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Zeit zu sterben

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14.12.2023
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Anmerkungen zum Text

Hallo zusammen, meine erste Kurzgeschichte, hoffe sie gefällt euch.

Zeit zu sterben

Als ich daheim ankam, sah ich Tante Gerdas Wagen vor der Tür.
Ich betrat leise das Haus und wollte in mein Zimmer schleichen, aber im Wohnzimmer hörte man ein schluchzen. Ich blickte durch die Tür und sah meine Mutter weinen. Tante Gerda blickte ernsthaft, wie immer, jedoch konnte man Trauer in ihren Augen erkennen.
Tante Gerda und der Rest unserer riesigen Familie waren alle alt und ernst. Sie hatten immer diesen skeptischen, genervten Blick drauf. Sie verstanden keinen Spaß und lachten nie. Außer Opa, mit dem lachte ich viel. Auf Familientreffen ging es immer um die gleichen, in meinen Augen, langweiligen Themen. Wetter und Zinsen, Klatsch und Tratsch aus der Nachbarschaft, wie schnell ich doch wachse und was früher so alles besser war. Zum Glück lebten wir etwas Abseits, sonst wären wir jedes Wochenende auf unzähligen Geburtstagen, Grillfesten und allen anderen Anlässen, die gesamte Familie einzuladen.

Eine Woche nachdem Tante Gerda zu Besuch war, musste ich auf meine dritte Beerdigung. Meine erste war Oma, da war ich aber noch jünger, dann Onkel Ferdinand, das zählt aber nicht und nun Opa.

Ohne Opa würde ich mich auf Familienfesten langweilen. Meine Eltern unterhielten sich oft mit dem Rest über die immer gleichen, langweiligen Themen, aber ich wusste, dass sie sich mit Opa am wohlsten fühlten. Und er sich bei uns. Wir besuchten ihn, eigentlich als einziges, auch außerhalb von Familienfesten.
Besonders nach Omas Tod, waren wir oft bei ihm. Er war immer noch der gleiche wenn er mich sah, er spielte mit mir, zog Grimassen und wir lachten über Tante Gerdas Hüte. Aber wenn ich ihn so anschaute, wie er alleine auf seinem Sessel aus dem Fenster blickte, sah er traurig aus.

Fast die ganze Familie war schon da. Erst standen wir, eine ganze Weile, gemeinsam vor der Leichenhalle und redeten über dieselben langweiligen Themen wie immer. Dann redeten wir über Opa, als wäre er nicht da. Wir betraten den Raum, in dem sich alle nacheinander von ihm verabschieden konnten. Es gab eine ganz bestimmte Reihenfolge:
Verwandtschaftsgrad, dann Alter. Mein Papa und ich standen bei meiner Mutter, knapp hinter Tante Gerda. Dazwischen kam nur noch Onkel Arnold mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen. Meine Mutter war die jüngste Tochter, deswegen standen hinter uns Opas Schwestern und Brüder.
Tante Gerda hatte keinen Mann und keine Kinder. Sie stand ganz alleine vor Opa und auch wenn ich sie nur von hinten sah, hörte ich, dass sie weinte. Ich überhörte ihre Worte, denn mir fiel ein, dass ich gar nicht wusste, was ich zu Opa sagen würde.
“Wie kannst du uns bloß verlassen?" fragte Tante Gerda als letztes und ging zur Seite. Gleich würde ich ihn sehen, vielleicht zum letzten Mal. Was waren die richtigen Worte? Würde das, was ich sage, ihm genügen. Ich blickte fragend zu meinen Eltern.
Wir waren an der Reihe.
Was meine Eltern sagten, hörte ich gar nicht, ich war fokussiert auf Opa. Sein Gesicht sah aus wie immer. Seine weißen Haare, die große Nase und der Bart. Meine Augen wurden feucht. Ich öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte heraus. Eine Träne kullerte mir über die Wange.
Jemand beugte sich vor und wischte sie mir aus dem Gesicht.

“Hast du Tante Gerdas Hut gesehen?”
Er streichelte mir über die Wange.
“Das ist glaube ich der schlimmste, den sie je auf hatte.”
Typisch Opa.Ich musste lächeln. Er sagte es mit dem Ton und dem Blick, den er immer hatte, wenn er mit mir redete.
“Warum willst du sterben Opa?"
Er blickte mich an, dann zu meinen Eltern.
“Ich weis das ist nicht leicht, aber ich werde es versuchen euch erklären.”
Er richtete sich wieder auf und blickte abwechselnd zu meinen Eltern und mir.
“Ich hoffe ihr versteht, dass ich dieses Gespräch nicht mit jedem einzelnen führen möchte. Deshalb wollte ich euch allen, hier und heute, erklären, warum ich sterben möchte. Setzt euch, ihr werdet es verstehen”
Als wir zur Seite traten und zu unseren Plätzen gehen wollten, zog er mich nochmal kurz zu sich und flüsterte mir etwas ins Ohr.
“Am Ende werden alle sauer auf mich sein, aber ich möchte, dass du lachst.”
Er schob mich, mit einem leichten Grinsen, wieder zu meinen Eltern und widmete sich seiner Schwester. Wir setzten uns zu Tante Gerda.

Während sich alle anderen verabschiedeten, hörte ich in den Reihen hinter uns immer wieder Sätze wie "So etwas macht man einfach nicht” oder “Ich finde das Ganze ziemlich egoistisch von ihm”. Mama und Tante Gerda trösteten sich gegenseitig. Mein Papa beugte sich zu mir und fragte, wie es mir damit geht.
“Ich weis nicht. Ich werde Opa sehr vermissen.”
Er nahm mich in den Arm und drückte mich leicht.
“Möchtest du mal sterben?” fragte ich meinen Papa.
Er blickte zu mir herunter, etwas überrascht und dachte kurz darüber nach:
“Jetzt nicht. Aber irgendwann, wenn ich so alt bin wie dein Opa, dann schon.”
“Und warum wollen dann Uropa Raimund und Uroma Magdalene nicht sterben?” fragte ich.
Mein Papa zuckte mit den Achseln. Er sah aus, als wüsste er die Antwort, hatte aber Angst, wollte aber nicht, dass ich, oder irgendjemand hier sie höre.
Wir schauten uns noch kurz an, dann blickte er wieder zu meiner Mutter.
Ich dachte darüber nach, möchte ich eines Tages sterben?
Alle saßen auf ihren Plätzen, nur Opa stand noch vorne. Er begann seine Rede:

“Zum Glück musste ich euch alle heute zum letzten Mal begrüßen!”
Typisch Opa. Er sagte oft Sätze, nach denen sich meinen Tanten und Onkel erstmal schockiert umsahen. Dann schüttelten sie meistens ihre Köpfe und sagten ihm, er solle doch so etwas bitte nicht sagen. Opa grinste leicht und ließ seinen ersten Satz erstmal auf alle wirken. Dann startete er etwas ernster wieder seine Abschiedsrede:
“Der Tod ist endgültig und für die Hinterbliebenen schwer zu ertragen. Ich weis wie es sich anfühlt einen Menschen zu verlieren. Um euch nicht mit denselben Gefühlen zu hinterlassen, die ich damals ertragen musste, versuche ich, meinen Todeswunsch etwas verständlicher zu machen.
Es gibt viele Gründe zu leben. Meine Kinder und Enkel. Meine Eltern und Großeltern. Meine Verwandten, meine Familie. Die Wiesen, Flüsse, Seen und Berge. Leckere Gerichte und schöne Lieder. Neue Menschen und alte Freunde.


Und zum Sterben, dafür gibt es keine Gründe.
Zu jedem Zeitpunkt können wir uns dazu entscheiden, unsere Reise auf dieser Erde zu beenden. Aber aus Angst, etwas zu verpassen, entscheidet sich fast nie jemand für den Tod. Vielleicht auch weil es unfassbar kompliziert ist.
Um euch keine Arbeit zu hinterlassen, musste ich unzählige Ämter besuchen und allerlei Anträge ausfüllen. Am liebsten wäre ich bei so einigen dieser Termine, an Ort und Stelle gestorben. Ich kann nun noch weniger nachvollziehen, warum Ferdinand, nach all diesen Bürokratischen Anstrengung, damals doch wieder von Toten auferstanden ist.”

Alle lachten. Onkel Ferdinand hatte vor 2 Jahren eine ziemlich dramatische Beerdigung. Am nächsten Morgen haben wir dann erfahren, dass er doch noch unter den Lebenden weilt. Seitdem zieht die ganze Familie, bei jeder Gelegenheit, über ihn her. Opa sagte mal zu meiner Mama, bei den Frauen kann sowas ja mal vorkommen, aber bei einem Mann doch nicht, wenn man schon alle zu seiner Beerdigung einlädt, dann stirbt man gefälligst.

Nachdem das Gelächter sich beruhigte und sich die Blicke von Onkel Ferdinand wieder auf Opa richteten, machte er weiter:
“Als meine Frau uns vor einigen Jahren verließ, war ich sehr wütend. Wie konnte sie mich nur allein lassen, wie konnte sie UNS nur alleine lassen. Wir machten ihr Vorwürfe und wollten es ihr Ausreden, aber am Ende saßen alle hier. Ich fühlte mich alleine und verstand sie nicht.
Um euch nicht so zu hinterlassen, möchte ich es euch jetzt erklären.
Also, warum möchte ich nun sterben?
Man sagt oft, höre auf, wenn es am schönsten ist und bei mir ist die schönste Zeit im Leben lange vorbei. Ich hatte eine tolle Frau und habe meine Kinder heranwachsen sehen. Ich durfte meine Enkel und von so manchen auch deren Kinder kennen lernen. Ich habe alles probiert und getan, was ich wollte und jeden Ort gesehen, den es zu entdecken gab. Die schönsten Momente in meinem Leben liegen viele Jahre zurück und doch ist kein Ende in Sicht.
Wir wurden mit der Entscheidung gesegnet, unser Leben selbst zu beenden. Keiner muss sterben, keiner wird einfach so aus dem Leben gerissen.
Aber wenn ich mir meine Mitmenschen so manchmal anschaue, wirkt es eher wie ein Fluch. Dadurch dass wir ewig leben könnten, hat das Leben keinen Wert. Wir lassen uns zu viel Zeit, wir schieben auf und schätzen den Moment nicht. Wie wertvoll wäre das Leben, wenn wir wüssten, dass unsere Zeit abläuft. Wie schön wäre jeder Moment, wenn wir wüssten, es könnte der letzte sein. Stattdessen werden wir alt und depressiv. Trotz unserer riesigen Familien enden wir oft einsam. Machen die immer gleichen Dinge mit den immer gleichen Leuten.
Alles wird langweilig, wenn genug Zeit ist, selbst das Leben.”

In der Leichenhalle herrschte eine Totenstille. Opas Blick ging durch die Reihen. Er schenkte mir ein kleines, verstecktes Lächeln, das alles sagte, was ich wissen musste. Er schenkte jedem diesen Blick und auch wenn er nur ein paar Sekunden schwieg, kam es mir vor wie eine Ewigkeit. Er blickte ernst auf die gespannte Menge, die darauf wartete, dass er das Wort ergriff.

“Ich hoffe, ihr versteht nun, warum ich mich für den Tod entschieden habe. Ich möchte, dass ihr wisst, …!”
Opa klappte zusammen.
Alle sprangen auf oder schrien los.
Tante Gerda, Tante Annegret, Tante Sibile, Tante Frieda und Onkel Ferdinand kippten um.
Einige drängten sich durch die geschockte Masse nach vorne.
Ich lächelte, typisch Opa.

 

Hallo @luktra ! Willkommen bei den Wortkriegern!

Meinst du, dass ist deine erste Geschichte in diesem Forum, oder deine erste Geschichte überhaupt? Falls Letzteres: Hut ab, für einen Anfänger sehr gelungen! Sie ist Surreal und hat Humor, durch den ein bisschen Philosophisches durchschimmert. Mag ich! :-)
Einen Feinschliff kann sie trotzdem vertragen, darum hab ich mal ein paar Schnitzer rausgepickt:

Zum Glück lebten wir etwas Abseits, sonst wären wir jedes Wochenende auf unzähligen Geburtstagen, Grillfesten und allen anderen Anlässen, die gesamte Familie einzuladen.
Dieser Satz ergibt keinen Sinn. Kann es sein, dass du beim Editieren da versehentlich zwei unpassende Satzstücke zu einem verbunden hast?

Meine Eltern unterhielten sich oft mit dem Rest über die immer gleichen, langweiligen Themen
Das hast du ein Stück weiter oben schon erwähnt, diese Info musst du dem Leser nicht nochmal geben. Ich würde den Satz darum knapper fassen, à la "als sie sich wieder über ihre langweiligen Themen unterhielten".

Besonders nach Omas Tod, waren wir oft bei ihm.
Komma weg, weil da gehört keins hin.

und redeten über dieselben langweiligen Themen wie immer
Ähnlich wie oben. Dass die das immer machen weiß der Leser schon, daher würde ich das "wie immer" streichen.

Das ist glaube ich der schlimmste
"Schlimmste" wird in dem Fall groß geschrieben, weil Substantivform.

Typisch Opa.Ich musste lächeln.
Da fehlt ein Leerzeichen.

Ich weis das ist nicht leicht
"weiß". Machst du jedes Mal bei diesem Wort, siehe unten.

Er blickte mich an, dann zu meinen Eltern.
“Ich weis das ist nicht leicht, aber ich werde es versuchen euch erklären.”
Er richtete sich wieder auf und blickte abwechselnd zu meinen Eltern und mir.
Kann ja sein, dass er zweimal seinen Blick hin und herschwenkt, würde ich aber nur einmal erwähnen. Zwei Mal so kurz hintereinander ist eine Dopplung, die holprig wirkt.

“Ich weis nicht. Ich werde Opa sehr vermissen.”
Wieder.

Er sah aus, als wüsste er die Antwort, hatte aber Angst, wollte aber nicht, dass ich, oder irgendjemand hier sie höre.
Sieht m.E. wieder wie ein Fitzel aus, der beim ins Reine Schreiben, übersehen wurde. Entweder "hatte aber Angst" oder "wollte aber nicht", aber nicht beides.

Dann startete er etwas ernster wieder seine Abschiedsrede:
"Wieder starten" ist komisch formuliert. Würde hier lieber "setzte fort" verwenden, klingt sehr viel runder.

Ich weis wie es sich anfühlt einen Menschen zu verlieren.
Und nochmal. Außerdem kommt nach dem "anfühlt" ein Komma.

Ich kann nun noch weniger nachvollziehen, warum Ferdinand, nach all diesen Bürokratischen Anstrengung, damals doch wieder von Toten auferstanden ist.
:lol:
Guter Spruch!

Nachdem das Gelächter sich beruhigte
"Nachdem sich das Gelächter beruhigt hatte". Die Geschichte spielt ja in der Vergangenheit, und das Gelächter hat sich in einer noch weiter zurückliegenden Vergangenheit beruhigt.

auch wenn er nur ein paar Sekunden schwieg
Weiß nicht, ob das grammatikalisch korrekt ist, klingt aber stark nach Umgangssprache. Lieber "für ein paar Sekunden schwieg" oder "ein paar Sekunden lang schwieg".

Alles in Allem sind das m.E. aber keine fundamentalen Fehler, lässt sich alles ratz-fatz ausbessern.
Bin auf dein weiteres Schaffen gespannt! :thumbsup:

VG
MD

 

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