ADHS (werktags)
Alles um mich herum ist grau, nicht definierbar, als wäre ich gefangen in einer Masse aus Nichts. Ich laufe durch die Wohnung und weiß nicht, wohin mit mir, obwohl der Plan voll ist von Dingen, die nicht viel erfordern, wirklich nicht viel, manche fast gar nichts. Ich laufe am Spiegel vorbei, sehe mich an, schaue aus leere Augen in leere Augen und schüttle einfach nur den Kopf. Ich kann es nicht erklären, niemand konnte das bisher, und irgendwie scheint es auch niemanden so richtig zu interessieren. Mein Kopf rast von einer Sache zur nächsten und den Fokus zu behalten ist unmöglich. Es fühlt sich an wie eine Behinderung, ich funktioniere nicht, ich mache nicht das, was ich soll und wofür ich bezahlt werde. Meistens sitze ich den ganzen Tag rum und mache sinnlose Dinge, schaue Dokus, deren Inhalt ich ohnehin wieder vergessen werde, oder spiele Schach. Dieses Schachspielen ist wahrscheinlich das Schlimmste, wie ferngesteuert greife ich zu meinem Handy, öffne die App, spiele eine Runde und hasse alles daran, aber klicke sofort auf Neues Spiel. Ich bin zu nichts zu gebrauchen, zu gar nichts, und die Einsicht quält mich. Manchmal nehme ich all meinen Willen zusammen, atme tief durch und versuche zu funktionieren, wenigstens für ein paar Minuten, aber sofort bricht alles in sich zusammen. Ich kann es nicht, mein Hirn will es nicht, kompletter Blackout. Die einfachsten Aufgaben dauern Ewigkeiten, wenn ich es überhaupt schaffe, sie zu erledigen. Mein Kopf platzt und hinterlässt nichts als Leere, alles ein riesengroßes Loch. Ich spiele eine Runde Schach und schmeiße mein Handy mittendrin an die Wand. Dann öffne ich den Browser, will irgendwas nachschauen, öffne chess.com und schlage gegen meinen Computer. Dann ein Word-Dokument, wirre Zeilen laufen innerhalb von Sekunden das Blatt entlang wie ein riesiger Wurm, alles nicht so richtig verständlich, aber immerhin Output, immerhin etwas, das ICH gemacht habe, 840 Wörter, ich werde nicht wieder reinschauen, vielleicht lade ich sie irgendwo hoch, wahrscheinlich aber nicht. An Arbeit nicht zu denken, ich mache eine Wäsche und lege mich hin, zehn Minuten später stehe ich wieder auf und schreie still den Spiegel an, wie kann das sein, ich war doch mal gut in allem, sogar mal hochbegabt, ha ha, ich lache mich tot und versuche ein bisschen zu weinen. Eine Mail kommt rein, kannst du bitte, machst du bitte, ich schalte den Computer aus und verkrieche mich unter der Decke, nein, nichts davon kann ich, nichts davon werde ich je können, ich bin vollends gescheitert und kriege saumäßig viel Kohle dafür. Und niemand merkt was, ist das nicht fast schon witzig? Das zeigt ja wohl die Relevanz dieses Jobs, und morgen muss ich Leuten erzählen, wie man ein Forschungsdesign aufstellt, ich schreie nochmal den Spiegel an, diesmal vom Bett aus, und werfe ein T-Shirt auf mein Gesicht. Der Therapeut fragt mich morgen wieder, wie es läuft, scheiße läuft es, es läuft gar nichts, ich spiele eine Runde Schach und mache mir ein Müsli, vergesse, die Milch vorher zu schütteln und schütte die ganze Schale weg, den Löffel schleudere ich achtkantig auf den Boden, die können mich alle mal. Durchatmen, tief durchatmen, ich lasse mich aufs Sofa fallen und starre an die Decke, eigentlich müsste ich was mit Medien machen oder so, irgendwas schreiben, ist ja auch scheißegal, ich kann es eh alles nicht, vorne und hinten nicht, ich denke über das Wetter nach und den Nordirlandkonflikt und das Müsli, schreibe mir auf, was ich gern machen möchte, lösche die Notiz und vegetiere weiter, die Gedanken rasen vom Reifenwechsel über das verkackte Müsli hin zu Mama, die letzte Woche Geburtstag hatte, ihr Tag war Scheiße, viel davon war meine Schuld, ich muss eine Mail beantworten und spiele Schach, eine Runde, zwei Runden, dann landet das Handy im Mülleimer und der Kopf auf der Tischplatte, einundzwanzig, zweiundzwanzig, ich kann nicht mehr und schlage mit der Faust auf das Kiefernholz, dann in mein eigenes Gesicht, nochmal, dann nochmal. Es ist 18:51, der Tag schon wieder fast vorbei, wieder nichts geschafft, rein gar nichts, ich springe auf und renne zum Computer, schalte ihn wieder ein, chess.com, nein, Mailprogramm, tippe hastig eine Antwort und vergesse den Anhang, noch eine hinterher, dann noch eine, bin wahnsinnig motiviert, ich muss einen Einladungstext korrigieren, alles klar, das kriege ich hin, fünf Minuten später fertig und abgeschickt, leider den Änderungsmodus vergessen, aber das ist egal, egal, immerhin etwas. Jetzt aber chess.com, eine Runde zur Belohnung, nach Bauer auf E4 schließe ich die Seite und schaue eine Doku über die Frankfurter Altstadt, wahnsinnig uninteressant, ich klicke weg, Alexa spiel WDR Cosmo, Alexa leiser, danke, eine Runde Schach geht wohl doch noch, in der Mitte verliere ich meine Dame, schreie ins Sofakissen und setze Wasser auf, vielleicht sollte ich mal einen Tee trinken, gieße ihn auf, lasse ihn ziehen und stehen und er ist kalt, schütte ihn weg, koche das Wasser nochmal und gieße den zweiten gar nicht erst auf. Ich habe mir noch nicht die Zähne geputzt heute, das mache ich schnell, dabei eine Runde Schach und die Wäsche abhängen, ich muss für die Therapie noch aufschreiben, wie gut verschiedene Lebensbereiche laufen, dass ich nicht lache, nichts läuft, ich würde am liebsten ein Loch in die Wand schlagen und schlage stattdessen mit einem Springer in zwei Zügen beide Türme eines Indonesiers. Ich muss was essen, aber erstmal kurz hinlegen, dann weitersehen, ich schließe die Augen und atme, einfach atmen, ganz ruhig, alles zieht vorbei in diesem Moment, eins, zwei, eine Mail kommt rein, den Ton kenne ich, bitte, mach endlich jemand, dass es aufhört.