Was ist neu

Der erste Satz

Alles ist vorläufig, die Kunst, der Planet Erde, Sie, ich.
Frederic Beigbeder - neununddreißigneunzig

Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.
Heinrich Mann - Der Untertan

 

Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.
An dem Satz kann man mal sehen, wie ein toller erster Satz funktionieren kann.
Es wird von Menschen erzählt, er steht an der ersten Stelle. Es wird sofort deutlich: Hier wird kein Larifari verbreitet, es geht ans Eingemachte. Hier wird einer Person zu Leibe gerückt. Der Ansatz zum Konflikt ist vom ersten Satz da. Es wird eine Spannung erzeugt: Wie wird es mit dem Jungen weitergehen? Was ist mit dem?
Und sprachlich liegt die Last des Satzes auf den Verben: Träumte, fürchtete, litt; außer im ersten Glied. Der sprachliche Aufbau ist fast ein Chiasmus, mit den Paaren (weiches Kind/Ohren litt und träumte/fürchtete) und der Satz geht vom allgemeinen (weich) zum Besonderen (litt).
Und die Fülltwörter hier, die man weglassen könnte, ohne dass der Satz unverständlich wäre, kommen im Dreiklang (am liebsten, vor allem ,viel) und schaffen damit die sprachliche Eleganz und Natürlichkeit des Satzes. Es sieht aus wie dahingesprochen, die elegante Struktur, mit den Stilmitteln, die man in einem Lateinkurs untersuchen und unterstreichen würde, fallen überhaupt nicht auf, sie dienen einer Funktion.
Und sogar der Ryhtmus des Ganzen ist herrlich, viele einsilbige Worte, eine Handvoll Zweisilber, und nur der Name und "fürchtete" mit dreien. Das ist wirklich ein Glanzstück.

Und ganz im Gegensatz dazu hier:

Es war am siebenundzwanzigsten Tag des Wintarmanoth im Jahre unseres Herrn 814, im härtesten Winter seit Menschengedenken.
Bah! So kann man nur anfangen, wenn man weiß, dass der Leser sowieso das Buch schon gekauft hat. :) Kein Mensch, kein Konflikt, x Vielsilber, drei bekannte Wendungen (unseres Herren, härtester Winter, Menschengedenken) und ein armes Hilfsverb. Der Roman braucht natürlich auch keinen starken ersten Satz. "Die Päpstin" als Titel, das Titelbild (eine Frau auf dem Stuhl des Papstes), der Medienhype und der Klappentext machen klar, dass man schon vor dem ersten Satz, den Inhalt des Romans kennt.

Musil fängt den Mann ohne Eigenschaften auch mit dem Wetter an, und ironisiert es im selben Satz noch.

Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen”
Dann geht es noch ewig weiter mit dem Gerede über Wetter, bis der erste Absatz endlich nach fast einer halben Seite endet mit:
Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913
Das ist auch mal exzentrisch. Der ganze erste Absatz legt hier den Ton des Romans fest. Er ist mit einem Augenzwinkern geschrieben.

Und L.A. Confidential, ein knallharter Cop-Thriller fängt genau so an, wie ein harter Cop-Thriller anfangen muss:

Ein verlassenes Motel in den Ausläufern der San-Bernardino-Berge; Buzz Meeks mietete sich ein mit vierundneunzigtausend Dollar, achtzehn Pfund hochwertigem Heroin, einer großkalbrigen Schrotflinte, einem 38er Special, einer 45er Automatik und einem Schnappmesser, das er einem Pachuco an der Grenze abgekauft hatte - um kurz darauf das auf der anderen Seite parkende Auto zu entdecken: Mickey Cohens Schläger in einem Zivilwagen des LAPD, dazu etliche Tijuana Cops auf der Lauer, sich einen Teil seiner Habe unter den Nagel zu reißen und seine Leiche in den San Ysidro River zu kippen.
So leitet man hochklassige Spannungsliteratur ein; Konflikt, Bedrohung, Atmosphäre im ersten Satz. Buzz Meeks ist im Arsch und der Autor, James Ellroy, macht keine Gefangenen, er fragt sich nicht, ob er über das Ziel hinausschießt und ins Trashige rutscht, er macht einfach.

 

So leitet man hochklassige Spannungsliteratur ein; Konflikt, Bedrohung, Atmosphäre im ersten Satz. Buzz Meeks ist im Arsch und der Autor, James Ellroy, macht keine Gefangenen, er fragt sich nicht, ob er über das Ziel hinausschießt und ins Trashige rutscht, er macht einfach.

Ach ja, James Ellroy, König der hochverdichteten Sätze. :D

Das Intro zu "Ein amerikanischer Albtraum" hat es auch in sich:

Sie hatten ihn nach Dallas geschickt, um einen Nigger-Luden namens Wendell Durfee umzubringen.

Kawumm!

 
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»Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste und der Revolvermann folgte ihm«

Stephen King - Schwarz

An dem Satz kann man sehen, wie ein englischer toller erster Satz zu einem schwachen Deutschen wird und wie schwer die Übersetzung sein kann.
Und das liegt hier daran, dass wir im Deutschen zwei Sachen anders machen und das raubt dem Satz die Eleganz.

Im englischen heißt der Satz: The man in black fled across the desert, and the gunslinger followed.

Und im Deutschen kriegen wir das "Gunslinger" nicht herübergenommen. Das ist ein Super-Wort, weil es das Bild sofort mitliefert, die Bewegung, wie eine Pistole gezogen wird - aus allen Western bekannt - steckt in dem Wort mit drin. "Slinger". Wir brauchen hier "Revolvermann", da haben wir zum einen die "Mann"-Dopplung mit dem "Mann in Schwarz" und zum anderen haben wir so ein Wort aus der Kindersprache, wir bilden im Deutschen nur wenige Berufe so, indem wir einfach Mann dranhängen - und sogar der Müllmann wird auf die Frage nach seinem Beruf mit "Ich arbeite bei der Müllabfuhr" antworten. Der englische mail man ist bei uns eben nicht der Postmann, sondern der Briefträger. Ein Swordman ist ein Schwertkämpfer, kein Schwertmann und der Pikeman läuft bei uns als Pikenier. Bei "Revolvermann" verliert der Satz schon fast die Hälfte seiner sprachlichen Zugkraft. Es ist in der deutschen Sprache kein natürliches Wort, weil wir keinen Wilden Westen hatten, wir haben nie eine bildhafte Bezeichnung für einen Revolverschützen gebraucht.

Und der Rest geht drauf am Ende: Im englischen nur "followed", im Deutschen brauchen wir da "folgte ihm" (nichtmal verfolgte). Wem sollte er sonst folgen? Natürlich ihm, aber nur ein "Und der Revolvermann folgte" geht auch nicht,
weil die Wendung bei uns anders besetzt ist. "Und nun folgt das Wetter."

Und das Dritte ist, dass "fled across the desert" wohl mehr hermacht als "floh durch die Wüste". Das englische Desert spielt phonetisch in einer anderen Liga als das arme deutsche "Wüste", das unsere Vorfahren nunmal auch nie gebraucht haben. Wenn was "wüst" ist, heißt das bei uns, es ist durcheinander, gebrandschatzt, verwüstet. Es sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Da hängt an dem Wort eine andere Gedankenkette dran. Und bei "across" hat man das Kreuz mit drin, kreuz und quer geht es da, die Wüste wird durchquert. "Durch" leistet das sprachlich nicht.

Das ist übrigens ein klasse Beispiel dafür, warum man als Autor, der sich mit Sprache auseinandersetzen will, gut daran tut, deutsche Autoren zu lesen. Denn bei einer Übersetzung bewundern wir nicht die Sprachkunst eines Stephen Kings, sondern die eines Übersetzers, der einen verdammt schweren Job hat, das auch noch sinngemäß rüberzubringen. Der Plot, die Erzählstruktur, die Figuren, all das ist davon ausgenommen, das ist in der Übersetzung so gut wie im Orginal, aber die Sprache muss leiden, außer der Autor kann im Orginal nicht viel und der Übersetzer ist sehr stark.

 

Ich will überhaupt nix gegen den Übersetzer sagen, das ist wirklich ein Beruf, der Hochachtung verdient, und wie hätte man Kings ersten Satz denn auch anders übersetzen können? Wir kriegen den "Gunslinger" nicht rüber, und für Desert können wir halt nur "Wüste" sagen, aber ein Autor schert sich einen Dreck darum, wie sein Text in der Übersetzung wirkt, der schreibt in seiner Sprache und da überdenkt er die Bedeutung jedes Wortes.
Wenn ein Übersetzer dran sitzt - der natürlich nicht annährend soviel Zeit pro Wort aufwenden kann, wie ein Autor, um den richtigen Ausdruck zu finden (dann würde er ein dickes Buch im Jahr übersetzen und müsste vom Sozialamt leben), und der Übersetzer muss zudem noch möglichst dicht am Text bleiben, was soll er da machen? Da muss er halt mit Revolvermann kommen. Revolverschütze ging noch, aber na ja, das klingt dann zu sehr nach Militär, Pistolero bringt das Spanische mit rein, das man in dem Kontext der Fantasy-Welt wahrscheinlich nicht haben will, also ... wie gesagt, es ist wirklich nichts gegen die Übersetzer zu sagen; aber sprachlich kann man den Satz auf Deutsch eben nicht für herausragend halten. Genau so wenig wie den von der Päpstin.

 

Für mich wiederum ein Beweis, dass Wörter viel mehr sind als nur Zeichen, die für etwas anderes, die Bedeutung, stehen. Sie haben auch einen materiellen-sinnlichen Aspekt, und beim Schreiben ist es immens wichtig, das spüren zu können. Es fließt alles mit ein in einem Wort: Die Bedeutung eines Wortes und damit der ganze kulturell-historische Hintergrund (wie Quinn schon treffend gemeint hat), aber auch diese schillernde, widerspenstige Oberfläche, der Klang des Wortes, die Abfolge der Buchstaben, der KÖRPER eines Wortes.

Damit zu spielen, kann aber auch zu Abstürzen führen, ich erinnere da nur an das Wort "marathonischlang" :D - ein gutes Beispiel dafür, wie ein Wort, abseits von den zusammengeführten Bedeutungen, ein Eigenleben entwickeln kann, welches dann mit dem Gewollten nicht mehr viel zu tun hat. ;)

 

Mein Favorit:

Gerechtigkeit? - Gerechtigkeit gibt's im Jenseits, hier auf Erden gibt's das Recht.
William Gaddis: Letzte Instanz

Ansonsten natürlich:

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.

 

Nochmal Stephen King (wieder in der Übersetzung, aber der Satz hat irgendwie was)

"Liebst du?"

aus
Nona und die Ratten

 

"Ich kenne die Melodie des Lebens."

Kinder des Judas - Markus Heitz

 

It is a truth universally acknowledged that a zombie in posession of brains must be in want of more brains.

Der herrliche erste Satz aus dem göttlichen Buch "Stolz und Voruteil und Zombies" von Jane Austen und Seth Grahame-Smith.

 
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Was genau ist, an dem Satz, jetzt gut? :confused:

 

Der Text dazu ist schon im Nirwana. Der erste Satz darf meinetwegen weiterleben, ob gut oder nicht. ;)

 

Kleiner Einwurf für Interessierte:

Roman - Anfänge. Rund 500 erste Sätze von Harald Beck. Haffmans Verlag Gebundene Ausgabe - 1992
Wahrscheinlich nur antiquarisch zu kaufen.

 

Weniger, nee quatsch, überhaupt nicht antiquarisch:

>Meinen lieben Lesern lege ich eine neue Erzählung vor.<*

Die Käserei in der Vehfreude, 1850​

>Es lag eine dunkle Nacht über der Erde; noch dunkler war der Ort, wo eine Stimme gedämpft zu wiederholten Malen «Johannes!» rief.<
Wie Uli der Knecht glücklich wird, 1841​

>Über die Berge hob sich die Sonne, leuchtete in klarer Majestät in ein freundliches, aber enges Tal und weckte zu fröhlichem Leben die Geschöpfe, die geschaffen sind, an der Sonne ihres Lebens sich zu freuen.<
Die schwarze Spinne, 1842​

>Das wahre Glück des Menschen ist eine zarte Blume, tausenderlei Ungeziefer umschwirret sie, ein unreiner Hauch tötet sie.<
Geld und Geist, 1844​

>Drei Kämpfe warten des Menschen auf seiner Pilgerfahrt.<
Uli der Pächter, 1849​

>Im rueßigen Graben am südlichen Abhang hing ein kleines Häuschen.<
Barthli der Korber, 1852​

*Alle Zitate von Jeremias Gotthelf, eigentlich Albert Bitzius

 

Gott steh uns bei, wenn du uns jemals was vorsetzt, das selbst du als angestaubt bezeichnen würdest ...

 
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Das ist ein gelungener Beitrag eines selten klugen Kopfes,

>Gott steh uns bei, wenn du uns jemals was vorsetzt, das selbst du als angestaubt bezeichnen würdest<

der es wahrlich verdient hätte, empfohlen zu werden. In schlichter & modischer Sprache zeigt er alles, was gute und moderne, pardon, modische Literatur leisten kann:

Es ist Bekenntnis-Literatur und zugleich der Hilferuf der gequälten Kreatur an die höchstmögliche Instanz, darüber gibt's nichts, wie es auch überm Autor nichts geben kann. Der Prot, den wir getrost mit dem Autoren gleichsetzen können, schreit seinen Hilferuf an den hERrn nun keineswegs in der Sprache der Altvorderen, sondern kommuniziert in modisch eleganter würde Konstruktion, dass jedermann - auch der selten blödeste Hund - ihn verstehen möge. Wobei der Fall eintreten könnte, dass der hERr Zensur ausübe oder schlimmer noch, unerwünschte Schmierereien statt Hexen und Zauberer verbrannt werden.

Wie dem auch sei, ich empföhle diesen wundervollen kleinen Text, bestünde nicht die Gefahr, dass das Kartellamt eine geheime Absprache zwischen dem Belobigten und dem von ihm entlobten wittern könnte, ist etwas ähnliches doch gelegentlich schon früher vorgekommen.

Mit freundlichem Gruß

Friedchen

 

Ausgezeichnete Idee, das mit den Erst-Sätzen. Und, Quinn, danke dir, dass du das mit dem "Revolvermann" mal aufgedröselt hast. Zu ähnlichen Überlegungen, was die Übersetzerei hier und im Allgemeinen anbetrifft, kam ich auch, nachdem ich damals las, King hielte den Satz für den besten je von ihm geschriebenen. Was mich, dem nur die deutsche Fassung vorlag, zunächst geradezu schockierte.
Nun aber meine fünf Cent:

Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glückes ergreift.
Ernst Jünger, "Auf den Marmorklippen"

 

Was ein genialer Thread. Dass ich den jetzt erst sehe.

Jetzt, da alles vorbei ist, wollen wir aufschreiben, wie wir es erlebt haben.
Paul Mercier - Der Klavierstimmer
(meiner bescheidenen Meinung nach sehr viel besser als der Nachtzug)

 

Sie wollten unbedingt einen Kopfschuß.

J.M. Simmel - Und Jimmy ging zum Regenbogen.

Ich hab in einem Wartesall in einer Klinik auf meine Frau gewartet und begonnen ein paar Bücher durchzublättern. Ich sah den Satz , begann zu lesen, und konnte nicht aufhören weiterzulesen. Sowas ist mir noch nie passiert. Und da meine Frau dann doch kam, habe ich mir inzwischen das Buch gekauft und finde es insgesamt außerordentlich empfehlenswert - insbesonders für die Österreicher unter euch ;)

LG
Bernhard

 

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