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Zwei fliegen
Andreas ist nervös, angenehm aufgeregt. Er geht durch die Luke in die Kabine, aus der es kein Zurück mehr gibt, und sein Adrenalinspiegel erreicht einen ersten Höhepunkt. Kurz darauf steigt das Flugzeug mit ihm in den Himmel.
Unten stehen seine Eltern, die ihm den Tandemsprung zum Geburtstag geschenkt hatten, sowie einige seiner Freunde – alle mit Fotoapparaten und Videokameras ausgestattet – und warten darauf, Andreas bei seinem ersten Sprung vor die Linse zu bekommen.
Außer Andreas und seinem Sprungbegleiter befinden sich noch drei andere Tandempaare im Flugzeug, das nun kräftig an Höhe gewinnt. Kurz bevor sie die Viertausendmeter-Marke erreichen, steigt Andreas´ Adrenalinspiegel auf einen weiteren Höhepunkt, und bis zum Absprung werden noch mehr dieser Hormone ausgeschüttet. Nervenkitzel.
Endlich fliegt Andreas im freien Fall, und er ist froh, daß er sich überwunden hat. Seine Aufregung geht in ein Genießen über – welch herrliches Gefühl, wie ein Vogel im Sturzflug auf die Welt zuzurasen. Nach einer Weile öffnet sich der Schirm, danach kommt es ihm vor, als würde er mit ausgestreckten Flügeln dahingleiten. Wie der Falke, der langsam am Himmel kreist und auf Beute lauert.
Dr. Rascher hatte es nicht notwendig, auf Beute zu lauern. Er fuhr eine Runde mit seinem Wagen und ließ hinterherlaufen, was er an Material für seine Arbeit brauchte. Acht Stück fand er heute passend.
Jonas kam an die Reihe und wurde durch die Luke in die Kabine geschoben, aus der es kein Zurück mehr gab. Das Barometer stieg rasch an, Jonas kam nicht mehr dazu, über die Situation nachzudenken. In weniger als einer Minute war die Luft so dünn, wie auf viertausend Metern Höhe. Er hatte Ohrensausen und es wurde ihm schwindlig, da stieg plötzlich der Druck wieder an, als fiele Jonas im Sturzflug zurück auf fünfhundert Höhenmeter.
Dr. Rascher beobachtete. Seine Arbeit machte ihm richtig Spaß. Er bewegte wieder den Hebel und ließ den Zeiger auf achttausend Meter klettern.
Jonas konnte nicht mehr denken und nahm nur mehr verschwommene Umrisse wahr. Seine Lunge wollte atmen, konnte sich aber nur verkrampfen. Das Herz klopfte, als wollte es vor Angst zwischen den Rippen hervorspringen, auch die Schlagadern übernahmen das Pochen, vibrierten in den Gliedern, und in Jonas’ Kopf fühlte es sich an wie im Inneren einer Trommel, die im Zirkus gerade den Höhepunkt verkündete.
Als Dr. Rascher dem Hebel noch einen Ruck gab, und die Luft so dünn wurde wie in einer Höhe von fünfzehntausend Metern, platzten Jonas’ Gefäße und sein Blut verteilte sich im Kopf und in seinem Körper.
Jonas war bereits tot, als die Luke aufgerissen wurde und die Luft zu ihm hineinschoss, als drückte ihn jemand aus fünfzehntausend Metern Höhe plötzlich auf den Erdboden zurück.
Rasch beförderte man ihn in den Operationssaal und öffnete die Schädeldecke, um die Auswirkungen ausführlich dokumentieren zu können.
Jonas starb einen von vielen Toden für die deutsche Luftwaffe und die Wissenschaft.
Andreas landet mit seinem Sprungbegleiter weich, auf sandigem Boden. Gemeinsam mit seinen Eltern und Freunden betritt er wenig später ein Restaurant, in dem noch ein bisschen gefeiert wird. Sein Freund Bruno kann wieder einmal seine politischen Statements zum Tage nicht zurückhalten und fragt: »Weißt du eigentlich, woher die Wissenschaft ihre Erkenntnisse darüber hat, bis zu welcher Höhe ein Fallschirmsprung ungefährlich ist?«
»Nein, erzähl!«, zeigt sich Andreas wissbegierig.
»Also, das war im KZ Dachau, ein gewisser Dr. Rasch-«, Bruno wird von Andreas’ Mutter unterbrochen.
»Sowas wollen wir jetzt nicht hören, an so einem schönen Tag!«