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Zu spät

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18.02.2004
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Zu spät

Sie steht etwas abseits von der Gruppe. Wie eine Beobachterin, die mit dem Geschehen nichts zu tun hat, die einfach nur so dabeisteht. Immer wieder schweifen meine Blicke in ihre Richtung. Wieso steht sie so abseits? Wieso tut sie so unbeteiligt?
Nach einer Weile treffen sich unsere Blicke. Schnell zieht sie ihre Kapuze tiefer ins Gesicht. Hat sie etwas zu verbergen? Will sie nicht erkannt werden? Oder will sie nur verhindern, dass der immer stärker werdende Regen ihre Frisur und ihr Make-up zerstört? Wieso ist sie überhaupt hier? Anstand? Wer ist sie überhaupt? Ich habe sie nie zuvor gesehen.
„So nimm denn meine Hände und führe mich
Bis an mein selig Ende und ewiglich..“

Die anderen haben wieder angefangen zu singen. Das letzte Lied, dass für Alex gesungen wird hier auf der Erde. Nachdem der Pfarrer ein letztes Gebet gesprochen hat und jeder von uns mit einer Schaufel etwas Erde auf den Sarg geworfen hat, zerstreuen sich die meisten. Ich bleibe noch da. Ich will nicht wahr haben, dass ich Alex hier nie wieder sehen werde. Und nach dem Tod? Wer weiß schon was da passiert.
Bis jetzt hat sie sich nicht an sein Grab gewagt und erst, als ich mich umwende, geht sie zögernd hin.
Immer wieder blicke ich zurück, doch sie scheint es nicht zu bemerken. Es regnet noch immer. Aber vor mir kommt auf einmal die Sonne zwischen den Wolkenbergen hervor. In Erwartung eines Regenbogens drehe ich mich um.
Wie ein Tor in eine andere Welt spannt sich der Bogen über das Grab von Alex, an dem sie immer noch steht. Wie ein leuchtendes Tor, das Alex aufnimmt, ihn willkommen heißt und mir ein Lächeln auf die Lippen bringt. Um Alex brauch ich nicht mehr trauern, er ist jetzt gut aufgehoben, wo immer er ist. Aber wer ist sie? Was hatte sie Alex bedeutet, oder was hatte Alex ihr bedeutet, dass sie noch so lange an seinem Grab steht?
Der Regenbogen verblasst und der Regen wird wieder stärker, während ich zu meinem Auto gehe, das einsam auf dem Parkplatz steht. Nur ein anderes Auto steht auf der anderen Seite und gehört wahrscheinlich ihr.
„Wo ist jetzt schon wieder der Schlüssel!“ Nachdem ich meine ganzen Taschen erfolglos durchsucht habe, mache ich mich wieder auf den Weg zu Alex’ Grab. Vielleicht ist er mir dort aus der Tasche gefallen?
Als ich näher komme steht sie immer noch regungslos an seinem Grab. Ich versuche möglichst leise zu sein um sie nicht zu stören. Sie scheint mich nicht zu bemerken, während sie leise vor sich hin murmelt. Als ich näher komme und besser hinhöre meine ich Brocken zu verstehen: „ ... es ging nicht anderes ... es war nicht meine Entscheidung ... ich wollte es nicht ... Alex, mein ... Ich liebe dich ...Zu spät, zu spät, zu spät “ Immer wieder wiederholt sie diese zwei Worte. Diese zwei Worte voller Verzweiflung, diese beiden endgültigen Worte, die kein Zurück mehr erlauben. Die ganze Zeit über murmelt sie diese Worte, unfähig zu weinen, unfähig zu gehen.
War sie etwa seine Freundin? Aber sie erscheint mir zu alt. Alex war doch erst zwanzig und sie sieht mir Mitte dreißig oder sogar älter aus.
Endlich entdecke ich meinen Schlüssel. Er liegt genau vor ihr. Ich kann ihn nicht holen, ohne dass sie mich bemerkt. Ich bleibe in einiger Entfernung stehen um sie nicht zu stören. Aber sie rührt sich nicht von seinem Grab.
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es höchste Zeit ist aufzubrechen. Der Regen hat inzwischen nachgelassen und die Wolken verziehen sich, lassen die letzten goldenen Strahlen, der langsam untergehenden Sonne auf uns fallen. Es widerstrebt mir, aber ich muss sie stören.
Als ich den Schlüssel vor ihr mit einer Entschuldigung aufhebe, schaut sie erschreckt auf. Und während ich wieder auf den geschlossenen Sarg meines Bruders, meines starken großen Bruders, schaue, fangen auch bei mir die Tränen wieder an zu fließen. Gerade in den letzten Jahren haben wir uns so gut verstanden und jetzt das. Wieso musste es ihn treffen? Er hätte noch soviel erreichen können! Wieso gehörte er zu den 20%, die es nicht schaffen? Vorgestern lag er noch in seinem Bett, und obwohl wir wussten, dass nur ein Wunder ihn noch retten könnte, oder gerade deshalb hoffte ich auf dieses Wunder. Alex selbst hatte sich mit seiner Situation abgefunden. Er sprach uns anderen immer wieder Mut zu. Auf der einen Seite wollte ich nie von seiner Seite weichen, auf der anderen Seite wollte ich gar nicht mehr zu ihm gehen, denn jedes Mal, wenn ich ihn sah, wusste ich, dass er es nicht schaffen würde, dass er uns verlassen würde und er wusste es auch. Und das wollte ich nicht wahr haben.
Eigentlich will ich nach Hause fahren. Aber ich kann nicht. Wieder schüttelt mich ein Schluchzen nach dem anderen, während ich vor Alex’ Grab knie. Dass meine Hosen schlammig werden ist mir egal.
Als ich mich wieder soweit gefasst habe und aufschaue steht sie immer noch da. Und wieder murmelt sie diese Wort „Zu spät, zu spät, zu spät...“. Diese Worte, die mir die Tränen in die Augen treiben.
„Wofür ist es zu spät?“ frage ich sie, all meinen Mut zusammennehmend.
Sie schüttelt nur den Kopf. „Wäre ich nur zwei Wochen, ja zwei Tage früher gekommen, ich hätte ihn noch kennen lernen können. Aber ich konnte ja nicht wissen, dass er im Sterben liegt.“
„Sie waren seine leibliche Mutter?“ Jetzt endlich wird es mir klar. Alex und ich, wir hatten beide nach unserem achtzehnten Geburtstag die Adressen unserer leiblichen Eltern ausfindig gemacht und ihnen geschrieben, weil wir sie kennen lernen wollten. Doch bis jetzt hatten weder meine, noch Alex’ Eltern geantwortet.
„Ich hatte solche Angst vor dem Zusammentreffen und habe es deshalb immer wieder vor mir hergeschoben.“ Verständnis zu zeigen fällt mir immer schwer, aber trotzdem versuche ich es und lege meinen Arm um Alex’ Mutter, die schon wieder diese beiden furchtbaren Worte vor sich hinmurmelt „Zu spät, zu spät, zu spät...“. Und als ob sie erst jetzt diese Worte verstehen würde, ringt sich ein Aufschrei aus ihren Lippen. „Zu spät, mein Gott, es ist zu spät!“ Sie reißt sich aus meiner Umarmung und geht in die Knie, als ihr endlich die erlösenden Tränen kommen. Ich lasse sie weinen, ja, ich weine mit ihr.

„Er war froh gehen zu können. Die letzen Tage waren eine Qual. Er war nur noch betäubt von Schmerzmitteln aller Art, aber er hatte Frieden. Frieden mit uns und mit Gott. Und er schloss sogar sie in seine Gebete.“
Während wir so auf dem Friedhof stehen unter dem Sternenhimmel, der immer mehr Sterne sichtbar werden lässt, ist mir Alex wieder so nah wie in den letzten Tagen. Er wird immer ein Teil von mir bleiben und in mir weiterleben. Ich lade Alex Mutter ein mit zu uns zu kommen, doch sie lehnt ab, will alleine sein. Sie will sich melden wenn sie das verkraftet hat und den Alex unserer Erinnerungen kennenlernen.


Entstanden aus den Wörtern: Regenbogen, Tod, Kapuze, Sternenhimmel, singen

 

Hi Illusionist!
Danke für das Lob, super, dass jemand auf die Geschichte antwortet und sie dann auch noch schön findet :).
Ja, ich werde auf jeden Fall weiterschreiben, soweit's die Zeit erlaubt.
Deine Geschichte werd ich auch demnächst mal lesen. Zum Vergleich.
LG
Eonna

 
Zuletzt bearbeitet:

Für zwei Wochen aus der Wörterbörse in Alltag verschoben. Bitte am 05.05.04 zurück.

 

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