- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Woher die Schönheit kommt
Eines Tages fragte ich mich, wo all die Schönheit in der Welt herkomme. Ich packte meinen Seesack, verabschiedete mich ohne große Erklärungen von meiner Frau und zog in die Welt hinaus. Weil mir jedoch in all den Ländern, die ich daraufhin bereiste, kein Mensch befriedigende Antworten gab, beschloss ich schließlich, in den Tiefen des Ozeans zu forschen. Frühmorgens fuhr ich mit aufs Meer hinaus, auf einem kleinen Fischkutter aus Rijeka. Die Männer warfen die Netze aus und begannen Fische zu fangen. Ich aber winkte und sprang mit einem Satz ins Meer. Augenblicklich versank ich, denn ich hatte mir Blei in die Beinkleider eingenäht. Am Grunde empfing mich eine junge Meeresfrau. Sie hatte blasse grüne Augen und goldenes Haar und schwebte vor mir im schillernden Wasser. „Du hast eine Frage“, sagte sie mit wohlklingender Stimme. „Sprich.“
Nun, ich lief rot an und rang um Worte. Ihr wundersamer Körper, der halb Mensch, halb Fisch war, war so nackt und schön, wie die Versuchung selbst. Sie aber kümmerte sich nicht darum und als ich endlich die Stimme wiederfand, klang sie äußerst verlegen. „Ich ersuche euch um Rat, schöne Meeresfrau. Ich möchte wissen, woher all die Schönheit in der Welt kommt.“
„Alle Schönheit kommt aus dem Meer“, gab sie schlicht zurück.
Ich überlegte eine Weile, doch ihre Antwort war rätselhaft.
„Folge mir und du wirst sehen“, sagte sie.
Mit einem Schlag ihrer schillernden Schwanzflosse schwamm sie los. Ihr langes Haar schwemmte hinter ihr auf, wie ein goldener Fächer und so gut ich konnte eilte ich ihr über den Meeresgrund nach.
Zum Glück blieb die Meeresfrau nach kurzer Zeit stehen. Sie wies auf eine riesige Pflanze. Ein Blütenkelch klaffte auf, wie ein mächtiger Trompetentrichter.
„Dies ist die Blume der Schöpfung. In ihrem Herzen verbirgt sich der älteste Ort der Menschheit.“
Staunend folgte ich ihr in die Pflanze, wo schummriges Licht herrschte. Der Weg führte abwärts. Bunte Fischschwärme begegneten uns. Leise Stimmen schwollen an, dann waren wir am Ziel.
In einer weitläufigen Halle standen junge Meerfrauen an korallenen Werkbänken und montierten kleine Kostbarkeiten. Meermänner trugen schimmernde Körbe und Kisten umher. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich bergeweise Muscheln, die von flinken Händen mit Perlen bestückt wurden.
„Das ist der Geburtsort aller Meerestiere“, sagte meine Begleiterin. „Komm mit, ich zeige dir etwas!“ Sie bahnte uns einen Weg und wies mir zwischen ausladenden Blütenblättern den Weg in die Nebenhalle. Wieder sah ich viele Arbeiter. Dann entdeckte ich am Rande der Halle riesige Käfige mit algenbewachsenen Gitterstäben. Darin schwammen durchsichtige Fische, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Lachse und Thunfische waren dabei, aber alle waren ohne Haut und durchscheinend wie Glas. Jetzt sah ich, wie ein kräftiger Wassermann eine Gittertür öffnete und einen riesenhaften Fisch herauszog. Er trug seinen Fang zu einem Tisch, wo ihn nackte Wassermädchen in Empfang nahmen und mit einer öligen Paste einrieben. Dann wälzten sie das Tier in einer Wanne umher, als wäre es ein Stück Backfisch. Als sie fertig waren und ihn hochhoben, kicherten sie, denn der Fisch trug nun ein wundervoll schillerndes Schuppenkleid. Die Mädchen ließen den Thunfisch los - denn jetzt sah ich, dass es tatsächlich ein Thunfisch war - und er schwamm in kraftvollen Stößen zu einer Öffnung in der fleischigen Blütenwand. Dort hielt er kurz inne und starrte mit großen Augen zurück, dann verschwand er blitzschnell darin.
„Führt das Loch ins Meer?“, fragte ich.
„In alle Ozeane der Welt“, sagte sie ernst.
„Das ist äußerst beeindruckend!“, sagte ich. „Dennoch ist es nicht das, was ich meine.“ Ich zögerte. „Bei all der Schönheit, die ihr hier unten schafft, ist eure Werkstatt doch nicht meine Antwort.“
Sie sah mich nachdenklich an.
„Wenn das so ist, dann suchst du am falschen Ort. Vielleicht ist es überhaupt falsch, dass du suchst. Kehre dorthin zurück, wo deine Reise begann, das ist mein Rat.“
Nachdenklich nahm ich ihre Worte auf. Ich musste wohl einsehen, dass sie mir nicht helfen konnte.
„Vielen Dank“, sagte ich und machte mich auf den Rückweg.
Tage später saß ich zuhause bei einer Pfeife auf der Veranda und konnte das Grübeln nicht lassen. Ich dachte voller Bedauern über meine Reise nach und drehte und wendete die Worte der Meeresfrau, ohne, dass sie je einen Sinn bekamen. Hier war der Ort, an dem meine Suche begonnen hatte. Hier auf der Veranda. Niedergeschlagen ging ich ins Haus. Meine Frau stellte gerade ihren überaus köstlichen Schmorbraten her.
„Was ist?“, fragte sie, als ich zum dritten Mal an der Küchentür vorbeischlich.
„Liebste“ sagte ich, „ich muss dich etwas fragen. Es hat mit meiner letzten Reise zu tun. Seit einiger Zeit treibt mich diese Frage um. Woher die Schönheit in der Welt kommt. Aber niemand kann mir helfen. Nicht einmal die Meermenschen am Grunde des Ozeans.“
„Mein guter Mann“, sagte sie. „Du bist wirklich komisch. Du reist um die ganze Welt, triffst die weisesten Menschen und tauchst sogar auf den Grund des Ozeans, nur um eine Frage zu stellen, deren Antwort sogar ich weiß.“ Sie griff nach meiner Hand und lächelte. „Die Schönheit ist hier. In diesem Raum. In diesem wundervollen Moment! Es ist erstaunlich, was du alles nicht weißt.“ Dann stellte sie den herrlich duftenden Braten auf den Tisch und drückte mich auf die Bank. Und mit einem Mal sah ich sie, die Schönheit. Sie kam direkt aus ihr heraus und verbreitete sich im ganzen Raum.
Als ich aß, wusste ich, dass ich die Antwort gefunden hatte.