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Zeugin

Mel

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06.11.2001
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Zeugin

„Mrs. Sandra Thomson, bitte in den Zeugenstand.“ Die Stimme des Richters hallte in dem großen Gerichtsaal wider. Alle Anwesenden schwiegen und sahen, nachdem der schon ergraute Mann hinter dem schweren Eichentisch die nächste Zeugin aufgerufen hatte, zur großen Flügeltüre, die von zwei Männern in Uniform bewacht wurde. Als die Tür geöffnet wurde verstummte jedes Husten und Räuspern. Die Hauptzeugin trat ein, alle Blicke auf sich gerichtet.
Sandra konzentrierte sich einen Schritt hinter den nächsten zu setzen, um nicht vor lauter Panik wieder hinaus zu laufen. Sie hatte sich diese Situation schon oft genug vorgestellt, doch half es ihr jetzt trotzdem nicht, innerliche Ruhe zu bewahren. Im Gegenteil, sie fühlte sich als würde sie zum hundertsten Mal dieselbe Hölle durchleben, mit dem einen Unterschied, der Gewissheit, dass sie ihr diesmal nicht mehr entkommen würde.
Mit gesenktem Blick und verängstigter Haltung schritt sie zu ihrem Platz. Sie versuchte an Matt zu denken, der irgendwo zwischen den fremden Menschen saß und ihr die Daumen hielt. Bei ihrem Sessel angekommen setzte sie sich und fühlte sich sogar ein klein wenig sicherer. Es war leichter zu sitzen als zu gehen wenn man von so vielen Augenpaaren verfolgt wurde. Als sie mit dem Stuhl ein Stück näher an den Tisch rückte, knarrte der Holzboden unter ihren Füßen - das einzige Geräusch, bis auf das leise Summen des Ventilators - wodurch es noch lauter wirkte, und Sandra das Gefühl des Unbehagens zurückgab. Sie blickte auf ihre am Tisch gefalteten Hände, die weiß und knochig wirkten, so verletzlich wie sie sich jetzt fühlte. Obwohl es bereits Anfang Juni war hatten sie noch nicht viel Sonne abbekommen.
Sandra sah nervös zum Staatsanwalt, der an seinem Pult einige Meter vor ihr saß und ihr gerade ein beruhigendes Lächeln zuwarf.
Mr. Brand, war ein hochgewachsener Mann, stattlicher Statur. Mit seinen breiten Schultern und seinem flinken Adlerblick, den er immer wieder durch den Raum schweifen ließ, hätte er optisch besser in eine Basketballmannschaft gepasst, als in diesen Gerichtsaal.
Während er sich wieder in seine Unterlagen vertieft hatte, sah Sandra zum ersten Mal direkt zu den Geschworenen. Sie versuchte mit großer Mühe ihren Blicken standzuhalten. Diesen Tip hatte ihr Mr. Brand gegeben. „Es macht einen ehrlichen Eindruck und zeigt, dass man nichts zu verbergen hat. Körpersprache ist vor Gericht sehr wichtig“, hatte er ihr erklärt. „Auch um einen glaubwürdigen Zeugen abzugeben, nicht nur für den Angeklagten.“
Sich seinen Worten entsinnend, straffte sie ihre Schultern, benützte auch den hinteren Teil des Stuhls und versuchte einen möglichst offenen Eindruck zu machen.
Bis jetzt hatte sie vermieden ins Publikum zu sehen. Die Zuschauer machten ihr Angst, denn irgendwo vor ihnen saß er. Jetzt sah sie bewusst die ersten Reihen vermeidend nach vorne. Sie starrten sie noch immer an. Sie alle verband die Neugierde um diese Frau. Wer war sie, was hatte sie gesehen? Nur einer wusste Bescheid. Als sich ihre Blicke trafen, sackte ihr Körper zusammen, wie eine aufblasbare Puppe, deren Luft entwichen war. Keiner außer ihr schien das hässliche Grinsen gesehen zu haben, dass über sein Gesicht gehuscht war. Es hatte bei der oberen Gesichtshälfte aufgehört, kalt und zugleich amüsiert über die verängstigte Frau im Zeugenstand, die mit ihrem Pferdeschwanz und ihrer schlanken Figur wie ein Schulmädchen wirkte.
Dann sah sie ihren Mann. Doch was tat er? Für einen kurzen Augenblick hätte Sandra schwören können, dass er dem Angeklagten zugezwinkert hatte, der sich jetzt wieder nach vorne drehte. Doch das war absurd. Sie war einfach nur verwirrt. Sie holte tief Luft und blickte in die erste Reihe. Er sah sie wieder an. Sandra lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er schien keine Angst vor ihrer Aussage zu haben. Dieser Mann war sich seiner selbst so sicher, fast hätte sogar Sandra ihm geglaubt, wenn sie an dem Tag nicht selbst dabei gewesen wäre und den Mann hinter dieser Fassade gesehen hätte. Hier wirkte er wie ein ganz normaler, gebildeter Familienvater, den man zu unrecht für etwas beschuldigte, für eine Tat, die er nie imstande wäre zu begehen - einen Mord.
„Mrs. Thomson“, drang die Stimme des Staatsanwaltes in ihre Gedanken. Sie blickte zu dem Mann auf, der jetzt direkt vor ihr stand. Wie lange er wohl schon um ihre Aufmerksamkeit bat? Sandra wusste es nicht, sie hatte ihn erst bemerkt, als er ihren Namen nannte, doch die leichte Ungeduld in seiner Stimme verriet, dass er schon länger hier stand.
„Darf ich sie um die Angabe ihres vollständigen Namens und ihres Berufsstandes bitten.“
„Sandra Juliette Thomson.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich unterrichte an der Norfolk Grundschule.“ Sie sah Mr. Brand an. Sie kannte die nächste Frage bereits und versuchte sich innerlich darauf einzustellen.
„Erzählen Sie uns bitte, Mrs. Thomson, was sie am 15.April dieses Jahres gesehen haben.“
Unvermittelt blickte Sandra in die erste Reihe, wo der Angeklagte neben seiner Rechtsanwältin, Clare Bates, saß. Einer etwas molligeren Frau Anfang fünfzig. Ihr Blick wanderte von der Rechtsanwältin wieder zurück zu der Person, die neben ihr saß und sie angrinste, als würde sie in einer Talkshow auftreten.
„Sie brauchen keine Angst zu haben.“ Sah man ihr ihre Angst sosehr an? Sandra versuchte sich zusammen zu reißen. Sie war ja nicht die Angeklagte, doch sie bestimmte mehr oder weniger über das Leben dieses Menschen, der sie immer noch so kalt ansah als könnte er sie auf der Stelle umbringen.
Er war ein Psychopath, das wusste Sandra, und nun lag es an ihr ihn dort hin zu bringen wo er hingehörte. Wo er niemandem mehr etwas tun konnte.
„Mrs. Thomson“, der Staatsanwalt sah sie anflehend an. Sandra bemerkte zum ersten Mal, wie gut er eigentlich aussah.
„Denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe“, flüsterte er Sandra zu und riss sei aus ihren Gedanken. „Sie sind eine starke Frau - das weiß ich - und Sie wissen es auch. Also bitte, erzählen Sie den Menschen hier was Sie gesehen haben.“
„Ich...“, begann Sandra, wurde aber sofort vom Richter unterbrochen.
„Mrs. Thomson, würden Sie bitte etwas lauter sprechen.“ Sandra räusperte sich und begann erneut.

Sandra konnte sich noch deutlich an den unterdrückten Schrei erinnern, als sie vor dem Haus ihrer Nachbarin stand und gerade dabei war die Türe zu öffnen. Der erste Gedanke war, dass die alte Dame gestürzt war. Hastig stellte Sandra die Einkaufstüten, die sie ihrer Nachbarin mitgebracht hatte, auf dem Treppenabsatz ab und stürzte ins Haus.
Ihr Atem stockte, als sie den Raum betrat und Mrs. Smith sah, deren Gesichtsausdruck sie bis heute in ihren Träumen verfolgt. Das Gesicht der alten Frau war blau angelaufen, die Augen weit aufgerissen. Um ihren Hals hatte sie einen braunen Strumpf.
Sandra sank auf den Boden, ihre Beine hatten ihren Körper nicht mehr tragen können. Sie zitterte am ganzen Körper, während sie den Blick nicht von dem bereits leblosen Körper nahm. Sie hockte auf den Knien und starrte das Gesicht ihrer Nachbarin an, deren lachende Gesichtszüge verschwunden waren. Sie sah nicht mehr aus wie Mrs. Smith, nein sie sah aus wie ein Gespenst aus einem Horrorfilm.
Plötzlich packte Sandra etwas von hinten. Eine große Hand grabschte nach ihrem Mund. Sandra schnappte nach Luft. Sie wollte schreien, konnte aber nicht genug Luft dazu holen. Sie versuchte aufzustehen, taumelte aber sofort wieder nach hinten. Sie wurde panisch. Ich will nicht sterben, dachte sie verzweifelt, während sie versuchte, die Hände, die sie festhielten von ihrem Körper zu reißen. Als es ihr nicht gelang, biss sie mit aller Kraft zu. Für einen kurzen Moment lockerte sich der feste Griff. Sandra nutzte diese Sekunde, indem sie sich aus den beharrten Armen wand und zur Türe stürzte. Doch bevor sie den Vorraum erreichte, hatte er sie schon wieder gepackt. Diesmal am rechten Unterarm. Sie machte eine Drehung und war plötzlich frei. Er stand ihr gegenüber. Einem inneren Impuls folgend schnappte sie nach seiner Maske, die er über den Kopf gezogen hatte, und riss sie mit einem kräftigen Ruck herunter. Vor ihr stand ein dunkelhaariger Mann, etwa einssiebzig groß. Er wirkte überrascht, doch in der nächsten Sekunde hatte er sich wieder gefangen. Bevor er sie ein zweites Mal packen konnte lief so schnell sie konnte zu ihrem Wagen. Die Türe hatte sie zum Glück nicht verschlossen. Sie schaffte es sich in den Wagen zu setzen, noch bevor er sie erreichen konnte. Der Zündschlüssel steckte noch im Schloss; sie drehte ihn, während der Mann versuchte die Autotür zu öffnen. In ihrer Panik hatte Sandra vergessen sie zu verriegeln. Es blieb ihr nichts anderes übrig als den ersten Gang einzulegen und Gas zu geben, gerade in dem Moment als der Mann die Seitentüre aufriss. Sie verriss das Lenkrad nach rechts, um den Mörder von Mrs. Smith, der sich noch immer an der Fahrertür anklammerte, loszuwerden. Er riss die Augen für einen Moment weit auf, doch gleich darauf verzog sich sein Gesichtsausdruck zu einem psychopathischen Grinsen. Dann ließ er los.

„Ich hatte Ihn abgehängt und fuhr zur Polizei.“ Während Sandra erzählt hatte, hatte sie sich ein Stück ihres linken Zeigefingernagels abgerissen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Jetzt sah Sandra wieder den Mann an, der vor ihr stand. Sie wunderte sich, dass er verschwommen war und bemerkte erst dann die Tränen in ihren Augen. Sie versuchte sie hinunterzuschlucken, was ihr aber nicht gelang, und die Tränen kullerten über ihre Wangen. Mitleidig und zugleich begierig darauf noch mehr tragische Tatsachen zu hören starrten sie die Zuschauer im Gerichtssaal an.
„Sie waren sehr tapfer“, flüsterte Mr. Brand ihr zu und berührte mit einer flüchtigen Bewegung ihren Arm. Dann wandte er sich an die Anwältin des Angeklagten. „Ihre Zeugin, Mrs. Bates.“

Als die Verhandlung endlich zu Ende war und Sandra sich zwischen den Menschenmassen hindurchdrängte, um möglichst rasch aus diesem Haus zu kommen, spürte sie trotz des Gedränges, wie sie jemand am Arm berührte. Sie drehte sich um und starrte in das Gesicht des Angeklagten, der von zwei Polizisten hinaus geführt wurde.
„Weißt Du das beste?“, grinste er sie an. „Das hättest Du sein sollen.“
Sandra lief es kalt über den Rücken. Sie hielt Ausschau nach ihrem Mann, der wahrscheinlich schon längst vor ihr draußen war und auf sie wartete.
„Weißt Du noch was besseres?“ Die Polizisten zogen ihn von ihr weg, sodass sie ihn nur mehr wie einen Lufthauch sagen hörte: „Dein eigener Ehemann hat mich engagiert.“ Sandra sah wieder ihren Mann im Gerichtssaal, wie er ihm zugezwinkert hatte. Und dann sah sie nichts mehr. Sie hörte nur mehr, wie aus weiter Ferne, Stimmengewirr und fühlte, als würde das Blut aus ihr weichen.
„Wir sind gleich zu Hause“, hörte sie ihren Mann als letztes sagen.

 

Hallo Mel,
„Die schwarze Gestalt“ hatte schon einige holprige Satzstellungen, die von der Handlung abgelenkt haben.
Und was ist das jetzt mit der Zeugin?
Spannend geschrieben!
Die Situationen sauber und bildhaft dargestellt!
Hat wirklich Spaß gemacht zu lesen.
Gut, man kann sich darüber streiten, ob es besser ist die Tränen runterzuschlucken, statt sie zu unterdrücken.
Bei mir kommen sie aus den Augen.
Oder ob es logisch ist, wenn sich Auftraggeber und Täter im Gericht wohlwollend zuzwinkern, wozu es ja keinen Grund gibt, während einer von Beiden verurteilt wird.
Das sollten aber nur schüchterne Anmerkungen sein.
Sonst: Bravo
Mach weiter so

 

Freue mich über die nette Kritik. Stimmt schon, dass das mit dem Zuzwinkern im Gerichtssaal etwas unrealistisch ist. Über die Tränen kann man streiten. Es ist doch nur eine Redensart. Aber wie gesagt, ich freue mich, dass die Geschichte gut angekommen ist.
:)

 

Hallo Mel, ich sag die jetzt einfach mal knallhart alle Sachen, die mich beim Lesen gestört haben (auch wenn man darüber streiten kann) ;)
Erstens waren da die "flinken Adleraugen", die für mich einfach etwas lächerlich klingen (und lange nicht so gut, wie Metaphern wie z.B. "Es war so dunkel wie eine Wagenladung Arschlöcher"). Dann störte mich, dass die Zeugin nach einer langen Beschreibung ihrer Tortur auf dem Zeugenstand den Staatsanwalt attraktiv findet (????) na ja, vielleicht denken Frauen in solchen Situationen ja so :D
Meiner Meinung nach sollte man auch jede Form des Passivs unbedingt vermeiden, ausser in Notfällen (Nicht "Die Tür wurde geöffnet" sondern "Die Tür öffnete sich").
Insgesamt war sie aber sehr gut und spannend geschrieben (saubere Handlung, gute Beschreibungen). Durch deine extrem detailgenaue Beschreibung hast du bei Tolkien-Fans wie ich Pluspunkte. Ach so, die Tränen kann man glaube ich schon runterschlucken, oder :confused:
Also, weiter so!
olafson
:ak47: :pope:

 

Hi Mel,

die Geschichte hat mir sehr gut gefallen.
"Tränen runterchlucken" oder auch nicht - das spielt letztendlich keine Rolle (ich glaube ich habe das auch schon öfter in verschiedensten Romanen gelesen!).
Aber ich frage mich nun natürlich, was aus der Protagonistin wird. Ist da vielleicht (oder besser: hoffentlich) eine Fortsetzung geplant? Du kannst uns doch nicht einfach so in der Luft hängen lassen?

Weiter so, und Gruss,
philipp.

 

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