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Das Leben ist woanders
»550 Mark und 100 Kilometer«, sagte der Grieche und hielt mir seine ölverschmierte Hand hin.
»550 Mark? Für zehn Tage?«
Ich runzelte die Stirn. Die Hälfte meines Budgets. Ich schlug ein. Egal. Schließlich musste ich ja irgendwie meine Schlafstätte erreichen und Busse gab es keine, geschweige denn Taxen. Als der Grieche loslassen wollte, drückte ich zu und hielt seine Hand fest. Er sah mich verwundert an.
»Und zwei Mal tanken, oder?«, forderte ich ihn auf und lächelte.
Er presste seine Lippen aufeinander. Dann nickte er. Ich notierte auf dem Vertrag „+ 2 mal tanken“ und setzte meinen Friedrich Wilhelm drunter. Aus meiner Brusttasche nahm ich das Geld, zählte 270 Mark ab und legte die Scheine auf den Tisch.
»Alles bezahlen, bitte«, verlangte er.
»Und wenn das Motorrad kaputt geht, weil es scheiße repariert ist, hast du mein Geld und ich hab nix«, erwiderte ich.
Er knirschte mit den Zähnen. Ein unangenehmes Geräusch.
»Okay«, sagte er, »du bist schlimmer als die Wehrmacht«, legte er nach.
»Die Wehrmacht hätte nicht bezahlt«, konterte ich.
Er verdrehte die Augen und murmelte etwas in Griechisch. Mit der linken Hand kritzelte er seine Unterschrift auf den Vertrag, mit der Rechten nahm er einen Schlüssel aus einem Schälchen und gab ihn mir.
»Was ist mit einem Helm? Und Papiere?«, wollte ich wissen.
»Helm? Papiere?«
Er sah mich erstaunt an und lachte. Seine beeindruckenden Zahnreihen kamen voll zur Geltung.
»Ist Naxos hier. Zwei Polizisten. Schlafen den ganzen Tag. Vergiss Helm und Papiere.«
»Dein Wort in Poseidons Ohren.«
Er kniff ein Auge zu und starrte mich für einen Moment an.
»Du machst Spaß mit mir.«
»Aber nein. Ich will los«, wiegelte ich ab.
»Okay. Komm, ich zeig dir die Maschine.«
Wir gingen in den Hinterhof von „Leonidas Padopoulos - Maschinen + einzige Tankstelle auf Naxos“. Dort standen nicht wenige Motorräder, alles Enduros oder Cross-Maschinen, dazu drei Lada und ein Buggy. Der Grieche holte die XT600 aus der Reihe und schob sie unter die Pergola.
»Das ist die Zündung«, erklärte er und deutete auf das Zündschloss. Ich drückte auf den Sattel und prüfte die Kettenspannung, stellte die Maschine ins Lot, nahm den Ölstab heraus. Es war auf korrektem Niveau und das Öl klar. Dann öffnete ich den Luftfilterdeckel, entnahm den gelben Filter, musterte ihn von allen Seiten, schaute ins Gehäuse und setzte ihn wieder ein. Der Grieche sagte nix. Der Reifendruck war in Ordnung, das Profil ausreichend. Blieb noch der Luftdruck in der Gabel. Aber auch der war nicht zu beanstanden.
»Was bist du?«, hörte ich ihn fragen. »Yamaha-Mechaniker?«
»Ne. Ich habe dieselbe Maschine zuhause.«
»Dann ist gut. Viele Unfälle hier. Die Touristen meinen, sie können fahren. Aber die ganze Insel ist nur Fels und Schotter.«
»Ich fahre vorsichtig. Keine Angst.«
»Ich habe keine Angst«, meinte er, »du solltest Angst haben. Liegst du irgendwo, findet dich ein Hund oder eine Ziege. Du verblutest.«
Er ging in sein Büro und holte meinen Rucksack.
»Hier, Wehrmacht. Viel Spaß. Und noch ein Tipp. Sehr warm hier. Immer Benzinhahn zu, sonst ist das Benzin weg.«
Ich zog den Rucksack über und setzte mich auf die Maschine.
»Danke. Ach, eine Frage noch …«
Er sah mich an.
»… woher kannst du so gut Deutsch?«
»Fünfzehn Jahre Volkswagen, Wolfsburg.«
Ich grinste und kickte den Motor an.
Die geteerten Straßen endeten an der Stadtgrenze von Naxos, der gleichnamigen Hauptstadt der Insel. Fahr da hin, sagte eine Bekannte, die ein Reisebüro besaß. Noch völlig unentdeckt, zwei alte Hotels, keine Touristen, nichts, meinte sie und gab mir die Adresse eines Deutschen, der dort als Ingenieur Grundwasserbohrungen im Auftrag der griechischen Regierung durchführte. Sein verdientes Geld steckte er in eine kleine Ferienanlage für Backpacker.
Wenige hundert Meter nach den letzten Flecken brüchigen Asphalts, verwandelte sich die planierte Schotterstrecke in eine breite Straße aus Split, Sand und jeder Menge Dellen. Mehr oder weniger tief. Es war nicht ratsam, schneller als fünfzig oder sechzig zu fahren. Mein Weg führte mich nach Süden. Laut Beschreibung sollte ich der Küstenstraße folgen bis zu einer verfallenen Fischfabrik. Dort befänden sich links der Straße, auf einer Anhöhe, die Ferienhäuser. Nicht zu übersehen, erklärte meine Bekannte. Ich war überrascht, als ich es nach 16 Kilometern staubiger Straße genau wie beschrieben vorfand. Ich zählte zehn eingeschossige Bauten, die im Kreis um einen mit Marmor belegten Platz standen, auf dem ich die Yamaha abstellte. Mein Bein soeben vom Sattel geschwungen, kam aus dem rechten Häuschen ein mit Batikklamotten behangener Mann und winkte mir zu.
»He, Mann, ölt die Karre?«, fragte er und blieb stehen.
Gute Frage. Es war ein sehr weißer Marmor und ziemlich frisch verlegt. Die Fugen waren noch fast schmutzfrei. Ich zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Wohin kann ich sie stellen?«
Er zeigte auf eine Durchfahrt, die das Rondell der Häuschen teilte.
»Da hinten ist ein Parkplatz. Stell sie neben den Jeep. Und dann komm rein.«
Ich wollte antworten, aber er war schon wieder auf dem Weg in den Schatten. Vorsichtig stellte ich den Rucksack ab, schob die Yamaha auf den Parkplatz, verschloss den Benzinhahn, holte meinen Rucksack und ging in die Anmeldung, die aber keine war.
»Komm rein, Mann. Setz dich.«
Ich suchte die Quelle der Stimme. Der Wechsel vom hellen Tageslicht in den dunklen Raum war extrem. Erst nach ein paar Sekunden vermochte ich den Batikmann zu entdecken. Im Schneidersitz auf einer Unmenge Matratzen und Kissen an der linken Wand. Jeder Stoffbezug war bunter als der nächste. Auf seinem Schoss lag der Kopf einer sehr kurzhaarigen Frau, deren Körper unter all dem Stoff jedoch nicht zu sehen war.
»Auf, Mann, setz dich«, forderte er mich erneut auf, »nicht so schüchtern. Wir beißen nicht.«
»Genau«, bestätigte die Frau und zog einen recht großen Joint aus irgendeinem nicht einzusehenden Versteck hervor.
Ein Tisch, ein Regal, eine kleine Schrankwand, oben drauf ein Radio. Im rechten Teil eine kleine Küche mit Frühstückstheke, links davon eine Tür. Keine Stühle. Es blieben nur die Matratzen. Ich setzte mich und lehnte den Rücken an die kühle Wand.
»Ich hoffe, ich bin hier richtig«, sagte ich vorsichtig.
Ein Feuerzeug tauchte ebenfalls aus dem Versteck auf. Die Frau entzündete den Joint, zog ein paar Mal und reichte ihn weiter.
»Ich bin Roland. Wie heißt du?«
»Heinrich Konstantin. Aus Köln. Im Reisebüro sagten sie was von …«
»Ja, Mann, Heinrich Konstantin aus Köln, klar. Ist gebucht. Haus Nummer zwei …«, Roland zog ein paar Mal kräftig und beugte sich zu mir.
»Hier, Mann, das entspannt dich. Wie lange warst du unterwegs?«
Ich nahm den Joint, inhalierte einige Male tief und reichte ihn zurück.
»Köln, Athen, zwei Stunden, von da nach Santorin ne Stunde, mit der Fähre nach Naxos, noch mal vier Stunden, und …«
»Das ist lang, Mann, echt, oder? Was sagst du, Gitte?«
»Ja. Scheiße lang.«
Roland sog den Joint förmlich in sich auf. War es ein durchgehender Zug? Dann hustete er.
»Was? Hast du das Ding jetzt weggezogen?«, entrüstete sich Gitte und kam mit einem Ruck hoch. Sie war nackt. Ich suchte mit meinen Blicken eine Stelle an der Wand, die unverfänglich war.
»Ich bau dir einen neuen. Jetzt zeig ich Heinrich mal die Hütte. Danach gehen wir runter zum Strand und ich baue dir den besten Joint aller Zeiten.«
Ich stand auf, die Augen zur Decke gerichtet, mit der linken Hand die Trageschlaufe meines Rucksackes suchend.
»Oh ja«, sagte Gitte, »ich pack mal Wein und Bier ein und nehme noch ein paar Kekse mit.«
Roland stellte sich lächelnd neben mich und legte den Arm um meine Schulter.
»Komm, das mit Ausweis und Unterschrift und so kann warten. Jetzt zeig ich dir mal dein Zuhause.«
Er schob mich Richtung Ausgang.
Alle Häuschen waren identisch. Die Tür neben der kleinen Küche führte zu einem großzügigen Badezimmer mit begehbarer Dusche und schönem Waschbecken. Überall prangte das Emblem von Villeroy & Boch, sogar auf der beigefarbenen Kloschüssel. Im großen Zimmer stand im Gegensatz zur „Anmeldung“ ein breites Bett und dazu drei Stühle um den Tisch. Tür und Fenster besaßen Fliegengitter.
»Wirklich schön«, merkte ich an.
»Nicht wahr? Tadellos. Und jeden Morgen um zehn Uhr kommt eine Putzfrau.«
Den Rucksack stellte ich neben das Bett, kramte Bermuda-Jeans und T-Shirt raus und zog mich um. Roland holte sich einen enormen Popel aus der Nase, warf ihn aber freundlicherweise in das Spülbecken. Dann kramte er einen Schlüssel aus einem Lederbeutel unter dem Batikumhang.
»Hier, der Schlüssel. Die Putzfrau hat auch einen. Wenn du Wertsachen hast, kannst du die bei uns in ein kleines Schließfach legen. Man weiß ja nie …«
»Danke. Und jetzt Strand?«
Er breitete die Arme aus und sah an die Decke.
»Apollo ist uns hold. Jetzt geht es ans relaxen. Los geht’s.«
Ich schloss hinter uns ab und half den beiden mit dem schweren Bastkorb.
Es waren fünfzig Meter zur Staubpiste und von da aus weitere fünfzig Meter zum Strand. Ein Prachtstück von Strand. Sicher an die dreißig Meter breit. Nahezu weißer Sand und vor mir die Ägäis in allen Blauschattierungen.
»Wie weit ist die Landzunge von hier entfernt?«, fragte ich die beiden und deutete nach Norden. Gitte und Roland breiteten eine große orangene Fransendecke aus.
»Ziemlich genau drei Kilometer«, sagte Roland.
Die Bucht war leicht zum Inselinneren hin gekrümmt und von hier aus konnte ich jeden Meter Strand einsehen. Nichts als Sand. Kein einziger Mensch.
»Ich fasse es nicht, dass wir die Einzigen sind. Niemand sonst. Das gibt’s doch gar nicht.«
Gitte lachte und setzte sich auf die Decke.
»Glaub’s ruhig. Naxos ist noch völlig unbekannt. Zwei kleine Hotels am Hafen. Stefan ist der zweite, der eine Feriensiedlung hier angelegt hat, neben dem Holländer, einen Kilometer weiter. Es kommen meist Rucksacktouristen. Noch sind wir ein Geheimtipp.«
Ich sog eine Brise salzige Luft in die Nase und setzte mich. Roland öffnete drei Bier und reichte uns zwei Flaschen. Gitte trank einen ordentlichen Schluck, entledigte sich dann aller Klamotten und legte sich zwischen uns. Ich war perplex und musterte aus Verlegenheit das Etikett. Griechisches Bier.
»Was ist mit meinem versprochenen Joint?«, erinnerte sie Roland an seine Worte.
»Moment. Kommt gleich.«
Die Nacktheit neben mir machte mich nervös. Also trank ich das Bier leer und legte mich ebenfalls hin. Starrte in den wundervoll blauen Himmel und lauschte dem Plätschern der Brandung, das mich zügig in die Traumwelt beförderte.
Lautes Kichern, Gelächter und Kreischen erreichte meine Ohren. Ich wusste für einige Sekunden nicht, wo ich war, öffnete die Augen und erblickte einen schon leicht rötlichen Himmel. Abenddämmerung in der Ägäis. Zehn Tage auf einer Kykladeninsel, zwischen Göttern und Philosophen. Das Kichern kam näher, Wassertropfen erreichten mich, Roland und Gitte jagten sich über den Strand, um unseren Liegeplatz herum, nackt und verspielt. Wie zwei Kinder. Dann erwischte sie ihn und beide legten sich auf die Decke, begannen zu schmusen. Aus dem Augenwinkel entdeckte ich die Kekse in einer Pappschachtel, nahm zwei heraus und aß sie auf. Sie schmeckten nach rein gar nichts. Touristenkekse, hoher Preis, kein Geschmack, vermutete ich und suchte den Himmel nach ersten Sternen ab. Die zwei Turteltäubchen atmeten zusehends schwerer. Irgendwann drehte ich mich und stützte den Kopf auf die Hand. Gitte lag auf der Seite, Roland hinter ihr, beide Hände um den Körper seiner Freundin geschlungen. Ihr Blick ging durch mich hindurch. Sie parierte jeden seiner sanften Stöße mit einem Seufzer. Ich sollte mich schämen zuzuschauen, dachte ich. Aber die Zwei liebten sich auf eine so zarte Weise, dass kein Platz war für Scham oder Voyeurismus. Ich war völlig überrascht von mir. Überrascht, Zuneigung zu empfinden für eigentlich unbekannte Menschen. Und Freude über ihr Glücklichsein, ihr offenbar tiefes Verständnis füreinander. Das traf mich unvorbereitet und ich begann zu weinen. Einfach so. Keine fünf Meter vor mir die göttlichen Gestade, voller antiker Dramen. Außerdem vernahm ich plötzlich Stimmen in meinem Kopf. Etwa Jason und seine Argonauten? Gitte und Roland vergingen zusammen in einem gedehnten Orgasmus voller Zärtlichkeiten und leiser Worte. Das Plätschern der Wellen verschwand und das Meer wurde bunt. Scheiße, dachte ich. Das waren keine Touristenkekse.
Das Erwachen war wie eine Geburt. Aus dem Dunkel ins grelle Licht des Lebens. Jemand hatte mich in einen Schlafsack gehüllt. Abertausende Glühwürmchen hingen über meinem Kopf, der ein wenig schmerzte. Sterne, kam die Erkenntnis. Alles Sterne. Und das leuchtende Band dort, von Horizont zu Horizont. Die Milchstraße. Von unbarmherziger Schönheit. Dann roch ich gebratenes Fleisch und sofort meldete sich ein schmerzendes Hungergefühl. Roland und Gitte saßen mit dem Rücken zu mir vor einem kleinen Holzfeuer, eingehüllt in einen Schlafsack. Ich stand auf und setzte mich gegenüber den beiden vors Feuer.
»Schau an. Unser Langschläfer«, sagte Gitte leise und grinste. »Hier, wir haben dir ein paar Lammkoteletts übrig gelassen.« Aus einer Tasche holte sie einen Block Alufolie und reichte ihn herüber.
»Vielen Dank, und …«
Gitte ahnte, was ich sagen wollte und fiel mir ins Wort.
»Vergiss es. Ist eine Frage des Vertrauens«, sagte sie und dreht den Kopf zu Roland. »Wir vertrauen dir. Nicht wahr, Roland?«
»Ja. Unbedingt.«
Ich nickte und wickelte die Lammkoteletts aus, vier Stück an der Zahl. Redlich bemüht, einigermaßen manierlich mein Loch im Magen zu füllen, nagte ich alles Verwertbare bis auf die Knochen ab und warf sie ins Feuer. Das hätten gut und gerne noch vier sein können. Als hätten die beiden meine Gedanken erraten, zogen sie ein Weißbrot hervor und ein großes Glas eingelegte Oliven.
»Wir stehen nicht so auf Oliven. Magst du?«
»Sehr gerne. Vielen Dank.«
Roland reichte mir noch zwei Flaschen Bier und mein Hunger ließ von Brot und Oliven nichts übrig. So endete mein erster Abend in Griechenland. Neben einem langsam verlöschenden Feuer, zwei eng umschlungen schlafenden Menschen, die ich mochte und dem Band aus Staub und Licht über mir.
Die nächsten drei Tage bestanden aus Strand, Lesen, Essen einkaufen in Naxos, Kochen mit Roland und Gitte und abends wieder am Strand sitzen. Zwischen uns entstand so etwas wie große Entspanntheit. Nicht der Hauch von Erwartungen, Ansprüchen, kein Kampf um irgendeine Ideologie, kein Beharren auf Meinungen. Wir lebten einfach. Etwas völlig Ungewohntes für mich. So vergaß ich die Namen der Tage, den Kalender, es war mir einfach egal. An einem der folgenden Tage klopfte Gitte an meine Tür und trat sogleich ein.
»Heinrich?«
»Setz dich. Bin gleich bei dir.«
Ich spülte das Geschirr fertig, trocknete die Hände, nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und stellte zwei Gläser auf den Tisch.
»Hier, bitte. Schön kalt und ohne Kohlensäure.«
Sie nahm die Flasche und schenkte uns ein.
»Roland und ich wollen heute Abend rüber auf die andere Seite der Insel und hätten dich gerne dabei. Dort ist das beste Fischrestaurant«, erklärte sie und überlegte kurz, »also es ist kein Restaurant im eigentlichen Sinn. Dahin verirrt sich kaum jemand. Ist ein altes Fischer-Ehepaar, das gerne für Besucher kocht, falls zufällig mal welche auftauchen.«
Da musste ich nicht lange überlegen.
»Sehr gerne. Allerdings unter einer Bedingung.«
Gitte horchte auf.
»Bedingung? Welche?«
»Ich möchte euch einladen.«
Sie lehnte sich zurück und trank einen Schluck.
»Das ist dir wichtig, nicht wahr?«
Ich nickte. »Sehr wichtig.«
»Okay, Heinrich. Wir fahren gegen 18 Uhr los.«
Es war ein Suzuki-Jeep ohne Verdeck und Gittes Fahrstil entsprach nicht den Gegebenheiten der Staubpiste.
»Ich habe gar keinen Führerschein, fahr aber meist doch!«, schrie Roland mir ins Ohr. Er saß auf der Rückbank und versuchte im steten Auf und Ab eine Flasche Bier zu öffnen, versagte aber beständig. Mit der linken Hand hielt ich mich am Überrollbügel fest, mit der rechten am Türgriff, aber das machte Gittes Drang zu Geschwindigkeit und Grenzerfahrung nicht wett. Wir fuhren zuerst ein Stück nach Norden und drehten dann landeinwärts. Aus der Straße wurde ein schmaler Feldweg, der sich die Berge hinaufschlängelte.
»Von Nord nach Süd gibt es hier einen Bergrücken. Höchste Erhebung hat tausend Meter«, erklärte Roland. Gitte jauchzte. Ab und zu entdeckte ich verfallene Gemäuer links und rechts zwischen wellenartigen Erhebungen, dann einen verfallenen Tempel.
»Demeter-Tempel«, rief Roland und kippte aus Versehen eine Ladung Wasser auf sein Batikhemd, als er einen Trinkversuch startete. Ich nickte. Aber mehr aufgrund des Fahrstils und der Löcher im Feldweg. Es ging höher und höher, bis wir eine Art Pass erreichten. Gitte stoppte den Jeep am Wegesrand, zwischen stark zerklüfteten Felsen. Unsere Staubwolke holte uns ein. Roland hustete und wir stiegen aus.
»Ich muss mal«, sagte Gitte und setzte sich vor den Jeep.
»Kein Wunder, bei dem Geschüttel«, grinste Roland. Endlich konnte er seine Bierflasche öffnen. Er trank halb leer und reichte sie mir. Ich vollendete sein Werk. Der Staub verwehte und vor uns breitete sich ein beeindruckendes Panorama aus. Kleine und große Inseln in einem tiefblauen Meer. Im Osten näherte sich die beginnende Nacht.
»Da hinten ist Amorgos, die lange Insel dort«, sagte Roland und deutete ein wenig südlich. »Davor Keros, Koufonisi, links Donousa.«
Gitte stellte sich zu uns.
»Wundervoll. Oder?«
Roland und ich nickten andächtig.
»Kommt. Einsteigen«, forderte sie uns auf, »ich habe Hunger.«
Erst jetzt machte ich einige Schritte nach vorne und blickte hinunter. Was ich sah, gefiel mir ganz und gar nicht. Diese Seite fiel steil ab. Der Schotterweg bestand hauptsächlich aus 180-Grad-Kehren. Serpentinen bis ganz nach unten, in eine schmale Bucht. Zwei Häuser konnte ich erkennen. Mehr gab es dort nicht.
»Da wollen wir runter?«
Roland und Gitte grinsten.
»Das wird ein Spaß«, rief Gitte und startete den Suzuki. Roland setzte sich wieder nach hinten, legte alle losen Gegenstände in den Fußraum, was meine Anspannung nicht milderte. Ich stieg ein und bekam feuchte Hände. Gitte fuhr los. Das Schlimmste waren die Meter zwischen den Kehren, an denen ich hangabwärts saß, meine Türkante aufgrund des Sichtwinkels einige Sekunden über dem Abgrund verweilte und so alle paar Sekunden dem Tod „Guten Tag“ sagte. Gitte grinste und legte sich ins Zeug. Roland juchzte und lachte an einem Stück. Die Augen schließen half nicht. Ich fühlte mich sofort wie in der Achterbahn. Steine knallten gegen das Blech, flogen in weitem Bogen den Hang hinunter. Der Wagen brach in jeder zweiten Kehre fast aus.
»Was los, Heinrich? Du bist ganz weiß im Gesicht. Ist dir schlecht?«, schrie Roland in mein Ohr.
»Geht das nicht noch ein bisschen schneller?«, rief ich zurück.
Gitte sah mich für einen Moment verdutzt an, konzentrierte sich aber wieder rechtzeitig auf die nächste Kehre, um punktgenau am Lenkrad zu reißen. Die Häuser kamen näher und näher. Dann endlich waren wir unten und ich pries die vielen Götter der Antike.
»Das war ein Spaß«, sagte Gitte mehr zu sich selbst. Sie parkte vor dem größeren der beiden Gebäude und hupte kurz.
Sofia und Christos waren seit vierzig Jahren verheiratet und beide sechzig Jahre alt. Einfache Rechnung, dachte ich und kippte einen weiteren Ouzo den Rachen hinunter. Auf dem großen, alten Holztisch standen verschiedenfarbige Oliven, gesalzen, in Knoblauch badend, mit Ziegenkäse gefüllt, Weißbrot, zwei Schälchen Olivenöl zum Tunken, Retsina, Bier, Ouzo und starker Kaffee. Ein Füllhorn an feinsten Sachen. Der Fisch schwamm schon in unseren Mägen, die gegrillten Doraden, der gebackene Thunfisch, mit Salz und Pistazien vermengte Sardellen … lediglich Gräten ließen wir übrig. Ich hob die Hand und stand auf.
»In meinem kurzen dreiundzwanzigjährigen Leben habe ich noch nie besseres Essen bekommen als hier«, erklärte ich und schwankte leicht.
»Du bist ja betrunken, Heinrich«, lachte Gitte.
»Nein«, erwiderte ich mit fester Stimme. »Auf keinen Fall.«
Gitte übersetzte für unsere Gastgeber. Christos schenkte mir nach und Sofia scherzte mit Roland.
»Du kannst Griechisch?«, wunderte ich mich.
»Klar. Bin schon paar Jahre hier.«
Mir kam ein Lob in den Sinn, stattdessen spürte ich ein gewisses Unbehagen in meiner Magengegend. »Ich muss mal an die frische Luft«, gab ich bekannt und stürzte den Ouzo runter. Konzentriert auf jeden Schritt, verließ ich den Raum, stand im Freien und visierte das Meer an. Kein Problem, paar Meter nur, so dachte ich. Ab da breitete sich gnädige Dunkelheit aus.
Kein Traum, nur stilles Erwachen am kühlen Morgen. Die Sonne stieg unaufhaltsam über den Grat der fernen Insel im Osten. Ich lag unter einer Menge Baumwolldecken und neben mir saß Christos und schnarchte. Vor sich im Kies eine lange Angelrute, der Faden weit draußen im spiegelglatten Wasser. Ich drehte den Kopf, so gut es mein völlig steifer Körper zuließ. Der Jeep war weg.
»Kalimera«, raunzte Christos und grinste. Die Enden seines grauen Schnurrbartes bogen sich nach oben. Ich nickte langsam.
»Ich nehme an, das heißt ‚Guten Morgen‘ oder so. Guten Morgen. Good Morning.«
Er zog die Angel aus dem Kies und holte den Faden ein. Aus dem Halbschatten der Pergola lösten sich Sofias Umrisse. In der Hand ein Glas Wasser, kam sie auf mich zu und reichte es mir.
»Danke. Vielen Dank.«
Ohne abzusetzen, kippte ich das kühle Nass runter. Was für eine Wohltat. Die beiden wechselten ein paar knappe Sätze, dann erhob sich Christos und ging schnurstracks auf eine schmale Betonmole zu. Sofia zog mich am T-Shirt, bedeutete mir, ihr zu folgen. So schnell es mein Zustand erlaubte, legte ich die Decken zusammen und wankte ins Haus. Der Ouzo machte mir zu schaffen. Ich hatte das Gefühl, das Glas Wasser verschlimmerte die Situation wieder. Drinnen angekommen, stand Sofia vor dem Tisch mit einem dampfenden Kessel in der Hand, zeigte auf die Holzbank und goss tiefschwarze Brühe in eine weiße Tasse. Es folgten drei Teelöffel Zucker und sicher noch mal die gleiche Menge Zitronensaft aus einer kleinen Schale. Dann grinste sie mich an. Das sollte ich wohl trinken. Langsam ließ ich mich nieder. Mir wurde auf einmal schwindelig. Zögernd musterte ich die Tasse. Es sah aus wie flüssiger Asphalt mit braunem Schaum.
»Drink. Drink!«, forderte sie mich auf. Ich trank. In einem Zug. Es schüttelte mich unwillkürlich durch. Absolut bitter, furchtbar sauer und dann der süße Nachgeschmack; fast wäre es mir hochgekommen. Sofia nickte.
»Good. Good.«
Ich schloss die Augen und hoffte, das Schwindelgefühl vertreiben zu können. Sofia zog erneut an meinem Shirt und ich stand auf. Draußen begann es zu tuckern. Sanft schob sie mich hinaus, Meter um Meter auf die Mole zu. Christof saß in seinem Boot, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, und fingerte am Dieselmotor herum. Mir dämmerte, dass der Weg in mein Bett nicht über diesen Berg hinter mir führte, sondern über das Meer. Egal, dachte ich, Hauptsache in mein Bett und kletterte mehr schlecht als recht in das ausgebleichte Holzboot. Christos faltete beide Hände und hob sie symbolisch an seine Schläfe. Schlafen? Ich sah mich um. Ein zusammengefaltetes Fischernetz am Bug.
»Okay«, murmelte ich. Sofia winkte und Christos stieß uns von der Mole ab. Wir nahmen Fahrt auf und drehten Richtung offenes Meer. Die Sonne gewann zusehends an Kraft und die glatte Oberfläche war wie ein verstärkender Spiegel. Misstrauisch sah ich auf das Netz und legte mich oben drauf, den Kopf am Bug. Der Fischgeruch war außergewöhnlich intensiv. Als wir um die Felsenspitze bogen, begann das Boot zu schaukeln, und ich leerte alsbald meinen Mageninhalt in die Ägäis. Christos lachte blökend und zog eine kleine Flasche Ouzo unter dem Pullover hervor.
»Drink«, schlug er vor und hielt mir die Flasche hin. Wieder wurde ich Fischfutter los. Meine Güte. Erschöpft sank ich auf das stinkende Netz und starrte in den Himmel. Christos trank einen Schluck und blickte zur Küste, die keine hundert Meter entfernt an uns vorbei glitt. Dann schlief ich wieder ein.
Ein Tritt gegen meine Schuhe weckte mich. Wir lagen still am Beginn der langen Bucht vor der Ferienhausanlage. Keine zwanzig Meter vom Strand entfernt. Christos bedeutete mir, das Boot zu verlassen. Für einen kurzen Moment stellte ich mir vor, wie er strandete, mich aussteigen ließ und das Boot zurück ins Wasser schob. Er trank sein Fläschchen leer und hielt es mit der Öffnung nach unten. Kein Tropfen kam heraus und ich akzeptierte, ins Wasser zu springen.
»Danke, thank you, Christos«, sagte ich und lächelte ihm zu. Dann schwang ich mich über die Bootskante. Das Wasser war angenehm warm, aber Grund spürte ich keinen. Oh Gott, steh mir bei, flehte ich und stieß mich ab, den Strand im Auge.
Ich schlief den Abend und die Nacht durch und stand am nächsten Morgen früh auf. Lange bevor die Sonne im Osten über den Grat kletterte. Es war kühl, als ich nach einem Apfel und zwei Bananen auf den Platz trat. In der Anmeldung war es noch still. Mein Blick fiel auf den Kalender. Wie lange war ich schon hier? Und wann musste ich packen? Wenn Roland oder Gitte sorgfältig waren, dann war es Montag, der 15. September 1986. Morgen musste ich meine sieben Sachen zusammensuchen, um am Mittwoch die Fähre um 9 Uhr zu bekommen, die mich nach Santorin brachte. Ich presste meine Lippen aufeinander und atmete tief ein und aus. Langsam ging ich zum Strand und überlegte, was ich wohl anstellen müsste, um hier bleiben zu können. In der einzigen Tankstelle auf Naxos als Mechaniker arbeiten?
Schon von der Straße aus erkannte ich Gitte. Sie saß im Schneidersitz auf einer Decke. Pfeifend näherte ich mich ihr, um sie nicht zu erschrecken, aber sie war in irgendeine Trance versunken und reagierte nicht. Also setzte ich mich neben sie und ließ meinen Blick über das Meer schweifen. Im Morgendunst war von der Küstenlinie Paros‘ nichts zu erkennen. Nur die dunkelgrünen Berghänge. Plötzlich nahm ich Bewegungen wahr auf dem Wasser. Nicht wenige Rückenflossen, auf- und abtauchend, wieder und wieder, rasend schnell. Dann sprang etwas aus dem Wasser und tauchte wieder ein.
»Ein Delphin!«, rief ich und hielt mir schnell die Hand vor den Mund. Gitte öffnete die Augen.
»Entschuldigung! Ich wollte dich nicht stören. Ich war nur so überrascht …«, und zeigte auf die sich entfernende Delphingruppe. »Delphine … wunderschön.« Ich spürte einen Kloß im Hals und Tränen traten mir in die Augen. Gitte nahm meine Hand.
»Ich will nicht weg«, platzte es aus mir heraus.
»Geht vielen so«, meinte sie. »Das hier«, ihre Hand beschrieb einen Halbkreis, »ist wie ein Zauber.«
Ich nickte.
»Aber glaub mir«, sie drückte etwas fester, »es dauert nicht mehr lang, und der Zauber ist hin. Dann entdecken sie die Insel. Bauen ihre Bettenburgen, kaufen alles auf, was nicht niet- und nagelfest ist, vergrößern den Hafen für Yachten. Das Geld wird kommen, der Zauber wird sterben.«
Ich legte mich auf den Rücken. Gitte sah mich an.
»Gehen wir schwimmen?«, fragte sie und zog etwas an meiner Hand.
»Ich habe Angst vor Wasser«, gab ich zu.
»Und dann traust du dich auf eine Fähre?« Sie lachte. »Warum hast du Angst vor Wasser?«, setzte sie nach.
»Unschöne Erinnerungen.«
Sie schwieg für einen Moment.
»Ich bin dabei. Du musst keine Angst haben. Komm.«
Sie stand auf, zog sich aus und ging bis zur Linie, an der die Wellen sanft ausliefen. So wie sie da stand, das in allen Blautönen schimmernde Meer zu ihren Füßen, die aufgehende Sonne hinter sich, völlig nackt, musste ich an das denken, was ich vor dem Urlaub über Naxos gelesen hatte. Als Theseus nach seinem Sieg über den Minotaurus auf Kreta an diesen Gestaden die kretische Königstochter Ariadne zurückließ.
»Ich komme, Ariadne«, flüsterte ich und zog meine Klamotten aus. Ariadne überwand die Grenze und schritt ins Meer. Ich folgte ihr.
Eine lange Zeit später lagen wir im Sand.
»Du schwimmst wie ein Fisch«, sagte sie und hielt ihre Finger gegen den Himmel gespreizt. »Das kann niemand, der Angst hat vor dem Wasser.«
»Ich schwimme nur in Frei- oder Hallenbädern. Aber selbst da habe ich Angst vor der Tiefe und muss mich überwinden. Aber bei Wettkämpfen kann ich es wegdrücken.«
»Wettkämpfe?« Sie stützte sich auf die Ellenbogen.
»Ich schwimme in Wettkämpfen. Vereinsmannschaft.«
»Was denn so?«
»100 Meter Kraul, 200 Meter Rücken. Vier Mal 100-Meter-Staffel«
Sie sank zurück und gab einen Pfiff von sich. »Deswegen konnte ich dir nicht folgen.«
Wir schwiegen. Ein paar Möwen zogen ihre Bahnen über uns.
»Heinrich?«
»Hm?«
»Heute Abend ist Party. Links auf der kleinen Landzunge, in den Gebäuden. Das ist die alte Fischfabrik. Ich hoffe, du kommst.«
Ich drehte mich ihr zu. Ihre Nacktheit fiel mir gar nicht mehr auf, ebenso wenig meine. Offenbar war ich auf einem anderen Planeten, mit anderen Menschen.
»Wer macht die Party?«
»Der Holländer. Einmal im Jahr. Und seine Jungs.«
Ich horchte auf.
»Seine Jungs?«
Gitte sah mich an und grinste.
»Darf ich dich was fragen, Gitte?«
»Alles«, sagte sie.
»Ich habe das Essen nicht bezahlt. Was hat es gekostet?«
»Nichts, Heinrich. Wir zahlen nie etwas. Roland fährt einmal im Monat Sofia zum Doktor nach Naxos und zurück. Sie hat Krebs und bekommt dort Medikamente.«
Ich sank zurück in den Sand. Die Insel machte etwas mit mir. Schon wieder kamen mir die Tränen.
Der Holländer und seine Jungs hatten alles von einer Zirkustruppe. Einer bunter als der nächste. Teils wesentlich älter als ich, sicher zwischen vierzig und fünfzig. Bärte, Kopftücher, tätowiert. Woodstock, dachte ich und half beim Entladen des Materials. Dieselgenerator, genug Kanister, Marshall-Boxen, eine Yamaha-Anlage mit zwei Plattenspielern, kistenweise Heineken, Kartons gefüllt mit Jim Beam, Cola, Kühlboxen voller Schnitzel und Rippchen.
»Wahnsinn«, sagte ich im Vorbeigehen zu Gitte und Roland, die an der Verkabelung arbeiteten. Der Holländer, Smit, wurde er gerufen, gab endlos Anweisungen, rannte von hier nach dort, prüfte den Klang, rückte den Grill zurecht, und über allem waberte eine Wolke aus süßen und leicht bitteren Düften. Wir verwandelten die verfallenen Räume in eine Diskothek mit Kantine. Kurz vor Sonnenuntergang näherte sich „Leonidas Padopoulos - Maschinen + einzige Tankstelle auf Naxos“ mit einem VW-Bus samt Anhänger, auf dem Tische und Bänke lagen. Er stieg aus, sah mich und winkte.
»He! Wehrmacht! Wie geht’s?«, rief er und lachte. Dann gab er Anweisungen, wir entluden alles und stellten die einzelnen Räume voll. In die Düfte aus Gras mischte sich die rauchende Holzkohle. Der Holländer stellte sich auf einen Tisch und hob die Hand. Von Osten näherte sich die anthrazitfarbene Nacht. Alle wurden still und lauschten.
»Jeder gibt, was er kann«, kam Smits Anweisung. Roland angelte ein paar Scheine aus seiner Tasche, wie alle anderen. Ich legte meine Hand auf seinen Arm und schüttelte den Kopf. Gitte zog Roland einen Schritt zurück und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ich trat an den Tisch und packte einen Hunderter auf den Geldhaufen. Eine enorme Menge Geld kam zusammen. Mark, Drachmen, Dollar, Pfund. Smit hob erneut seinen Arm.
»Heute ist es wieder so weit. Wir feiern, dass wir leben. Hier, auf dieser wunderschönen Insel. Mit unseren griechischen Freunden«, er verbeugte sich, »denen unser besonderer Dank gilt. Denn sie haben uns aufgenommen. Wir lernen von ihnen. Sie lernen von uns. So ist das Leben.«
Er sah sich um.
»Mögen die Spiele beginnen!«, rief er und sprang vom Tisch. Alle jubelten, köpften Flaschen, gossen sich Jim Beam in die Cola oder umgekehrt. Smit stellte sich an den Grill und legte Fleisch auf. Roland trat seinen Job als Musikchef an und legte die erste Platte auf.
Die Unmengen Fleisch verdampften wie nichts in den Mägen dieser illustren Truppe. Ebenso der Alkohol. Ich war satt und nippte an meiner Cola. Gitte setzte sich gegenüber auf die Bank, ein Glas Rosé in der Hand.
»Heute keinen Alkohol, Heinrich?«
»Nein. Lieber nicht. Ist irgendwie ein besonderer Abend. Ich will mich erinnern können.«
Sie lächelte, trank einen Schluck und nickte mit dem Kopf zum Nachbartisch.
»Schau mal. Das sind Smits Jungs. Komm, wir gesellen uns zu ihnen.«
Ich zögerte. Zwei davon sprachen breites amerikanisches Englisch und der Dritte einen grausigen englischen Dialekt.
»Du bist ein scheuer Kerl. Aber die beißen nicht.«
Gitte stand auf und wechselte den Tisch. Sie klopfte einem der älteren Bartträger auf den Rücken und nahm zwischen den Männern Platz. Es machte den Eindruck, als kenne hier wirklich jeder jeden oder jede. Um sie nicht zu enttäuschen, tat ich es ihr nach und setzte mich auf den letzten freien Platz.
»Hi«, murmelte ich und nickte in die Runde. Sie ließen sich nicht stören und diskutierten munter weiter. Gitte lachte herzlich. Vielleicht über meinen Gesichtsausdruck. Ein junger Hüpfer zwischen gestandenen Kerlen, oder etwas ähnliches. Ich trank aus Verlegenheit mein Glas halbleer. Roland legte nach wie vor die Platten auf den Teller, aber bisher spielte er lediglich aktuelle Songs. Depeche Mode, Duran Duran, Kershaw oder Annie Lennox. Für einen geselligen Abend ganz in Ordnung. Selbst die Lautstärke war gesprächsfreundlich.
Die Amerikaner trugen zerschlissene Armeejacken. Auf einer Schulter prangte ein ausgeblichenes Emblem, eine rote Eins auf blauem Grund. „Guadalcanal“ stand drauf. Beide waren stark tätowiert. Totenschädel, Blitze, Uncle Sam’s hurting you, Go fuck yourself und andere Sprüche. Und Born in Khe Sanh.
Dann wurde es kurz still. Die Musik setzte aus. Roland zündete sich einen dicken Joint an, wechselte die Platte und senkte den Tonarm ab. Durch die ausgestoßene Wolke Gras fixierte er mich. Die ersten Klänge von Paint It Black verursachten Erschütterungen in den drei Männern, leichte Beben aus ihrem Inneren trafen mich. Es war förmlich zu sehen, zu spüren. Wie sie sich versteiften, in eine andere Welt wechselten. Urplötzlich wurden sie still und sahen sich an, griffen ihre Gläser und tranken leer. Der mit der roten Eins schenkte nach. Jim Beam mit einem Hauch Cola. Es war totenstill am Tisch. Ich wurde unruhig, aber Gitte fasste meine Hand und ich beruhigte mich wieder, davon überzeugt, dass sie Ariadne ist, ein mindestens zweieinhalbtausendjähriges Leben hinter sich. Ein Füllhorn an Weisheit in sich tragend.
»Das ist William«, sagte sie plötzlich und deutete auf den Kerl mit der roten Eins, dann auf den zweiten Amerikaner. »Und das ist Bobby. Der Dritte im Bunde ist Lawrence von Australien.«
Lawrence von Austral … ja, ich verstand die Anspielung. Alle drei nickten.
»Das ist Henry aus Deutschland«, stellte sie mich vor. Wir gaben uns die Hand. Gimme Shelter folgte auf dem Plattenteller. Williams Augen wurden feucht und Bobby nahm ihn in seine Arme.
»Was ist passiert?«, murmelte ich zu Gitte gewandt.
»Frag sie. Sie werden dir dankbar sein.«
Konnte ich das einfach so? Dann ging mir ein Licht auf. Ich zählte Eins und Eins zusammen. Ihr Alter, die Jacken, das Emblem, die Tattoos …
»Ihr wart in Vietnam?«, fragte ich zögerlich.
Bobby nickte und Gitte drückte meine Hand fest.
Sie erzählten mir eine Plattenlänge lang, was ihr bisheriger Lebenslauf war, seitdem die Armee sie ausgemustert hatte. Es entsprach dem, was Bob Dylan mit Like A Rolling Stone ausdrückte. An keinem Ort länger als nötig, immer unterwegs, keine Heimat. Bobby und Lawrence schütteten den Jim Beam wie von Sinnen in sich hinein. Ihre Köpfe legten sich nach kurzer Zeit wie nasses Laub auf den Tisch. Gitte nahm beiden die Flaschen weg und deckte sie mit einer Decke zu.
»Sorry, William, ich muss mal pissen«, sagte ich und stand auf.
Er nickte. »Ich komme mit. Muss auch mal was loswerden.«
Es war kühl geworden. Die Stimmen verschwanden hinter uns. Lediglich die Musik war gut zu hören. William und ich standen auf einer kleinen Erhebung in den Dünen und entleerten unsere Blasen. Danach gingen wir ein paar Meter Richtung Wasser, setzten uns in den Sand und starrten in die Dunkelheit. Schon wieder ein unbekannter Mensch neben mir und ich fühlte eine tiefe Verbundenheit. Nicht genug, dass ich an dieser Erkenntnis schwer zu tragen hatte, gesellte sich noch Gitte zu uns.
»Der Sommer ist vorbei«, sagte sie in die Stille hinein. Roland tauchte auf und nahm Platz. »Tapedeck angemacht. Ich mach Pause«, erklärte er kurz. Jim Morrison schickte uns seine Poesie auf die Düne. End Of The Night.
»William?«
Im fahlen Licht sah ich, wie er einen Joint drehte.
»Hm?«
»Was bedeutet ‚Born in Khe Sanh‘?«
William schaute her. Mit dem Zippo zündete er die Tüte an. Ein tiefer Zug brachte die Spitze zum Glimmen und ich entdeckte Tränen auf seinen bärtigen Wangen. Seltsam, dass ausgerechnet jetzt 'Light my Fire' beginnt, dachte ich.
»Khe Sanh war meine zweite Geburt. Ein Kaff in der Quang Tri-Provinz, direkt an der Demarkationslinie zwischen Nord- und Südvietnam. Ich weiß bis heute noch nicht, warum sie uns da hin schickten.«
Der Joint glomm hell, dann reichte er ihn mir. Ich zog kräftig und gab ihn Gitte.
»Fast drei Monate belegten uns die Gooks mit Artilleriefeuer. Stunde um Stunde. Tag für Tag.« William schwieg für einen Moment. »Einige von uns schrien die Nächte durch, im Schlaf oder wollten gar nicht mehr schlafen. Andere lachten bis zur Bewusstlosigkeit, kifften sich das Hirn matschig, drückten sich Heroin in den Hals, damit es aufhörte … andere wurden neu geboren. So wie ich.«
»Wie?«, hakte ich nach.
»Ich laufe nur noch hier rum. Aber ich bin nicht mehr hier. Ich lebe jetzt woanders. Mein Leben ist woanders.«
William schniefte. Dann stand er auf und stolperte hinunter ans Wasser. Ich wollte hinterher gehen, aber Gitte hielt mich zurück. Drückte mir den Joint in die Hand.
»Lass ihn einfach gehen. Er ist so. So sind sie alle drei.«
Ich legte mich auf den Rücken und schaute zu den Sternen. Gitte und Roland taten es mir nach. Dunst verhinderte einen klaren Blick auf den Lichterglanz der Milchstraße.
»Übermorgen wird es vielleicht Regen geben«, meinte Roland.
»Übermorgen werde ich schon wieder daheim sein«, murmelte ich.
»Willst du immer noch hier bleiben, Heinrich?«, wollte Gitte wissen.
»Mehr denn je.«
Jim Morrison setzte an zu When The Music’s Over. Jemand rülpste derb.