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Deja vu
Utes Tag war anstrengend. Zudem kam die Einladung ihrer Freundin Heike zur Unzeit, wenngleich sie zusagte den Abend mit Heike zu verbringen. Heike, Utes Arbeitskollegin und zugleich Freundin war am Vormittag aus der Zentrale informiert worden, dass ihre Beförderung zur Filialleiterin in der neuen Filiale in Düsseldorf anstand. Diese Beförderung wollte sie zusammen mit Ute gebührend feiern.
Beide waren erfolgreich in der Damenboutique Bijou, am Königswall in Essen, als Modeberaterinnen tätig. Sie verkauften überzogen teure Damenmode für ein Publikum das gerne mehr bezahlen wollte als ein „Normalverdiener“. Die meisten Kundinnen ließen hier die Kreditkarten ihrer Ehemänner heiß glühen.
Ute arbeitete gerne in der Boutique. Ihre eigenen Chancen auf eine Beförderung standen jedoch noch schlecht. Heike arbeitete bereits seit vier Jahren in der Boutique, sie selbst erst ein Jahr. Also war es nur logisch, dass Heike den Job in Düsseldorf bekam. Außerdem war Heike ihre liebste Freundin. Besser Heike als Tölle. Dieter Tölle leitete die Filiale in Essen. Tölle sah gut aus, bei Männern nicht immer ein Vorteil. Tölle ging den beiden schon länger auf die Nerven. Seine anzüglichen Bemerkungen wie: “ An Ihrer Oberweite können wir ja noch arbeiten Frau von Kirchhof“, oder „Die Bluse steht Ihnen offen gestanden gut, Frau Schröder“, hörten sie 5 bis 10 Mal am Tag und waren so abgedroschen wie nur etwas. Tölle war einfach peinlich. Das ständige „Anbaggern“ Tölles, bei sich selbst und den Kundinnen, empfanden sie als unangenehm. Einige Kundinnen mochten vielleicht Gefallen daran finden. Ute und Heike jedoch, machte die Zusammenarbeit mit Tölle keine besondere Freude. Trotzdem mussten sie es ertragen, denn Tölle war der Leiter der Boutique. Wenn Heike bald in der neuen Filiale in Düsseldorf arbeitet, würde sie sich allein gegen Tölle durchsetzen müssen.
Spät war es geworden. Heike hatte Ute zu ihrem Lieblingsitaliener „Enzo“ eingeladen und danach gingen sie noch in eine Disco, in der ausgerechnet Tölle seinen nicht vorhandenen Charme spielen ließ. Heike und Ute vermuteten dass er ihr Gespräch vom Nachmittag absichtlich oder zufällig mitgehört hatte. Tölle war sonst nie in dieser Disco zu sehen. Sie kehrten bei seinem Anblick auf dem Absatz um und gingen zu Heike. Dort machten sie es sich bequem, tranken einen wunderbaren Rotwein und verquatschten sich total. Über Tölle oder die Boutique sprachen sie kaum. Vielmehr besprachen sie die zukünftige Möglichkeit, gemeinsam in den Urlaub zu fahren. Da eine der beiden immer in der Boutique anwesend sein musste, war das Thema Urlaub keines, über das es sich bisher lohnte zu sprechen. Heute machten sie bereits Urlaubspläne für das kommende Jahr. Es wurde spät. Irgendwann war der Abend zu Ende und Ute wollte nur noch ins Bett.
Heike meinte zwar sie solle bei Ihr schlafen oder zumindest aber ein Taxi rufen, Ute lehnte jedoch dankend ab. Das an dem Abend herrschende Unwetter und die fortgeschrittene Zeit luden zwar nicht unbedingt zu einem „Spaziergang“ ein, doch war sie den Heimweg, von Heike aus, schon oft gelaufen. Sie wollte die 10 Minuten Fußweg nutzen um noch ein wenig frische Luft zu schnappen.
Bereits nach einer Minute bereute sie ihren Entschluss. Das Unwetter behagte ihr gar nicht. Regen klatschte ihr auf den Schirm den Heike ihr mitgegeben hatte.
Typisch Heike, dachte Ute. Sie kann nichts wegwerfen.
An einer Stelle war der Bezug des alten Schirmes bereits eingerissen. Regen und Wind machten ihr zu schaffen. Wegen des beschädigten Schirmes war sie bereits nach wenigen Schritten nass. Sie fragte sich, ob sie den Schirm nicht besser wegwerfen solle. Die Antwort darauf gab ihr der Sturm der sich im Laufe des Abends fast zum Orkan entwickelt hatte, selbst. Eine Windböe von vorne traf sie unverhofft und riss ihr den Schirm aus der Hand.
Nicht schade darum, dachte sie.
Sollte sie jetzt zurückgehen? Nach einem kurzen Augenblick des Überlegens entschied sie, den Weg nach Hause fortzusetzen. Sie schaute sich noch einmal nach dem Schirm um und war im Begriff weiterzugehen, als sie ungefähr 30 Meter hinter ihr meinte, Dieter Tölle gesehen zu haben.
Nein, nur nicht diesem Chaoten jetzt begegnen. Der baggert dich wieder an. Nichts wie nach Hause, dachte sie und setzte ihren Weg, nun etwas hastiger fort. Nach einigen Metern glaubte sie ein Geräusch zu hören das sich wie Schritte anhörte, Tölles Schritte.
Tack-tack-tack-tack. Schon wieder. War das der Regen oder sind es Schritte? Ihr Gang wurde schneller. Bei jedem von ihr jetzt wahrgenommenen Geräusch dachte sie, Tölle stünde hinter ihr.
So ein Arsch, dachte sie. Kann der mich nicht wenigstens nachts in Ruhe lassen?
Sie drehte sich um, wollte Tölle die Meinung blasen, sah aber außer wackelnden Laternen und sich im Sturm biegenden Bäume nichts. Der unaufhörliche Regen, der Sturm und das Dunkel der Nacht ließen weder eine vernünftige Sicht zu, noch konnte sie genau bestimmen, welcher Art die Geräusche waren die sie zu hören meinte. Dann nahm sie einen verschwommenen Schatten wahr, etwa 30 Meter zurück. War das vielleicht doch nur der sich spiegelnde Schein einer Straßenlaterne? Etwas unheimlich wirkte diese Szenario auf sie, da der Regen stärker wurde und der Sturm zunahm. Eine Mülltonne fiel krachend um und ergoss ihren Inhalt auf den Bürgersteig. Da würde morgen nichts mehr von da sein, dachte sie als ihr plötzlich eine nasse, umherfliegende Zeitung an den Beinen klebte. Ich hätte doch bei Heike bleiben sollen, überlegte sie. Eine leere Kunststoffflasche fliog auf sie zu und verfehlte sie nur um Zentimeter. Ute ging nahe an den Hauswänden um sich so ein wenig vor dem peitschenden Regen zu schützen. In einem Hauseingang stand jemand. Ute erschrak, als sie den Mann, offensichtlich stark angetrunken, plötzlich im Hauseingang stehen sah.
Er wird sich zum Schutz gegen den Regen und den Sturm untergestellt haben, sagte sie sich. Ich sollte nicht so viele Krimis lesen machte sie sich nun selbst Mut. Noch fünf Minuten bis zur eigenen Haustür. Fünf Minuten konnten lang sein. Da hörte sie wieder dieses Tack-tack-tack-tack. Waren das nun Schritte? Quatsch, dachte sie, um sich selbst zu beruhigen. Die Nacht war feucht und ungemütlich. Der prasselnden Regen wollte einfach nicht aufhören. Inzwischen war sie völlig durchnässt.
Kaum wahrnehmbar meinte sie wieder, diese Schritte zu hören. Ihr war eine solche Situation voller Angst bisher erspart geblieben. Sie hasste es, wenn Sie Dinge nicht einzuordnen vermag. Wie oft konnte man von Vergewaltigern oder nächtlichen Raubüberfällen in der Zeitung lesen. Was war, wenn das nun nicht Tölle war sondern ein Vergewaltiger? Vielleicht war Tölle ein Vergewaltiger. Vielleicht waren es sogar zwei. Ich habe nicht viel Geld bei mir. Das wissen die aber nicht. Warum muss ich auch um zwei Uhr morgens zu Fuß nach Hause laufen? Nur weil ich mir diese dämlichen zwölf € für´ s Taxi sparen wollte. Sie war schon einige Male mit dem Taxi gefahren und hatte stets zwölf € bezahlt. Was sind zwölf €? Nichts. Sollte sie schreien? Warum schreien? Wer würde mich hier hören, denkt sie. Hörte sie überhaupt Schritte? Utes Gedanken überschlagen sich.
Mache Dich nicht selbst verrückt, Ute. Gehe ruhig nach Hause, versuchte sie wieder sich zu beruhigen. Sie hätte das Taxi nehmen sollen. Der Tölle bekommt morgen von mir was zu hören. Sagt sie zu sich selbst. Jetzt machte sie sich selbst Vorwürfe. Angst wanderte vom Bauch über die sich zuschnüren wollende Brust bis zum Hals. Gleichmäßiges, ruhiges Atmen fiel ihr schwer Da waren sie wieder. Klack-klack-klack-klack. Die Schritte hinter ihr wurden schneller. Ihre auch. Der Selbstverteidigungskurs, den sie mit 20 Jahren belegt hatte kam ihr in den Sinn. Das waren jetzt 9 Jahre her. Konnte sie das damals Gelernte noch anwenden? Versuchen kann ich es ja, dachte sie. Immerhin gab ihr der Gedanke an den Kurs ein wenig ihrer Sicherheit zurück.
Die Straße wurde dunkler, jetzt kam ein kleiner Tunnel für Fußgänger, der seit Jahren nicht beleuchtet wurde. Noch immer fast vier Minuten bis zur Haustüre. Die S-Bahn fuhr hier über die Straße. Kaum noch Häuser, darum standen hier auch weniger Laternen. Laufen mit dem engen Rock ging nicht. Rennen erst recht nicht. Ihre Gedanken überschlugen sich. Dieser Rock. Warum hatt sie nur diesen Rock angezogen? Scheiß Schuhe! Sollte sie die Schuhe ausziehen? Nein, dann lief sie vielleicht in eine Glasscherbe oder verletzte sich an einem Stein und kam gar nicht mehr weg.
Ute keuchte vor Anstrengung und kämpfte an gegen die immer wieder aufkeimende Angst. Die Schritte kamen jetzt näher. Nimm Deinen Mut zusammen und stelle Dich der Gefahr entgegen. Angriff ist die beste Verteidigung. Dachte sie sich. Hastig drehte sie sich um und stolperte dabei über einen Karton den der Wind hierher geblasen hatte. Sie verlor den Halt, fiel im Umdrehen auf den Hintern und wollte sich ihrem Schicksal nicht ergeben. Aufstehen, bevor sich gleich jemand auf dich stürzt, sagte sie sich.
Doch da war niemand. Wo war er denn? Warum ich? Die Gedanken überschlugen sich wieder während sie aufstand und weiterlief. Schaffe ich das? Es waren nur noch knapp zwei Minuten bis zur Haustür. Warum habe ich nicht auf Heike gehört und mir ein Taxi gerufen?
Weiter. Schnell weiter. Sie spürte wieder die vermeintlich drohende Gefahr hinter sich. Im Laufen drehte sie sich um. Sie konnte aber absolut niemanden sehen. Durch den Regen bedingt, waren es nur maximal 20 weite Sicht. Vielleicht würde sie es doch bis zur Türe schaffen. Dann würde sie den Nachbarn aus dem Bett klingeln. Er würde ihr sicher helfen. Hoffentlich ist er zu Hause.
Nicht daran denken, jetzt an nichts mehr denken, nur noch die Haustür erreichen. Schaffe ich es? Wieder überschlugen sich ihre Gedanken. Noch zwei Minuten. Wenn der Nachbar nicht aufmachte? Dann würde sie ihren Bruder anrufen. Oh nein, er könnte nicht helfen. Italienurlaub. Warum ich? Warum ausgerechnet ich? Panische machte sich wieder bei ihr breit.
Noch eine Minute bis zur Tür.
"Hallo schöne Frau….." Die Stimme klang ekelhaft blechern und wiederholte sich.
"Hallo schöne Frau….."
Endlich war sie an der Tür angekommen und warf sich mit voller Wucht dagegen. Manchmal ging sie auch ohne Schlüssel auf. Manchmal. Nicht jetzt.
Sie fiel wieder, dieses Mal jedoch aus dem Bett.
Der Wecker schellte. Zu früh. Viel zu früh.
Diese beknackten Weckrufe aus dem IPhone. Scheiß Gerät, dachte sie.
Wieder ertönte dieses „Hallo schöne Frau“ und dann ein blöder Spruch. „Aufstehen schöne Frau“ Danach wieder das eintönige Klack-klack-klack-klack. Der Telefonklingelton. Dieses Geräusch war der Telefonklingelton den ihr Neffe Ihr auf das IPhone geladen hatte. Sie würde morgen einen anderen Klingelton wählen. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Sie stand auf. Schweißgebadet zog sie sich die Turnschuhe ihrer Freundin an - man weiß ja nie. Sie nahm den alten Schirm und wollte sich auf den Heimweg machen. Es waren zwar nur knapp 10 Minuten Fußweg bis in die eigene Wohnung, aber heute rief sie sich ein Taxi.
Auf dem Weg nach Hause erzählte sie dem Taxifahrer von dem schlimmen Traum, den sie kurz zuvor hatte. Der Taxifahrer hatte bereits die Hälfte seiner Schicht hinter sich und freute sich über die willkommene Abwechslung und das Gespräch mit Ute. Er fuhr langsam. Eigentlich zu langsam aber die Straßen waren bei dem Unwetter nicht gut einzusehen und die Scheibenwischer hatten die besten Zeiten ebenfalls hinter sich. Er lachte laut und rat ihr, zukünftig ein Glas weniger zu trinken. Zu Hause angekommen kramte sie die zwölf € aus Ihrer Geldbörse und wollte sie dem Taxifahrer gerade geben, als beide ein fürchterlich lautes Krachen hörten und entsetzt auf den sich neigenden Baum vor sich sahen. Genau vor der Eingangstür ihres Wohnhauses, warf das seit dem frühen Abend wütende Unwetter eine 150 Jahre alte Kastanie um. Direkt auf das Taxi.
Beide Insassen, las man später in der Zeitung, wurden von dem Baum, im Auto sitzend, erschlagen. Die Notärzte hatten noch am Unfallort vergeblich eine Reanimation der beiden Opfer versucht. Dabei fielen Ute zwölf € aus der inzwischen nasskalten Hand. Die spätere Obduktion ergab, dass der Tod unmittelbar eingetreten sein musste. Wenigstens hatten beide Insassen nicht leiden müssen.
Dieter Tölle meldete sich am nächsten Morgen bei seinem Arbeitgeber krank. Er war stark erkältet. Nie wieder, schwor er sich, nie wieder würde er nachts bei einem solchen Unwetter einer Frau nachstellen. Dabei, so meinte er, holt man sich nichts als den Tod.