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ADHS (werktags)

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13.12.2021
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ADHS (werktags)

Alles um mich herum ist grau, nicht definierbar, als wäre ich gefangen in einer Masse aus Nichts. Ich laufe durch die Wohnung und weiß nicht, wohin mit mir, obwohl der Plan voll ist von Dingen, die nicht viel erfordern, wirklich nicht viel, manche fast gar nichts. Ich laufe am Spiegel vorbei, sehe mich an, schaue aus leere Augen in leere Augen und schüttle einfach nur den Kopf. Ich kann es nicht erklären, niemand konnte das bisher, und irgendwie scheint es auch niemanden so richtig zu interessieren. Mein Kopf rast von einer Sache zur nächsten und den Fokus zu behalten ist unmöglich. Es fühlt sich an wie eine Behinderung, ich funktioniere nicht, ich mache nicht das, was ich soll und wofür ich bezahlt werde. Meistens sitze ich den ganzen Tag rum und mache sinnlose Dinge, schaue Dokus, deren Inhalt ich ohnehin wieder vergessen werde, oder spiele Schach. Dieses Schachspielen ist wahrscheinlich das Schlimmste, wie ferngesteuert greife ich zu meinem Handy, öffne die App, spiele eine Runde und hasse alles daran, aber klicke sofort auf Neues Spiel. Ich bin zu nichts zu gebrauchen, zu gar nichts, und die Einsicht quält mich. Manchmal nehme ich all meinen Willen zusammen, atme tief durch und versuche zu funktionieren, wenigstens für ein paar Minuten, aber sofort bricht alles in sich zusammen. Ich kann es nicht, mein Hirn will es nicht, kompletter Blackout. Die einfachsten Aufgaben dauern Ewigkeiten, wenn ich es überhaupt schaffe, sie zu erledigen. Mein Kopf platzt und hinterlässt nichts als Leere, alles ein riesengroßes Loch. Ich spiele eine Runde Schach und schmeiße mein Handy mittendrin an die Wand. Dann öffne ich den Browser, will irgendwas nachschauen, öffne chess.com und schlage gegen meinen Computer. Dann ein Word-Dokument, wirre Zeilen laufen innerhalb von Sekunden das Blatt entlang wie ein riesiger Wurm, alles nicht so richtig verständlich, aber immerhin Output, immerhin etwas, das ICH gemacht habe, 840 Wörter, ich werde nicht wieder reinschauen, vielleicht lade ich sie irgendwo hoch, wahrscheinlich aber nicht. An Arbeit nicht zu denken, ich mache eine Wäsche und lege mich hin, zehn Minuten später stehe ich wieder auf und schreie still den Spiegel an, wie kann das sein, ich war doch mal gut in allem, sogar mal hochbegabt, ha ha, ich lache mich tot und versuche ein bisschen zu weinen. Eine Mail kommt rein, kannst du bitte, machst du bitte, ich schalte den Computer aus und verkrieche mich unter der Decke, nein, nichts davon kann ich, nichts davon werde ich je können, ich bin vollends gescheitert und kriege saumäßig viel Kohle dafür. Und niemand merkt was, ist das nicht fast schon witzig? Das zeigt ja wohl die Relevanz dieses Jobs, und morgen muss ich Leuten erzählen, wie man ein Forschungsdesign aufstellt, ich schreie nochmal den Spiegel an, diesmal vom Bett aus, und werfe ein T-Shirt auf mein Gesicht. Der Therapeut fragt mich morgen wieder, wie es läuft, scheiße läuft es, es läuft gar nichts, ich spiele eine Runde Schach und mache mir ein Müsli, vergesse, die Milch vorher zu schütteln und schütte die ganze Schale weg, den Löffel schleudere ich achtkantig auf den Boden, die können mich alle mal. Durchatmen, tief durchatmen, ich lasse mich aufs Sofa fallen und starre an die Decke, eigentlich müsste ich was mit Medien machen oder so, irgendwas schreiben, ist ja auch scheißegal, ich kann es eh alles nicht, vorne und hinten nicht, ich denke über das Wetter nach und den Nordirlandkonflikt und das Müsli, schreibe mir auf, was ich gern machen möchte, lösche die Notiz und vegetiere weiter, die Gedanken rasen vom Reifenwechsel über das verkackte Müsli hin zu Mama, die letzte Woche Geburtstag hatte, ihr Tag war Scheiße, viel davon war meine Schuld, ich muss eine Mail beantworten und spiele Schach, eine Runde, zwei Runden, dann landet das Handy im Mülleimer und der Kopf auf der Tischplatte, einundzwanzig, zweiundzwanzig, ich kann nicht mehr und schlage mit der Faust auf das Kiefernholz, dann in mein eigenes Gesicht, nochmal, dann nochmal. Es ist 18:51, der Tag schon wieder fast vorbei, wieder nichts geschafft, rein gar nichts, ich springe auf und renne zum Computer, schalte ihn wieder ein, chess.com, nein, Mailprogramm, tippe hastig eine Antwort und vergesse den Anhang, noch eine hinterher, dann noch eine, bin wahnsinnig motiviert, ich muss einen Einladungstext korrigieren, alles klar, das kriege ich hin, fünf Minuten später fertig und abgeschickt, leider den Änderungsmodus vergessen, aber das ist egal, egal, immerhin etwas. Jetzt aber chess.com, eine Runde zur Belohnung, nach Bauer auf E4 schließe ich die Seite und schaue eine Doku über die Frankfurter Altstadt, wahnsinnig uninteressant, ich klicke weg, Alexa spiel WDR Cosmo, Alexa leiser, danke, eine Runde Schach geht wohl doch noch, in der Mitte verliere ich meine Dame, schreie ins Sofakissen und setze Wasser auf, vielleicht sollte ich mal einen Tee trinken, gieße ihn auf, lasse ihn ziehen und stehen und er ist kalt, schütte ihn weg, koche das Wasser nochmal und gieße den zweiten gar nicht erst auf. Ich habe mir noch nicht die Zähne geputzt heute, das mache ich schnell, dabei eine Runde Schach und die Wäsche abhängen, ich muss für die Therapie noch aufschreiben, wie gut verschiedene Lebensbereiche laufen, dass ich nicht lache, nichts läuft, ich würde am liebsten ein Loch in die Wand schlagen und schlage stattdessen mit einem Springer in zwei Zügen beide Türme eines Indonesiers. Ich muss was essen, aber erstmal kurz hinlegen, dann weitersehen, ich schließe die Augen und atme, einfach atmen, ganz ruhig, alles zieht vorbei in diesem Moment, eins, zwei, eine Mail kommt rein, den Ton kenne ich, bitte, mach endlich jemand, dass es aufhört.

 

Hallo @didolin,

ich sehe hier eine Alltagsbeschreibung, die stark mit Emotionen aufgeladen ist. War dein Ziel, über persönliche Erfahrungen mit ADHS zu informieren? Das ist zumindest gelungen, wenn auch mit einem sehr holzhammermäßigen Titel. Für mich ist es eher ein Experiment. Es gibt keine Zeilenumbrüche, alles geht Schlag auf Schlag. Sicher so gewollt, aber einen längeren Text dieser Art würden die wenigsten durchhalten.
Eine Geschichte wird viel zugänglicher, wenn sie eine erkennbare Handlung besitzt. Wenn sich die Ausgangssituation bis zum Ende nicht verändert, dann hat man beim Lesen nicht viel davon. Ich vermute, dass du einen nicht enden wollenden Teufelskreis darstellen willst. Aber daraus kann man doch noch mehr machen: Vielleicht gibt es einen Versuch, aus dem Verhaltensmuster zu entkommen, z.B. ein spontaner Ausflug, der wieder Hoffnung aufkeimen lässt. Danach kannst du es ja trotzdem so enden lassen, dass der graue Alltag wieder zurückkehrt.
Das sind zumindest meine Vorschläge, hier noch ein paar kleinere Details:

Ich laufe am Spiegel vorbei, sehe mich an, schaue aus leere Augen in leere Augen und schüttle einfach nur den Kopf.
Ich würde die Füllwörter streichen
Es fühlt sich an wie eine Behinderung, ich funktioniere nicht, ich mache nicht das, was ich soll und wofür ich bezahlt werde.
Das klingt nicht sehr präzise, Behinderungen gibt es ja viele verschiedene. Ich funktioniere nicht beschreibt es doch schon ganz gut.
Dieses Schachspielen ist wahrscheinlich das Schlimmste, wie ferngesteuert greife ich zu meinem Handy
Vielleicht findest du hier eine Formulierung, die nicht so abgedroschen ist. Es würde auch ein dennoch oder trotzdem reichen.
An Arbeit nicht zu denken, ich mache eine Wäsche und lege mich hin
Etwas weniger umgangssprachlich: eine Wäscheladung?

Viele Grüße
Michael

 

Hallo Didolin!

Ich kam kaum zum Luftholen, beim Lesen deines Textes. Er wirkt auf mich wie ein Überdruckventil, das sich zischend entleert, kurz bevor der Kessel platzt. An und für sich empfehle ich jedem Textblock, sich etwas strukturierter zu präsentieren, aber hier, denke ich, würde die Lektüre von ihrer Atemlosigkeit verlieren, die primär den Inhalt deines Berichts bildet; ich schreibe Bericht, denn Geschichte im Eigentlichen ist es m.A.n. keine.
Die innere Not und Hilflosigkeit des Prots, angesichts seiner ziellosen Getriebenheit, wird mehr als deutlich. Sie wirkt auf mich authentisch und damit glaubhaft. Geradezu unerbittlich! Aber es ist keine richtige Story. Wenn du diesen Stoff literarischer gestalten willst, würde ich den Inhalt in eine Geschichte betten. Mit wenigstens einer zweiten Figur und Dialogen. Die zweite Figur könnte quasi als Spiegel des Ich-Prots dienen. Vielleicht, ganz gewagt, teilweise im Bewusstseinsstrom, wenn du dir das zutraust.
Dennoch habe ich den Text mit Interesse gelesen.

LG, Manuela :)

 

Hallo Didolin!

Auch ich würde in deinen Worten eher einen Bericht, eine Zustandsbeschreibung sehen, die einen Bezug, eine Art Rahmen vermissen lässt. Ist das vielleicht ein Art Anfall, der vorüber geht? Ist da Irgendetwas zum Dauerzustand geworden? Das wird dem Leser nicht ganz klar.
Mehr will ich im Moment nicht schreiben.

Herzliche Grüße
Libero

 

Hallo Didolin,
dieser Text ist ein reales ADHS-Dokument. Toll! Dass die Absätze fehlen, hat mich beim ersten Hinsehen geschockt. Als ich mit dem Lesen durch war, war für mich klar: Hier ist es Stilmittel. Auch die Unstrukturiertheit gehört zu dieser Krankheit. Insgesamt sehr gut beobachtet und schockierend rübergebracht. Ich denke, dieser Text verliert an Kraft, wenn man ihn in eine Story packt.
Gruß
Linedrop

 

Hallo @Michael Weikerstorfer,

vielen Dank für den Kommentar und die Vorschläge! Ja, es handelt sich einerseits um ein Experiment, andererseits ist der Text ein Ventil. Er ist eine komplett unredigierte und undurchdachte retrospektive Schilderung des Tages zum Stand 18:51, die ich in 12 Minuten direkt ins Wortkrieger-Fenster gehackt und sofort abgeschickt habe, weil ich es sonst niemals gemacht hätte. Allen von Dir angebrachten Kritikpunkten stimme ich zu, aber ich sah keine Möglichkeit, den Text mit einer Handlung zu versehen, da er dann – meiner Einschätzung nach – das verloren hätte, was mich überhaupt dazu gebracht hat, ihn zu schreiben. Ergibt das Sinn? Dass die Wenigsten einen längeren Text in dieser Form lesen würden, will ich hoffen!

Vielleicht findest du hier eine Formulierung, die nicht so abgedroschen ist.
Stimmt, die ist wirklich schlimm.
Etwas weniger umgangssprachlich: eine Wäscheladung?
Echt, ist das umgangssprachlich? Sagt man hier in Wuppertal ausschließlich so, glaub ich...

Ich danke Dir für die Mühe! Liebe Grüße
didolin

Hallo @Manuela K.,

auch Dir vielen Dank!

ich schreibe Bericht, denn Geschichte im Eigentlichen ist es m.A.n. keine.
Ja, stimmt, es hat echt wenig von einer Geschichte.
Die innere Not und Hilflosigkeit des Prots, angesichts seiner ziellosen Getriebenheit, wird mehr als deutlich. Sie wirkt auf mich authentisch und damit glaubhaft. Geradezu unerbittlich!
Vielen Dank dafür! Genau so hat sie sich beim Schreiben auch angefühlt. Es freut mich sehr, dass es scheinbar geklappt hat, das zu transportieren.
Die zweite Figur könnte quasi als Spiegel des Ich-Prots dienen. Vielleicht, ganz gewagt, teilweise im Bewusstseinsstrom, wenn du dir das zutraust.
Stimmt, danke für die Anregung. Das werde ich in einem anderen Moment bestimmt mal ausprobieren!

Es freut mich, dass Du den Bericht gern gelesen hast – danke! Liebe Grüße
didolin

Hallo @Libero Pensatore,

ja, es ist wie ein Anfall, der vorübergeht, aber wiederkommt. Stimmt, ich habe das nicht so richtig klargemacht. Mein Ziel war es, das über den Titel zu erreichen, aber das war vielleicht etwas wenig. Danke!

Liebe Grüße
didolin

Und zu guter Letzt hallo @linedrop,

vielen Dank. Deine Benutzung des Adjektivs "schockierend" freut mich, denn wenn es eine Intention gab, war es wohl diese, zumindest im Nachhinein.

Ich denke, dieser Text verliert an Kraft, wenn man ihn in eine Story packt.
Das war, wie oben schon erwähnt, auch mein Gedanke. Ich kann verstehen, dass die Story fehlt, aber anders hab ich es nicht hinbekommen, das Gefühl der Ausweglosigkeit und der abgehackten, auf sich selbst einhackenden Gedankenblitze rüberzubringen. Danke für die Bestätigung – dass sich die Meinungen hier teilen würden, hatte ich schon fast gedacht!

Vielen Dank! Und liebe Grüße
didolin

 

Ersteinmal Hut ab. Mir gefällt dein Text insgesamt sehr gut. Die Gefühle, die Unruhe, die Unzufriedenheit mit einem selbst und der Leistungsdruck, dem man überhaupt nicht genügen kann, sind wirklich sehr bildhaft dargestellt. Man konnte sich beim Lesen wirklich in dich und deine Gefühlswelt hineinversetzten.

Wenn ich meine Meinung zu der ganzen Geschichte-oder-keine-Geschichte Debatte dazuwerfen darf, würde ich sagen, dass man unterscheiden muss zwischen Handlung und Geschichte. Ich denke es wäre für den Text kontraproduktiv ihm eine komplette Geschichte zu geben, da dies das eigentliche Ziel des Textes verwässert. Aber eine Rahmenhandlung zu setzten könnte trotzdem für den Leser hilfreich sein sich in deinem Text zu orientieren. Weniger eine voll ausgefeilte Geschichte und mehr ein kleiner, roter Faden, an dem du dich entlanghangeln kannst.

Statt:

Die einfachsten Aufgaben dauern Ewigkeiten, wenn ich es überhaupt schaffe, sie zu erledigen.
würde ich eine ganz konkrete Aufgabe herausnehmen und dann beschreiben, wie du sie bewältigst bzw. nicht bewältigst. Das kein das Schachspiel sein, oder zum Beispiel wie du für das Forum hier Texte schreibst. Dann kommt der Gedankenstrom:
Manchmal nehme ich all meinen Willen zusammen, atme tief durch und versuche zu funktionieren, wenigstens für ein paar Minuten, aber sofort bricht alles in sich zusammen. Ich kann es nicht, mein Hirn will es nicht, kompletter Blackout.
Und dann einmal in der Mitte und einmal am Ende des Textes kehrst du zur Ramenhandlung zurück.

Du hast das hier am Ende ein Stück weit gemacht:

Jetzt aber chess.com, eine Runde zur Belohnung, nach Bauer auf E4 schließe ich die Seite und schaue eine Doku über die Frankfurter Altstadt, wahnsinnig uninteressant, ich klicke weg, Alexa spiel WDR Cosmo, Alexa leiser, danke, eine Runde Schach geht wohl doch noch, in der Mitte verliere ich meine Dame,
Ich glaube so eine Handlung durch den ganzen Text zu ziehen, könnte dem Leser etwas geben woran er sich entlanghangeln kann und die Art und Weise, wie ADHS dein Leben beeinflusst nocheinmal entscheidend veranschaulichen, wäre aber gleichzeitig nicht zu überbordend.
Aber ob mit Handlung oder ohne, ich hoffe, dass du noch die Konzentration findest weitere Texte über ADHS zu schreiben. Es war ein sehr interessanter Einblick, der mir sehr gefallen hatt.

Liebe Grüße :)

 

Hallo Jasomirgott,
du greifst einen interessanten Gedanken auf, der mich bei vielen Texten hier im Forum umtreibt:

Wenn ich meine Meinung zu der ganzen Geschichte-oder-keine-Geschichte Debatte dazuwerfen darf, würde ich sagen, dass man unterscheiden muss zwischen Handlung und Geschichte.
Wir haben hier die Rubrik Kurzgeschichten, und die Meinungen, was darunter zu verstehen ist, gehen aber auch sowas von auseinander, dass man das Ganze wirklich nur noch als Textpool bezeichnen kann. Da gibt es Geschichten mit und ohne Geschichte, mit und ohne Handlung, mit und ohne Pointe. Ferner nur Beschreibungen, nur Bilder, dazu Szenen und kurze Handlungsansätze, die aber noch keine Handlung darstellen.
Ich bin ja erst seit 2 Wochen dabei, deshalb eine Frage aus meiner Unwissenheit heraus: Ist diese Thematik schon einmal diskutiert worden? Falls nicht, wäre es nicht an der Zeit, dies zu tun?
Gruß
Linedrop

 

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