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Bescherung
Das nasse Laub lastete schwer auf Deirdre. Zuerst war sie allein. Doch es dauerte nicht lange und ein Fuchs strich durch den Wald. Sein Körper war derart ausgemergelt, dass seine Rippen deutlich hervorstachen. Der Fuchs nahm ihre Fährte auf. Mit der Nase am Boden folgte er ihrem Weg. Während ihr zuvor die Äste ins Gesicht geschlagen hatten, schlüpfte er geräuschlos durch das Unterholz. Endlich fand er sie. Beschnüffelte ihr zartes Fleisch, knabberte an ihren Fingerspitzen und beleckte die blutigen Schrunden in ihrem Gesicht. Sie war nackt, lag auf dem Rücken, hatte ihre Arme schützend über die Brust gekreuzt und fasste sich mit den Händen bei den Schultern. Ihre Beine hatte sie gespreizt. Etwas, das wie eine zerbrochene Glasflasche anmutete, ragte spitz empor. Die Haut war so blass wie der Mond, war durchsichtig, ein Geflecht von Adern durchzog das Weiß ihrer Augen. Ihr schwarzes Haar hatte sie zu einem Fächer um den Kopf ausgebreitet. Dicke Schneeflocken tanzten und benetzten Deirdres Körper, waren wie ein hilfloser Versuch dessen Schändung zu verdecken. Tiefdunkle und zu Zacken geronnene Male hatten ein abstraktes Bild auf Deirdres Haut hinterlassen.
Sie war in der Absicht gekommen, ihn zu verführen. Er, der verheiratet war, hatte sich bislang geziert.
Doch sie wusste, er war wie alle Männer darauf erpicht, Frauen zu besitzen. Darum klimperte sie mit den Wimpern, klapperte mit den hohen Absätzen, streifte zufällig mit den Brüsten seinen Arm, als sie sich nach hinten durch in den Fahrstuhl quetschte. Wenn sie ihm die Unterschriftenmappe vorlegen musste, stellte sie sich erst hinter seinen Stuhl und blies von oben in seinen Nacken. Betrachtete genussvoll, wie sich seine Härchen auf der Haut aufstellten, bis er sich zu ihr umdrehte und die Post entgegennahm. Wenn Feierabend war, nickte er ihr zu.
Bald.
Jeden Abend schaute sie aus dem Fenster, es schien, als wollte sie ihn nicht verpassen, wenn er mit hochgezogen Schultern und sich im Schatten der Hauswände verbergend zur ihr schliche. Sie wohnte im dritten Stock. Das Haus war ein Sozialbau aus den siebziger Jahren. Die Fassade bestand aus grauem Mauerputz und es gab keinen Aufzug und keine Sprechanlage. Man hörte die Nachbarn durch die Wand. Auch die Klingel war häufig kaputt. Ihre Wohnung hatte sie sich nach ihrem Geschmack eingerichtet. Nüchtern und ohne den Firlefanz eines jungen Mädchens. Sie hatte selten Besuch. Sie mochte keine fremden Menschen in ihrer Wohnung, hatte sich bewusst dafür entschieden anonym zu sein. Kein Türschild verriet ihren Namen und niemand kannte ihre Anschrift. Ein Postfach half ihr, sich den neugierigen Blicken der Nachbarn zu entziehen, die alles beobachteten, was der Postbote durch die Schlitze einwarf. Sie hatte ein Telefon, aber niemand kannte ihre Nummer. Die Anrufe, die sie am Abend abhörte, waren ihre eigenen. Sie rief sich aus dem Büro zu Hause an, tat so, als spreche sie mit einem Geliebten, nur um seine Eifersucht zu erregen. Oft genug hob er seine Augenbrauen, wenn sie telefonierte. Seine Frau rief auch an. Meist wegen der Kinder. Einmal, weil sie über Nacht wegblieb. Das Wetter war zu schlecht und die Flüge wurden abgesagt. Sie löste sich vom Fenster, er würde nicht kommen. Ein anderes Mal, er würde überrascht sein, sie fuhr den Computer hoch, auf dem Monitor blätterte ein Online-Shop seine Seiten auf. Ihre Augen glänzten in seinem blauen Licht auf.
Er wohnte in einem Einfamilienhaus am Waldrand. Der November hatte das Haus und seinen Garten fest eingepackt. Dichter Nieselregen fiel. Ein grauer Trenchcoat schützte sie und ihre Nacktheit vor dem Regen und Entdeckung. Ihre langen Beine steckten in schwarzen Lack-Overknees, die sie im Internet beim Dark-Fashion-Shop für fünfundsechzig Euro erstanden hatte. Sie zitterte bei dem Gedanken an seine rauen Hände, die über ihre Brüste strichen. Sie hatte sich Patchouli aufgelegt. Berauscht an dem eigenen Duft verlor sie alle Hemmungen und wurde unvorsichtig. Ein Hund bellte, als sie über den geschmiedeten Eisenzaun sprang.
Am nächsten Morgen lastete sein Blick schwer auf Deirdres Brust.
Deirdre.
Wie sie zum Kopierer ging. Mit einem Hüftschwung, der Po und Beine zeigte.
Sie schloss sich auf der Toilette ein und weinte.
Sie war dabei, in ihrem Kummer zu ertrinken. Drei Tage war sie krank. In ihrer winzigen Wohnung haderte sie mit sich und ihrer Liebe. Betrachtete Fotos. Sein Gesicht. Die Linie seines Halses. Fasste einen Entschluss. Strich sich über die Augen. Drückte fest auf die geschlossenen Lider, als wollte sie den Tränen befehlen, für immer fort zu gehen.
Weit fort. Dann doch nicht.
Im Büro strahlte sie mit der Weihnachtsbeleuchtung um die Wette. Er lachte sie an. Sie war glücklich.
Eigentlich mochte sie keinen Eierflip. Seine Frau hatte ihn gemacht. Sie trank ihn trotzdem. Die Weihnachtsfeier war nett. Alle waren nett. Der bevorstehende Urlaub machte sie nett. Machte auch Deirdre netter.
Es war Heiligabend.
Er war bei seiner Frau. Bei seinen Kindern. Sie wollte ihn anrufen. Dann doch nicht. Dann wählte sie. Lauschte dem Atem am anderen Ende. Flüsterte dreckige Worte.
Er liebte sie. Wollte sie. Gleich. Kratzte ihre Stimme vor Erregung. Sie nahm einen großen Schluck, der Weinbrand war sanft zu ihrer Kehle. Sie schnurrte wie ein Kätzchen, sank auf ihren Diwan. Das Geschenk war prachtvoll verpackt. Zunächst hatte sie befürchtet, dass das Paket jemanden wegen seines Absenders aus Flensburg auffallen könnte. Doch am Postschalter hatte niemand seine Miene verzogen. Hastig wickelte sie das Papier ab. Groß und kühl und aus Glas. Sie spreizte ihre Beine.
Deirdre stieg hastig ihr ihr Auto. Ihre Hände waren kalt und hielten das Steuer verkrampft umschlungen. Sie fuhr an festlich beleuchteten Fenstern vorbei. Selbst die eines grauen Mietshauses verströmten den Geruch der bevorstehenden Weihnacht. Deirdre spürte ihre Liebe als einen Ring um ihr Herz. Sie fürchtete sich vor der heiligen Stille an diesem Abend. Die Fahrt mit dem Auto war eine Flucht vor der Erkenntnis, dass nur der Fernseher ihr Gesellschaft leistete. Sie fuhr langsamer, bog in einen Waldweg ein. Beim Schild „zur Wanderlust“ begegnete sie einer dick vermummten Gestalt mit einer Dogge. Am Ende des Weges befand sich ein Picknickplatz. Er war mit einer halbhohen Mauer eingefriedet. Von dort hatte man eine wunderbare Aussicht auf den Fluss und die Stadt. Als die Scheinwerferkegel ihres Wagens durch das Tor zum Picknickplatz fielen, leuchteten die Augen eines Wildtieres auf. Deirdre stieg aus dem Wagen. Sie blickte über das Tal, fühlte wie die feuchte Winterluft sie belebte und den Kopf frei machte. Sie liebte ihn, doch diese Liebe beflügelte nicht, sie wog schwer, war zur einer beklemmenden Last geworden. Sie atmete tief ein und aus, hörte deswegen keine Schritte über den Kies knirschen.
Die Schattengestalt kam hinterrücks auf sie zu. Deirdre strauchelte. Stolperte. Sank.
Als die Schlinge sich um den Hals zuzog, wollte Deirdre zunächst aufbegehren. Versuchte, ihre Hände zwischen Schlinge und Hals zu bekommen.
Bescherung. Leuchtende Kinderaugen. So soll es sein.
Er hatte die Vorhänge wie immer bei Einbruch der Dunkelheit zugezogen. Seine Frau zog sie lächelnd wieder auf, denn es hatte zu schneien begonnen. Ein wenig aus dem Zeitplan gekommen, strich sie das weiße Tischtuch glatt, er hatte, ihrer Anweisung folgend, ihr zur Hilfe zu sein, das feine Tafelgeschirr aufgelegt. Es gab Lachs und Gratin.
Es roch nach Erde und Feuchtigkeit, als er seiner Frau vor dem geschmückten Baum das goldene Kettchen mit dem Kreuz umhängte. Er besaß noch ein zweites Kettchen, eins mit einem Herzen, er verwahrte dieses sorgfältig, freute sich, er wollte sich endlich offenbaren, sie küssen. Wohlige Schauer. Haut auf Haut. Seine Frau hob die Augenbrauen. Er bemerkte es nicht.
Der Fuchs schleckte die Reste einer gelben, klebrigen Flüssigkeit ab. Stellte die Ohren auf. Hörte den Hahn krähen. Trippelte eilig davon. So hungrig er war, so sehr begehrte er auch die Eier aus dem Hühnerstall.
Das Telefon klingelte. Seine Frau nahm den Hörer, horchte, die Knöchel ihrer Hand und zwei hellrote Striemen traten deutlich hervor.
Sie stöhnte. Atmete. Flüsterte die dreckigen Worte. Ihre Finger umschlossen den Dildo.