbelgedanken
Ihr rauchte der Kopf. Strukturformeln, Atome, Moleküle, Orbitalmodelle, alles wurde darin durcheinander gewürfelt.
Erschöpft ließ sie sich gegen die bequeme Lehne ihres Drehstuhls sinken und ein leiser Seufzer der Erleichterung entwich ihren Lippen. Die Pause hatte sie echt nötig. Lernen konnte richtig anstrengend sein.
Naja, du bist selbst schuld, wenn du erst einen Tag vor der Schulze anfängst zu lernen. Jetzt erst mal entspannen… und nachher vielleicht weitermachen…
Sie setzte sich wieder auf, klappte das Heft zu und ging zu ihrem Bett, auf das sie sich mit einem wohligen Schauer sinken ließ. Halbherzig beschloss sie noch, nachher ihr Zimmer aufzuräumen, doch dann fielen ihr die Augen zu.
*
„Sophie, Telefon!“
Abrupt setzte sie sich auf. Wie spät war es? Ein verschlafener Blick auf die Uhr, halb fünf. Sie musste wohl eingenickt sein. Wenn ihre Mutter sie nicht geweckt hätte… ach ja, das Telefon!
„Ich komme schon!“
Sie sprang aus dem Bett und stürmte aus dem Zimmer. Von unten hörte sie ihre Mutter noch sagen „Moment, ich verbinde dich“, da klingelte das andere Gerät bei ihr oben. Sie nahm ab und ging während dem Telefonieren wieder in ihr Zimmer.
„Ja?“
„Sophie?“
„Ja, ich bin’s. Hey Vivi! Wie geht’s dir?“
„Wenn du schon so fragst... beschissen.“
Die Stimme ihrer Freundin hörte sich ziemlich deprimiert an.
„Was ist denn los?“
„Naja… es… es ist aus…“
„Was meinst du?“
„Mann, hört sich „es ist aus“ nicht eindeutig genug an?
Der Idiot hat einfach Schluss gemacht! Und irgendwelche fadenscheinige Gründe genannt! Von wegen, er will wieder mehr mit seinen Kumpels unternehmen und ich würde ihn zu sehr einengen! Ist doch völliger Schwachsinn! Ich brauch doch auch meinen Freiraum, wieso sollte ich ihn da einengen? Der hat bestimmt ’ne andere, da verwette ich ’ne Million d’rauf! Und mit der amüsiert er sich gerade königlich über mich und meine Laune! Dieser Arsch! Und sie ist bei ihm und liegt in seinem Bett und sie kuscheln und…“
Der Rest endete in einem lauten Aufschluchzen.
„Ok, jetzt beruhig’ dich erst einmal ein bisschen. Wenn er so ein Arsch ist, ist er keine Träne wert, die du hinter ihm herheulst. Vielleicht braucht er einfach mal ’ne Pause?“
Viola schniefte.
„N… nein. Er… es… nein.“
Hilflos starrte Sophie ein Loch in ihre Bettdecke. Wie konnte sie ihrer Freundin nur helfen? Ihr Blick wanderte über ihr Zimmer, die gelben Vorhänge, die Fotos an den Wänden, als ob sich dort irgendwo eine Lösung versteckt hielte.
„Wann ist das denn passiert?“
„Vorhin. Wir… wir haben uns bei ihm getroffen. Und da… d-da hat er…“
Der Satz ging in einem Heulen unter, doch Sophie konnte sich das Ende selbst zusammenreimen.
„Kannst du nicht ’rüberkommen?“, fragte Viola mit weinerlicher Stimme.
Sophie schaute zu ihrem Schreibtisch, auf dem das Heft und das offene Chemiebuch von ihrer Schreibtischlampe beschienen wurden. Sie hatte vergessen das Licht auszumachen.
Und ihr Zimmer glich eher einer Stätte der Verwüstung als einem Ort, an den man gerne zurückkehrt
„Sophie?“
„Ich bin in ’ner halben Stunde da, okay?“
„Okay.“
„Bis gleich.“
„Bis gleich und… danke.“
„Hey, was tut man nicht alles für seine Freundin?“
Viola schien keine Antwort darauf zu wissen und schniefte nur durch das Telefon.
„Also, ciao.“
„Ciao.“
Sophie legte auf und das Telefon auf ihr Kopfkissen. Für einen Augenblick versank sie völlig in ihre Gedanken und starrte aus dem Fenster den klaren, blauen Himmel an, der sich im Osten schon verdunkelte.
Warum hatte sie keinen Freund?
Warum verliebte sich niemand in sie? War sie denn so… abstoßend?
Viola hatte nun schon den dritten Freund und war zwei Jahre jünger als sie.
Machte sie irgendetwas falsch?
Energisch schüttelte sie den Kopf, um ihn klar zu bekommen und stand aus ihrem Bett auf. Darin war es einfach immer am bequemsten zu telefonieren.
Während sie die Treppe hinab ging und sich unten Jacke und Schuhe anzog, versuchte sie nicht an ihren belanglosen Kummer zu denken.
Viola war jetzt wichtiger. Zwar wusste sie nicht wirklich, wie sich Liebeskummer anfühlte, aber es konnte keine schöne Sache sein, denn Viola heulte sich nun schon zum dritten Mal bei ihr wegen eines Jungen aus. Obwohl es bei Kevin schon ziemlich ernst gewesen zu sein schien. Die beiden waren fast ein Jahr zusammen gewesen, was auch seinen Trennungsgrund eher nach einer faulen Ausrede aussehen ließ.
Sophie wünschte sich, dass sie gleich beim ersten Mal einen richtigen Freund fand oder zumindest einen, mit dem sie lange zusammenbleiben wollte. So eine „Schalala-Beziehung“, wie sie sie gerne nannte, würde sie gar nicht erst anfangen.
Obwohl das wahrscheinlich wieder auf den Jungen ankam. Viola hatte ja schon zwei solche Beziehungen gehabt und war jedes Mal unsterblich in denjenigen verliebt gewesen.
Sophie musste den Kopf schütteln, als sie daran zurückdachte.
Viola ist eine Träumerin, voller Emotionen und sie lässt diesen freien Lauf.
Meine Emotionen und Träume bleiben in meinem Kopf. Eigentlich gibt es nicht viele Menschen, die meine Gefühle kennen. Ich überlege mir immer alles tausend Mal und bin mir dann meistens immer noch unsicher. Verdammt, warum bin ich so rationalistisch? Sophie, denk nicht so viel nach. Sag deine Meinung, steh dazu und geh mehr auf andere zu. Dann findest du vielleicht auch Leute, denen du vertrauen kannst.
„Mama, ich geh zu Vivi!“
Keine Antwort.
Sophie lugte um die Ecke ins Wohnzimmer. Da saß ihre Schwester und sah fern.
„Keyla, ich bin bei Vivi.“
„Ich hab’s gehört.“
„Sag Mama Bescheid, wenn sie nach Hause kommt.“
„Mach ich.“
„Ciao.“
Doch ihre Schwester war schon wieder völlig auf die neueste Folge von den Gilmore Girls konzentriert.
„Nicht mal meine Schwester beachtet mich richtig,“ dachte sie leicht sarkastisch und verzog dabei ihr Gesicht.
Vor dem Spiegel setzte sie sich die Mütze auf und betrachtete ihr Gegenüber.
Eigentlich hielt sie ihr Aussehen für ganz ok. Ihre dunkelblauen Augen mit den langen Wimpern fand sie am schönsten.
Der Mund ein bisschen zu klein, die Nase ein wenig zu stupsig. Umrahmt von strohblonden schulterlangen Haaren, die unter der Mütze allerdings kaum zu sehen waren.
Nur die drei Pickel auf der Stirn störten sie mehr als nur ein bisschen.
Mit einem Seufzer wandte sie sich ab. An ihrem Äußeren konnte es eigentlich nicht liegen. War sie einfach zu introvertiert?
Auf dem Weg zur Haustür schnappte sie sich ihren Fahrradschlüssel und ein paar Handschuhe. Sie öffnete und blieb auf der Türschwelle stehen. Draußen brachen sich die letzten Sonnenstrahlen des Tages im Schnee und Sophie kniff, für einen kurzen Moment geblendet, die Augen zusammen.
Wie gerne würde sie darin einmal wieder herumtoben, einen Schneemann bauen und einfach nur den Alltag zurücklassen, für eine Weile vergessen.
Tja, der Stress der Jugend. Ich sollte meine Zeit besser einteilen. Aber irgendwann werd’ ich schon mal dazu kommen... Mensch, lass dich nicht hängen! Du hast eine gute Freundin, eine nette Familie, was willst du mehr?
Dass ich von den anderen mehr beachtet werde…
Resignierend schloss sie die Tür hinter sich und trat hinaus ins Freie.