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Zehn aus Zehntausend
Nicht ich, nicht ich. Alle andern, nur nicht ich.
Ich bin ein Feigling, dass ich sowas denke, aber den Tod fürchtet jeder, da ist jeder ein Feigling, und wenn alle Feiglinge sind, dann ist das vielleicht in Ordnung.
Zehn Leute suchen sie aus, zehn Leute müssen heute in den Bunker. Oh Gott. Nicht hier, nicht heute, nicht ich.
Der Untersturmbannführer geht die Reihe auf und ab. Zackig, wie einer von Jethros Spielzeugsoldaten, die man hinten aufziehen kann und dann laufen sie genauso. Hin, her, hin, her.
Die Menschen senken die Blicke, nur nicht auffallen, nur nicht provozieren. Warten, dass er auch an ihnen vorbeigeht, er soll auf keinen Fall stehen bleiben, auf keinen Fall vor mir.
„Du, Nummer 37240, vortreten.“ Er zeigt auf einen mageren alten Mann mit zerbrochener Brille. Noch neun, schießt es mir durch den Kopf, und im selben Moment schäme ich mich dafür.
„Und wenn noch eine Judensau zu fliehen versucht“, schreit der Untersturmbannführer, „sind es das nächste Mal zwanzig, die dafür sterben müssen!“
Damit marschiert er weiter die Reihen entlang. Sucht wahllos aus der schwarzweißgestreiften Menge aus. Nummer 1293. Noch acht. Nummer 13982. Noch sieben. Nummer 2342. Noch sechs. Nummer 23487. Noch fünf. Als er auf Nummer 124902 deutet bricht kurz Chaos aus, denn der ist noch jung und kräftig, und seine Frau fängt an zu weinen und zu schreien, und sich an ihn zu klammern, aber als die Soldaten mit der Waffe auf sie zielen, lässt sie ihn los und der Untersturmbannführer kann mit seiner Auswahl fortfahren. Vier fehlen ja noch. Noch drei. Und dann nur noch zwei, aber dafür fühlen sich meine Beine auf einmal so schwach und dünn an, denn jetzt bleibt er genau vor mir stehen. „Du“, sagt er und zeigt auf einen Mann direkt neben mir, was unangenehm ist, denn so bekomme ich mit, wie er seine Hose durchnässt. Ein erwachsener Mann, gebrochen, durch ein einziges Wort. Und es fehlt immer noch einer. Einer noch muss heute sterben, in dem Bunker, aus dem man die Schreie hört.
„Du“, sagt er wieder, und noch immer steht er so nah vor mir, dass ich seinen staubigen Atem riechen kann. Doch ich habe Glück, er zeigt nicht auf mich.
Er zeigt auf meinen Vater.
„Nein!“, schreie ich und die Tränen kommen ganz von selbst.
„Nein!“, schreit meine Mutter, „bitte, bitte nicht, wir brauchen ihn doch!“
Jethro schreit nicht, klammert sich nur an seinem Bein fest.
Mein Vater schreit auch nicht, aber ich kann die Verzweiflung in seinen Augen sehen, und auch die Angst. Um sich und um uns, denn wer soll nun für uns sorgen?
„Vortreten, Judensau“, brüllt der Untersturmbannführer, doch jemand anders brüllt lauter.
„Lassen Sie den Mann leben!“ Einer der Häftlinge ist vorgetreten. Ziemlich blass und dünn ist er, aber das sind wir ja alle. „Ich werde für ihn sterben. Das macht für Sie doch keinen Unterschied, oder?“
Der Untersturmbannführer stutzt. Dann zuckt er die Achseln. „Na schön, mir ist es gleich. Dann stirbst eben du für ihn. Judensau.“ Und damit lässt er sie abführen. Die neun Ausgewählten, und den Wahnsinnigen mit der Nummer 16670, der freiwillig in den Hungerbunker geht.
Plötzlich ist mir der Gedanke unerträglich, dass nur eine Nummer von diesem Menschen übrigbleiben wird. „Wie heißt du?“, frage ich ihn, kurz bevor, die Soldaten ihn wegbringen. „Du bist doch kein Jude, oder?“
Der Mann lächelt traurig. „Ich heiße Maximilian Kolbe. Und ich bin Priester.“