- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Zeitsprung
Zeitsprung
Ach du meine Güte! Diese Aufgaben waren wirklich schwierig, sie brachten mich zur Verzweiflung. Mathe war das Fach in dem ich ein absoluter Loser war. Am Montag werden wir eine Arbeit schreiben und ich werde wie immer eine fünf bekommen. Egal wieviel ich auch lernte, ich wurde immer schlechter und verbesserte mich keineswegs. Zahlen über Zahlen, Formeln über Formeln...wie sollte ich denn da noch durchblicken? Ich hätte dringend Hilfe gebraucht aber meine Mutter arbeitete, mein Vater war schon lange tot. Mein älterer Bruder übernachtete bei einem Freund und meine Schwester, die würde mir auch nicht viel bringen. Sie hätte auf meine Fragen gerade mal: „Ga, ga, ga!“ , antworten können und wäre in ihrem Babystall weiter im Kreis herum gekrochen. Ich brauchte dringend eine Abwechslung, nicht nur Zahlen. Also ging ich in die Küche um mir etwas zu Trinken zu holen damit ich meinen trockenen Mund wieder anfeuchten konnte.
KLONG!
Was war das? Ich hatte mich total erschreckt, als ich dieses Geräusch hörte. Ich war von meinem Stuhl aufgefahren, blieb wie angewurzelt stehen und starrte zum Wohnzimmer hinüber woher der Laut gekommen war. „Aua......verflixt! Ich kann nichts sehen!“ Ich musste lachen. Es war eindeutig eine Mädchenstimme, die ich da fluchen hörte. Wer hatte denn schon Angst vor einem Mädchen, dass gleich alt wie jemand selber war? Ich näherte mich dem Wohnzimmer, wenn auch langsam. Überall im Raum flog Ruß herum und setzte sich nach einer Weile auf dem frisch gesaugten Parkettboden ab. Ich wusste, ich würde totalen Ärger von meiner Mutter bekommen, das störte mich im Moment allerdings sehr wenig. Wie ist dieses Mädchen bloß in den Kamin gekommen? Das war die einzige Frage, die mich beschäftigte. Sie musste etwa meinem Alter entsprechen.
„Wie heißt du?“ , fragte ich. Das Mädchen hörte auf, sich ihre auffällig altmodischen Kleider abzuklopfen und schaute mich entgeistert an „Wer bist du denn?“ Sie tat so, als hätte sie noch nie ein anderes Mädchen gesehen. Ich versuchte, mir ein lautes Lachen zu verkneifen, konnte es aber nicht mehr halten. Sie schien beleidigt zu sein. „Wenn es dich so interessiert, ich bin Lisa, ein normales, gewöhnliches Mädchen. Und du? Warum siehst du so komisch aus?“ Sie zögerte eine Weile, gab dann aber zur Antwort: „Ich heiße Rosalinde. Wenn du gerade durch einen Kamin gefallen wärst würdest du wohl genauso aussehen. Was ist Lisa überhaupt für ein Name? Kommst du von außerhalb des großen Wasserfalls, der am Rande der Welt liegt?“ Ich musste schon wieder loslachen. Ein Wasserfall am Ende der Welt? Rosalinde, ein altmodischer Name! Wer war sie überhaupt? „Was ist denn daran so komisch? Antworte mir, der Bediensteten des König Arthurs!“ Das Lachen verging mir. König Arthur? Bedienstete? Konnte das möglich sein? Nein! „ANTWORTE!“ Jetzt wurde sie richtig sauer und ich versuchte, ihr alles zu erklären. „Weißt du...ähm...du bist irgendwie in der Zukunft gelandet. Du kommst doch aus dem Mittelalter, oder? Wir schreiben das Jahr 2003. König Arthur ist schon lange tot.“ Rosalinde fiel vor lauter Schreck auf den Hintern. „2003?! Das kann nicht sein! König Arthur, Herr! Ich muss ihn retten, bevor ihm etwas zustößt!“
Sie richtete sich auf, kletterte wieder in den Kamin und befahl mir: „Bring mich zurück!“ „Wie soll ich das denn machen? Wie bist du überhaupt hierhin gekommen?“ „Ich musste für den Herrn den Kamin saubermachen, da bin ich eingestiegen, auf einmal wurde alles schwarz und...“ Sie holte einmal tief Luft. Dann fuhr sie fort: „...und dann war ich auf einmal hier!“ Das war sehr eigenartig. Sie musste wohl so etwas wie eine Zeitreise oder einen Zeitsprung gemacht haben, das war klar! Ich musste sie so schnell wie möglich wieder zurück ins Mittelalter schicken, sonst würde sich das ganze Geschehen bedächtig auf die Vergangenheit auswirken und so die ganze Geschichte durcheinander bringen. Das durfte auf keinen Fall geschehen!
„Wir waschen dich erst einmal, dann sehen wir weiter, ok?“ „Ähm, na gut! Wo ist die Waschtonne?“ Ich merkte schon, da musste ich ihr wohl noch so einiges klar machen.
Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis ich Rosalinde dazu überreden konnte, sich über dem Waschbecken zu waschen. Sie traute sich nicht einmal, den Wasserhahn aufzudrehen. Nachdem ich ihr dann aber mehrere Male vorgemacht hatte, wie man sich unter so einem „mysteriösen Werk eines bösen Zauberers“ wäscht hatte sie sich doch getraut. Als der ganze Ruß von ihrem Gesicht verschwunden war, konnte man ihr hübsches Gesicht erkennen. Sie hatte viele Sommersprossen, die hervorragend zu ihren langen, roten Haaren passten.
Ich führte sie nach draußen um zu sehen, wie sie wohl reagieren würde, wenn sie die ganzen Autos und anderen Fahrzeuge sehen würde. Doch kaum standen wir im Freien schrie sie plötzlich auf. „AH! Was ist das hier alles? Fahrende Kutschen aus einem harten Stoff? Und wo sind die Pferde, die sie ziehen?“ Das ganze Drama hatte sich mittlerweile zu einer echten Komödie entwickelt. Es war wirklich lustig anzusehen, wie Rosalinde zu jedem ihr unbekanntem Objekt rannte, es mit großen Augen bestaunte und alles anfassen wollte. „Hör doch mal auf, die Leute gucken doch schon ganz komisch“ , raunte ich ihr zu. Sie schaute mich an, fragte dann: „Aber es ist ja alles so neu hier. Lauter Dinge, die ich noch nie gesehen habe. Was ist das alles? Außerdem habe ich Heimweh! Ich muss doch den König retten!“
Ich konnte Rosalinde nur zu gut verstehen. Sie tat mir leid. Andererseits hätte es wohl eine geraume Ewigkeit gedauert, ihr alles zu erklären, was sie wissen wollte. Wie sollte ich sie nur zurückbringen? Sollte ich sie einfach wieder in den Kamin locken und abwarten, was geschehen würde? Nein, das würde wohl zu lange dauern. Ich war mir außerdem sicher, dass sie nicht eher gehen würde, bis sie alles wusste, was sie wissen wollte. Was sollte ich nur tun? Ich war wirklich verzweifelt.
Wir gingen wieder zu mir nach Hause. Ich wollte uns etwas zu Essen machen aber Rosalinde wollte nichts haben, dass sie nicht kannte. Tja, ich wusste ja nun, wie die mittelalterlichen Bediensteten von Königen denken. Also war ich die einzige, die eine kleine Mahlzeit zu sich nahm.
Als ich meine Suppenterrine ausgelöffelt hatte rannte genau in diesem Augenblick Rosalinde ins Wohnzimmer. Ich ahnte schon, dass sie wieder eine ihrer verrückten Ideen haben musste. Was war es wohl dieses Mal? Wollte sie versuchen, sich von einem Vogel in die Vergangenheit fliegen zu lassen? Ich folgte ihr ins Wohnzimmer. Man konnte unsere Fußabdrücke im ganzen Ruß auf dem Boden sehen. Sie stand vor dem Kamin, aus dem sie aufgetaucht war und redete anscheinend mit sich selbst. Aber es stand tatsächlich jemand im Kamin. Spielte mir hier jemand einen Streich? Oder war es wirklich ein Mann mit einem langen, weißen Bart, den ich da sehen konnte? So langsam zweifelte ich an allem, sogar an meine eigene Existenz.
Da drehte sich Rosalinde um, kam auf mich zu, umarmte mich und sagte: „Es hat mir bei dir wirklich sehr gefallen, Lisa. Aber nun ist Merlin gekommen und holt mich ab. Ich muss und möchte mit ihm gehen, das kannst du doch verstehen, oder?.“ „Ja, natürlich. Geh nur, lass dich nicht aufhalten. Aber warte noch einen Moment!“ Ich rannte noch schnell zum großen Bücherregal im Zimmer und holte ein dickes, schweres Lexikon heraus. Das drückte ich Rosalinde in die Hand. „Du kannst es mitnehmen. Niemand von uns findet noch Gebrauch für das. In dem Buch findest du alles Wissenswerte über meine Welt, eure Zukunft.“ Sie lächelte mich an. „Danke“. Sie stellte sich ohne ein weiteres Wort zu sagen wieder in den Kamin. Nun kam Merlin. Ich wollte unbedingt ein Kunststück von ihm lernen, aber ich dachte, dass jetzt gewiss nicht der richtige Zeitpunkt für Zaubereien sei. „Ich weiß, ihr seid jetzt nach der Zeit Arthurs sehr intelligente Menschen, aber ich muss dir trotzdem etwas erzählen!“ , flüsterte er. „Ich weiß, dass die Erde gar nicht flach ist. Sie ist rund! Das klingt ziemlich unglaubwürdig, aber ich schwöre dir, ich habe es mit eigenen Augen gesehen!“ Ich schmunzelte, verriet ihm aber nicht, dass die Menschheit das schon lange herausgefunden hatte, aus Angst, ich könnte ihn verletzen. Auch Merlin ging nun zurück in den Kamin. Er zwinkerte mir zu, wirbelte mit seinem Zauberstab wild umher und murmelte etwas vor sich hin. Ich konnte es leider nicht verstehen. Ein gleißender Strahl schoss aus dem Kamin. Er blendete mich und ich musste ganz fest die Augen zukneifen.
Als ich sie wieder öffnete, waren er und Rosalinde verschwunden. Der Abschied fiel mir nicht leicht, denn sie und ich waren in einer so kurzen Zeit sehr gute Freunde geworden. Eine Träne kullerte mir die Wange hinunter. Vor lauter Bedrückung schaute ich auf den Boden.
Oh nein! Der ganze Ruß! Meine Mutter würde mir den Kopf abreißen! Ich hätte zwar alle Beweise auf dieses Erlebnis weggesaugt aber es würde mir auch sonst niemand glauben. Also lief ich in den Flur und holte den Staubsauger.