- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 28
Das Reisebüro
„Hatten Sie einen angenehmen Tod?“
„Er war durchaus akzeptabel. Danke der Nachfrage.“
„Wir würden uns freuen, wenn Sie uns auch das nächste Mal wieder beehren.“
Shuka verabschiedete sich mit einer Verbeugung vom achtbeinigen Ochsenfrosch. Dieser rückte als höfliche Geste seinen gelben Hut um 23 Grad nach rechts.
Das verspielte Plätschern eines Baches ertönte. Ein neuer Kunde. Shukas Spitzohren fuhren in die Höhe. „Nehmen Sie doch Platz. Wir freuen uns, Sie im Reisebüro Letum begrüßen zu dürfen. Shuka, mein Name. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ Höflichkeit war das Alpha und Omikron. Der geflügelte Nilpferdalligator nahm das Sitzkissen vom Stuhl, schob selbigen beiseite und ließ sich mit einer grazilen Bewegung auf dem Boden nieder, das Sitzkissen als Fußablage für die stämmigen Füße. Shuka beugte sich ein wenig über ihren Bürotisch, um dem Kunden so besser ihr Ohr leihen zu können. Mit einem leichten Knacken löste sie ihr linkes Ohr und reichte es hinunter. Der Herr mit der eingedellten Schnauze grunzte in das Ohr in seiner Klaue, wobei es sich nicht vermeiden ließ, dass das rothaarige Hörorgan mit einigen Speichelfäden verziert wurde: „Kurzurlaub. Nicht lange. Habe nur wenige Aeris zur Verfügung. Aber brauche dringend Abstand vom Alltag. Abwechslung. Was hätten Sie da im Angebot für mich?“ Shuka kniff nachdenklich ihre Haselnussaugen zusammen. „Kurzurlaub... Wir haben da gerade ein ausgezeichnetes Angebot in Ihrer gewünschten Preisklasse. Erlebnisurlaub vom Filigransten. Wenn ich es Ihnen näher erläutern dürfte: Verpflegung rundum, all inclusive. Und das Highlight...“, die Schlitzaugen des Nilpferdalligators weiteten sich zu Untertassen „...als Highlight erleiden Sie einen schmerzvollen, langsamen Tod. Sie werden in einem verschmutzen Pferch geboren, gemästet auf engstem Raum mit anderen Nutztieren, bis Sie feist genug und schlachtreif sind. Die Schlachtung...“, Shuka zögerte. „Ich würde Ihnen einen Großteil des Genusses gehörig versalzen, wenn ich Details auch nur andeutete. Es sei nur so viel gesagt: Unsere Kunden waren mit diesem Angebot bisher immer mehr als zufrieden“, zwinkerte Shuka schelmisch. „Die Reise erstreckt sich ungefähr über ein halbes Jahr. Genau die richtige Zeitspanne für einen aufregenden Kurztrip. Die Kosten belaufen sich bei nur 478 Aeris. Ein sensationelles Schnäppchen! Und wenn Sie noch heute buchen, bekommen Sie gratis die ausgesprochen modische Ohrmuschel, die sie in ihrer Pranke halten, geschenkt. Na, wäre das etwas für Sie?“
Der mächtige Alligatorkopf nickte lebhaft mit seinen drei neongrün strahlenden Augen „Ich buche sofort!“
Shukas scharfkantige Zähnchen blitzten hervor, als sie ihren Mund zu einem köstlichen Grinsen verzog: „Sie haben sich genau richtig entschieden. Sie wissen doch: Wenn's um's Sterben geht – Reisebüro Letum“, säuselte sie in A-moll. Ein erfolgreicher Auftrag mehr. Shukas Konto stieg auf 1634 Aeris. Ein gedämpftes Seufzen. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie sich die gewünschte Reise leisten konnte. Aber sie wusste, das Sparen lohnte sich. Shukas Kopf entfuhr ein tiefer Pfeifton, das verschenkte Ohr wurde durch seinen Nachfolger ersetzt.
Kurzurlaube hatte sie schon etliche hinter sich. Katzen, Greifvögel, Elefanten, Schlachttiere. Auch in den Genuss längerer Urlaube war Shuka gekommen. Zum Beispiel hatte sie 9000 Jahre in einer Fichte den Lauf des Lebens beobachtet. Hatte Zivilisationen entstehen und untergehen sehen. In der Rolle des stillen, anteilslosen Beobachters. Stets der selbe Ort, nur die Umgebung in Veränderung. Entspannend und anregend zugleich. Aber diesmal wollte Shuka mehr. Der nächste Urlaub sollte etwas Besonderes werden. Von der Dauer her nicht vergleichbar, aber dafür ungemein unterhaltsamer. In einem Menschen wollte sie absteigen. Sie hatte schon viele packende Geschichten von ihren Kunden gehört. Sie selbst saß in ihrem Reisebüro fest. Sehnsüchtig. Die Reisen greifbar nah und doch so fern, wie es eine Parallelwelt eben nur sein konnte. Unsterblichkeit konnte derart fad sein. Kein Entkommen. Keine Krankheit, keine Verletzung. Keinerlei Gefahr. Kein Nervenkitzel. Kein Tod. Stets dasselbe Dahintreiben im glitzernden Strom der Ewigkeit. Sie bediente Kunden. Oder sie wurde bedient. Schon immer. Für immer. Dienstleistungen waren das Brot der Unsterblichkeit. Jedes Wesen betrieb seine persönliche Dienstleistungsbranche. Philosophiekurs, Fußnagel- und Schuhpolitur, Lufthauchmassagen. Jeder erfolgreiche Auftrag ein Aer. Das Reisebüro Letum jedoch unterschied sich deutlich von den anderen Dienstzweigen. Es diente nicht dazu, die lange Zeit der Ewigkeit totzuschlagen. Aeris hatten ausschließlich den Zweck, Urlaube erkaufen zu können. Sterblichkeitstourismus. Das einzige Schlupfloch für die Unsterblichen aus der immerwährenden Ewigkeit.
„Sie treten heute Ihre Reise in einen menschlichen Körper an?“ Die elefantengroße Ratte mit Löwenkopf bejahte; dabei tanzten ihre Schnurrbarthaare im Walzertakt. „Sie haben für den Spartarif das zeitliche Überraschungspaket gebucht. Ich drücke Ihnen die Kralle, dass Sie im Mittelalter landen. Die Folter in dieser Zeit steht in prächtiger Blüte. Ein fabelhafter Genuss“, rühmte Shuka und knipste mit ihrem großen Zeh den Scheinwerfer an. „Steigen Sie in den Schatten. In wenigen Augenblicken werden Sie sich in ihrer gewünschten Unterkunft manifestieren.“ Voller Fernweh sah sie der sich langsam auflösenden Dame hinterher. Bald würde auch Shuka endlich ihre ersehnte Reise antreten.
Ihr Körper brannte vor Aufregung. 13974 Aeris. Es war so weit. Diesmal schaltete Shuka den Scheinwerfer für sich selbst ein. Sie warf ihrer Urlaubsvertretung ein flüchtiges Abschiedsschwanzwedeln hinterher und trat in den Schatten. Jede Fibrille in ihr kribbelte, sie spürte die leichte Schwere und versank. Tauchte erst wieder auf im fleischigen Meer. Sie konnte durch ihre menschliche Unterkunft alles sehen, hören, riechen. Sie spürte, was er spürte. Das Gefühl des dahinschwindenden Lebens, der Verletzlichkeit und Sterblichkeit allzeit gegenwärtig. Unmittelbar dabei. Wenn auch nur als passiver, körperloser Bewohner. Aber das trübte keineswegs ihren Genuss. Sie hatte lange gespart für diesen Körper und wie erwartet, war es für sie die höchste Beglückung.
„Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.“ In Scharen standen sie um ihn herum, weinten Freudentränen, fielen vor ihm auf die Knie und lobpreisten ihn. Shuka besah dieses Treiben vom gemütlichen Logenplatz in ihm. Sie schmunzelte amüsiert. Dieses naive Lechzen nach Unsterblichkeit. Sie konnte es spüren. In der umstehenden Menschentraube und in ihrem menschlichen Körper. In jeder ihrer immateriellen Fasern fühlte sie es. Es erheiterte sie immens. Bald würde sie ihren so ersehnten Tod durchleben. Sie starb nie wirklich. Der Tod war bloß das Flugticket zurück. Aber die Illusion genügte. Das Sterben des Wirts gab ihr für einen Moment die Empfindung, selbst sterblich zu sein. Und sie würde diesen Moment des Todeskampfes mit einem eisernen Schloss in ihrem Inneren einschließen. Bewahren. Mitnehmen in ihre triste Ewigkeit des Seins. Als bleibende Erinnerung, die man sich in Gedanken ruft, wenn die Unsterblichkeit wieder einmal unerträglich erscheint.
„Nun wird jeder, der sein Vertrauen auf den Sohn Gottes setzt, nicht zugrunde gehen, sondern ewig leben. Ewig werdet ihr leben!“ Angesichts so viel Einfältigkeit musste Shuka wohlig warm kichern. Wenn sie nur wüssten, was Unsterblichkeit wirklich bedeutete. Das Kichern verwandelte sich in ein Lachen aus Trompeten und Pauken. Aus voller Kehle toste ihr vergnügtes Gelächter.
Hätte sie sterben können, sie hätte sich totgelacht.