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Der Sprung
Anja flitzte die Leiter zum Fünfmeterbrett hoch, als hätte sie Hornissen im Hintern. Ohne innezuhalten lief sie an den Rand der Betonplatte, sprang ab, schraubte sich wie schwerelos in die Höhe und vollführte in der Luft Drehung um Drehung, dass Fins alleine vom Zusehen schwindlig wurde. Kerzengerade und fast geräuschlos verschwand sie im Wasser. Wie ein Fischotter, dachte Fins. Augenblicke später tauchte Anja am Beckenrand auf, schwang sich heraus und war schon wieder oben. Und noch ein Sprung, und dann noch einer.
Fins konnte sich nicht sattsehen, nicht an Anjas Sprüngen, nicht an ihrem Grinsen, das sie ihm dazwischen immer zuwarf, und schon gar nicht an ihren gebräunten, wasserglitzernden Beinen. Und erst ihr süßer Hintern, Herr im Himmel! … Fins spürte ein Ziehen im Bauch.
Endlich kam sie zu ihm, prustete, schüttelte sich wie ein nasser Hund und ließ sich neben ihn auf die Decke fallen.
„So, und jetzt du.“ Ganz außer Atem war sie.
Fins streckte sich, starrte in den Himmel und zündete sich eine Zigarette an.
„Gleich. Ich rauch grad eine.“
„Der Martin ist gestern von ganz oben runter. Vom Zehner.“
„Sagt wer?“
„Na er selber.“
„Und zufällig hat’s niemand gesehen.“
„Doch, der Joe und die Tanja waren dabei. Und die Moni.“
„Blödsinn. Der Martin doch nicht, der Hosenscheißer.“
„Wenn ich’s dir sag.“
Anja blickte ihn spöttisch an. Beinahe unmerklich schüttelte sie den Kopf und zuckte mit der Schulter. Sie stand auf, hüllte sich in ihr Handtuch und nestelte sich den Badeanzug vom Leib, dann bückte sie sich nach ihrem Slip. Fins atmete tief ein, seine Eingeweide spielten schon wieder verrückt. Als Anja das Badetuch fallen ließ und sich das T-Shirt überzog, erhaschte er einen sekundenkurzen Blick auf ihre Brüste. Dunkel und hypnotisierend wie Raubtieraugen blitzten ihn die Nippel an. Oh Gott, oh Gott. Er drehte sich auf den Bauch und ließ seine Blicke an dem grauen Betonungetüm hochwandern. Ausgerechnet der Martin. Verdammt, der war erst dreizehn. Er fummelte an der Packung, Mist, die Zigaretten gingen ihm auch aus. Gerade mal zwei waren noch drin.
Anja band sich die Haare hoch, dann stopfte sie ihren Kram in die Tasche.
„Na ja, ich muss dann mal los. Ist eh niemand mehr da.“
„Warte, Anja.“
Fins warf die Kippe ins Gras und sprang auf, tänzelte herum und boxte in die Luft. Er grinste wie ein Blödmann.
„Okay, okay, okay, ich mach‘s … Warum nicht heute. Pff. Scheiß doch drauf.“
Anja wippte auf den Zehen und hob die Brauen, dann setzte sie sich wieder und Fins schlenderte zum Sprungturm.
Zehn Meter, … wie der zweite Stock von einem Haus ungefähr, na und? Eh nur Wasser, ist ja kein Beton. Pff. Sprosse für Sprosse stieg er die Leitern hoch. Es war längst Abend, im Freibad unter ihm waren kaum noch Menschen und die tiefstehende Sonne ließ die Bäume am Rand der Liegewiese in einem magischen Licht erstrahlen, grün, orange, golden. Ein schöner Tag zum Sterben, dachte er. Dann war er oben, im zweiten Stock. Entschlossen ging er auf den vorderen Rand der Plattform zu und starrte dabei mit zusammengekniffenen Augen unentwegt in den roten Feuerball. Erst als er ganz vorne war, bemerkte er mit Entsetzen, dass er die rechte Hand in der Badehose hatte und an seinem Pimmel herumzupfte wie ein verängstigter Dreijähriger. Hatte Anja das gar gesehen? Grundgütiger, er schiss sich vor Angst fast in die Hose. Das war mindestens der dritte Stock.
Er strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schloss die Augen.
„Scheiß doch drauf“, murmelte er und sprang.
„Mama, bitte. Die Alex hat sogar zwei. … Bitte, Mama.“
„Himmelherrgottnochmal, Gloria, wie oft soll ich’s dir denn noch sagen? Ein für alle Mal: Vergiss es. Vergiss es einfach. Oder meinst du etwa, wir hätten einen Geldscheißer?“
Gloria stieß Rauch an die Decke, schniefte und zog Rotz die Nase hoch.
„Was grinst’n so blöd, Doofi?“ Sie schnitt eine Grimasse und streckte ihrem Bruder die Zunge raus.
„Leck mich doch, Pickelfresse“, zischte Tommi.
„Ihr hört jetzt sofort auf. Beide. Mach deine Aufgaben endlich fertig, Tommi. Und du nimm gefälligst die Füße vom Tisch und hol dir verdammt noch mal ein Taschentuch. Dein Geplärre ist ja nicht zum Aushalten.“
„Und wenn ich’s nicht mach?“
„Wirst schon sehen.“
Aufreizend langsam nahm Gloria die Füße vom Tisch und zog noch einmal Rotz hoch. Tommi lachte laut auf. Ihre Mutter fuhr herum und schlug Gloria ins Gesicht.
Gloria sprang so heftig auf, dass ihr Stuhl durch die Gegend flog. Tommis Glas fiel um und Kakao ergoss sich über sein Schulheft.
„Nein, nein, nein“, heulte er auf, „oh Fuck!“
„Ich hasse dich, Mama. Ich hasse dich, ich hasse dich!“, schrie Gloria, stürmte aus der Küche und knallte die Tür hinter sich zu.
„Spinnst du jetzt komplett, du blöde Göre?“, rief ihr die Mutter nach. „Hast mir jetzt die Kleinen auch noch aufgeweckt, du Miststück. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Ich dreh noch durch mit euch.“
Sie ging zum Gitterbett und rüttelte ein wenig daran. „Schschsch, Schschsch. Haltet einfach die Klappe, ihr kleinen Scheißer. … Schschsch.“ Mit dem Fuß schob sie ein paar Wäschestücke unter das Bettchen. Die Zwillinge brüllten.
„Sag mal, Fins, hast du eigentlich vor, heute noch mal deinen Arsch hochzukriegen? Das darf ja nicht wahr sein.“
„Anja, bitte.“ Fins schmiss die Zeitung zu Boden und richtete sich auf dem Sofa auf. Er angelte sich die Bierdose, schüttelte sie, dann zerdrückte er sie und ließ sie fallen. Er steckte sich eine Zigarette an.
„War doch eh erst gestern um die Stütze, was brauch ich denn noch mehr Bewegung, hä? Bin rank und schlank wie ein Jungspund, hähä.“
„Arschloch.“
„Ist doch wahr. Schau dich doch nur mal an.“
Er stand auf, rülpste und ging zum Kühlschrank.
„Man kommt ja kaum noch an dir vorbei, echt. Mach mal Platz.“
„Hab vielleicht ich mir diese gottverdammte, scheißwinzige Bude ausgesucht, du Versager?“
„Ja, ja, reg dich wieder ab. … Hab vielleicht ich mir diese gottverdammten Bälger ausgesucht, hä?“
„Nein, natürlich nicht, die hat der Storch gebracht, du Schlappschwanz.“
„Ach leck mich doch am Arsch. … Bier gibt’s auch keins mehr. Scheiße. Sag mal, kümmerst du dich eigentlich um irgendwas?“
Fins kramte im Kühlschrank und zog eine halbvolle Weinflasche hervor. Er pfefferte den Korken in die Ecke und nahm einen tiefen Schluck.
„Sieh dich doch nur mal an“, murmelte er und schlurfte zum Sofa, „deine Wampe, deine Haare, oh Gott, oh Gott ...“
Anja setzte sich an den Tisch und begann zu heulen. Tommi malte mit dem Finger Kakaokreise in sein Heft.
„… ja, heul nur. Meinst du vielleicht, mir ist nicht zum Heulen? Sieh uns doch nur mal an. … Und ihr zwei Hosenscheißer seid jetzt endlich still! Gebt endlich Ruhe, verdammt noch mal! … Was für ein Irrenhaus.“ Er sprang auf und warf die Flasche in die Spüle.
„Ich muss noch mal zu Joe rüber.“ Fins schnappte sich seine Jacke und schlug die Türe hinter sich zu. Weg war er.
„Ja, geh du nur. … Bring eine Flasche Wein mit, du Arschloch“, schluchzte Anja.
Der Aufprall war fürchterlich. Nix Fischotter. Wie ein toter Wal trudelte Fins zum Boden des Bassins und meinte zu spüren, wie es ihm das Trommelfell zerfetzte. Er strampelte und strampelte und endlich durchstieß er die Wasseroberfläche. Er schnappte nach Luft, riss die Augen auf und starrte geradewegs in die untergehende Sonne. Zwischen den Fingern spürte er seinen verschreckten Penis, winzig wie ein Radiergummi, und auf der Wiese unter ihm war keine Menschenseele mehr zu sehen.
„Herr im Himmel, Fins, springst du jetzt endlich, oder willst du da oben übernachten?“
„Leck mich doch am Arsch“, flüsterte er tonlos, „lass mich doch einfach in Ruhe.“ Er spürte, wie ihm Tränen hochstiegen.
„Schlappschwanz!“, rief Anja, drehte sich um und lief Richtung Ausgang, verschwand hinter den Kabinen. Weg war sie.
Fins blickte in die Sonne und sprang.