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„Hey, wollen wir ficken?“
„Hey, wollen wir ficken?“
Er stand vor mir, hatte die Hose praktischerweise, ohne meine Antwort abzuwarten, gleich heruntergelassen, sodass sie ihm viel zu weit, um seine dürren Knie hing. Die Gürtelschnalle wippte noch ein bisschen. Eine recht hektische Erzieherin lief ihm sofort hinterher und zog ihm, ohne ein Wort zu verlieren, die Hose wieder hoch.
„Entschuldigen Sie bitte“, bat sie so zuversichtlich lächelnd, wie es in einer solchen Situation möglich ist, „ihm fehlt es ab und zu an der nötigen Distanz.“ Sie verwendete einen Fachausdruck dafür, den ich mir nicht merken konnte, der aber sicherlich richtig war. Sie zog den jungen Mann durch den Bus zu den Sitzplätzen, auf denen wohl die Anderen aus seiner Gruppe saßen. Ich hörte, wie sie leise mit ihm schimpfte.
„Unerhört", mokierten sich einige der anderen Fahrgäste, „man sollte solch eine Belästigung verbieten." Es kam nicht einmal eine Diskussion zustande, so einig war man sich.
„Sie sollten den jungen Mann anzeigen“, wandte sich die Dame zu meiner rechten an mich, „schließlich können auch die sich nicht alles erlauben.“
„Warum?" Ich wandte mich ihr zu, um vielleicht in ihrem Gesicht lesen zu können, wer denn die überhaupt sind. „Was hat er denn Schlimmes getan? Er hat mir eine Frage gestellt, die ich mit Ja oder Nein beantworten konnte."
„Er hat sich vor Ihren Augen entblößt", echauffierte sie sich, „ich nenne so etwas 'sexuelle Belästigung'." Sie platzierte ihre Einkaufstasche auf ihrem Schoß, als ob sie ihn schützen müsste. „Das darf man niemandem durchgehen lassen." Was hätte ich antworten sollen? Der Tumult, der entstand, war mir unangenehmer als der entblößte Unterleib, die Kommentare fand ich quälender als die direkte Frage des jungen Mannes.
„Er war doch ganz hübsch anzusehen“, grinste ich meine Nachbarin an. „Belästigt fühlte ich mich jedenfalls nicht.“
Sie rutschte ein Stückchen fort von mir, zwängte sich näher ans Fenster und korrigierte die Position der schützenden Einkaufstasche: „Dann sind Sie entweder ein Geduldsengel oder pervers.“
Zu ihrem Glück musste ich aussteigen, sie würde mich wahrscheinlich nicht wiedersehen.
„Hey, wollen wir ficken?“
Wir fuhren nicht im Bus, wie beim ersten Mal. Mein Weg führte mich an seinem Heim vorbei, da ich zum U-Bahnhof wollte. Dort stand er allein auf einer Wiese und stürzte mit seiner Frage auf mich zu.
Er hatte die Hose dieses Mal oben gelassen, soweit hatte man ihn schon dressiert. Er grinste herausfordernd, und dem Grinsen war anzumerken, dass er auf diese Frage noch nie eine ordentliche Antwort erhalten hatte. Wusste er, was er da fragte? Wusste er um die Bedeutung des Wortes?
Seine Augen strahlten mich an, sie glänzten braun in seinem vor Freude zuckendem Gesicht. Er hielt es vor Spannung kaum aus, so sehr wartete er darauf, dass ich mich endlich ärgern würde.
Könnte ich ihn mit einem „Ja“ überraschen? Oder würde es ihn enttäuschen?
Er sah nett aus, nicht wirklich hübsch, aber sehr sympathisch, und er hatte etwas an sich, dass mich neugierig machte.
„Hey, wollen wir ficken?“, wiederholte er seine Frage voller Ungeduld. Wahrscheinlich war er es nicht gewohnt, so lange auf eine Reaktion warten zu müssen. Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte ein paar Minuten übrig, die ich mir nehmen könnte.
„Nein“, antwortete ich ihm freundlich und sah dabei fest in seine Augen, „aber wenn du magst, können wir uns ein bisschen unterhalten.“ Dabei setzte ich mich zu seinen Füßen auf die Wiese.
Er zögerte ein wenig, bevor er sich zu mir setzte: „Lieber würde ich ficken.“
„Ich kenne dich doch gar nicht", gab ich ihm zu bedenken, „stört dich das nicht?" Er schüttelte den Kopf so heftig, dass sein ganzer Oberkörper gleich mit in Bewegung geriet: „Nein“, grinste er, „du siehst gut aus und du gefällst mir“.
Ich schätzte ihn auf Mitte Zwanzig. Ganz sicher war er heute morgen nicht rasiert worden, oder konnte er sich selbst rasieren? Seine Haut war glatt, und es musste sich gut anfühlen, ihm den Rest Rasierschaum aus dem Gesicht zu waschen. Er war schlank, und wenn er nicht sprach, war nicht zu bemerken, woher er kam.
„Du gefällst mir auch“, antwortete ich lächelnd, „aber ich möchte trotzdem nicht.“
„Schade.“ Ein leichter Stich Traurigkeit überschattete ihn, dennoch stellte er fest, dass ich nett sei, und dass ich es mir ja noch mal überlegen könnte.
Ich schaute erneut auf die Uhr, eigentlich nur, um meine verwirrte Flucht zum Bahnhof einzuleiten, denn auch wenn ich nein gesagt hatte, er gefiel mir wirklich.
„Hey, wollen wir ficken?“
Meine Wege hatten mich in den letzten Tagen öfter als nötig am Bahnhof vorbei geführt, und so manches Mal hatte ich ihn getroffen. Ich hatte schon von weitem gespäht, ob ich ihn sehen würde, mich gefreut, wenn ich ihn erblickte, und meinen Schritt automatisch beschleunigt, um ein bisschen Zeit zu haben, wenn er mich ansprach. Er sprach mich immer an, er stellte immer diese Frage, aber er grinste anders dabei, etwas verschworen, als sei es ein Geheimnis zwischen uns. Langsam schlichen sich Vertraulichkeiten ein. Er fing an, mir auf die Schulter zu fassen, wenn er fragte, ich fing an, ihn zu kitzeln, wenn wir nebeneinander im Gras saßen.
Ich schüttelte ihm die Hand zur Begrüßung, wodurch seine Frage noch etwas merkwürdiger anmutete. Ich lernte, ihn zu mögen, und je mehr ich ihn mochte, umso schuldiger fühlte ich mich dafür.
Er war so warm, wenn ich ihm beim Kitzeln sein Hemd etwas hochschob, um an seinen Bauch zu kommen. Er war so zart, wenn er sich in dieser Balgerei tapsig entschloss, mich zu umarmen, mir mit seinem Gesicht ganz nah kam und ungelenk seinen heißen Atem ins Ohr pustete.
„Was machst du am Wochenende?“, fragte ich ihn, als er mir mal wieder seine Begrüßungsfrage stellte.
„Ich warte hier auf dich.“
Es war so schön, wie direkt er war. Ich suchte Vorwände, um zum Bahnhof gehen zu können, er brauchte das nicht. Er wartete auf mich.
„Hast du nicht Lust, mich zu besuchen?“
„Wollen wir dann ficken?“
Ich konnte ihm die Frage nicht mit Nein beantworten. Ich wusste, wenn er sie mir in meiner Wohnung stellen würde, würde ich ja sagen, gespannt, was dann passiert. Würde er sich einfach die Hose runterziehen, wie beim ersten Mal im Bus? Gern würde ich ihm sanft hinaus helfen, würde ihm beim Toben das Hemd öffnen und ausziehen, ihn kitzeln, streicheln und küssen, seinen Körper genießen, dem ich mich hingeben wollte. Gern würde ich mich von seinen etwas ungeschickten Händen betasten lassen, irgendwo auf seiner forschenden Suche nach Liebe und Sex.
Gern würde ich mit ihm einfach vor dem Fernseher sitzen, würde ihm vorlesen und dabei mit ihm kuscheln.
„Wir könnten ins Kino oder ins Theater gehen." Er verzog enttäuscht den Mund, aber er sagte nichts.
„Es sind ja noch ein paar Tage hin bis zum Wochenende", tröstete ich ihn, „wir können uns ja noch etwas einfallen lassen." Ich stach mit dem Finger leicht in seinen Bauchnabel, und erhob mich von der Wiese.
„Bis morgen.“ Er blieb liegen, als ich ihm die Hand hinstreckte, er winkte mir hinterher und lachte laut.
„Mir ist was eingefallen!“, rief er mir so breit grinsend hinterher, dass ich wusste, was ihm eingefallen war. Und er wusste, dass ich es wusste, denn sonst hätte er es laut gesagt.
„Ich muss verrückt sein", dachte ich mir und die Schamesröte kroch mir ins Gesicht, obgleich er seinen Einfall gar nicht für jeden hörbar kundgetan hatte. Ein Heer von Fragen und Ängsten machte sich über mich her.
Wie verbrachte er seine Tage, und was würde passieren, wenn ich mich mit ihm anfreunden würde. Würde ich ihn besuchen dürfen oder am Wochenende zu mir nach Hause holen? Wer besuchte ihn bisher? Hatte er eine Familie, die sich um ihn sorgte?
Wie wäre es eigentlich gewesen, wenn ich ihn ganz normal kennen gelernt hätte, wenn ich schon einen Teil meines Lebens mit ihm verbracht hätte, bevor er seine geistige Kraft, durch einen Unfall oder einen Schlaganfall verloren hätte. Würde ich mir dann Gedanken darum machen, ob er mir gefallen dürfte, und was andere darüber denken?
Aber wäre es nicht perverse animalische Lust, die mich dazu treiben würde, seine Frage mit Ja zu beantworten? Ist gleichberechtigte, gegenseitig erfüllende Sexualität überhaupt möglich mit ihm? Kann man lieben, wenn man keine Gespräche führen kann?
Würde er mir jemals über sich erzählen können, über seine Geschichte, über sein Leben, über seine Gefühle? Würde ich mich mit ihm jemals über Bücher austauschen können, könnte ich ihn für ein Theaterstück begeistern oder für einen Film?
„Hey wollen wir ficken?“
Ich entschied mich für meine Ängste und blieb beim Nein. Ich mied den Weg zum Bahnhof, jedenfalls den direkten, denn es gab einen zweiten, sehr viel weiteren Weg. Ich sagte nie adieu, ich wechselte einfach meine Gewohnheiten. Irgendwann sah ich seine strahlenden Augen nicht mehr in meinen Wachträumen, seine Frage erschuf keine Fantasien mehr in mir, für die ich mich schämte. Mit der Scham, ihn allein gelassen zu haben konnte ich besser leben. Vielleicht würde er ja mal bei sich im Heim jemanden unter den anderen Behinderten finden, der seine Frage mit Ja beantwortete? Vielleicht würde ja dann ein gnädiges Pädagogenauge die Tür schließen und den beiden ihren Spaß lassen?